01.07.2007

Entspannte Kindererziehung

Kommentar von Sabine Beppler-Spahl

Kinder machen Arbeit, aber sie haben die gleichen Interessen wie ihre Eltern.

Warum bekommen Franzosen mehr Kinder als Deutsche? Um dies herauszufinden, hat das Institut für Demoskopie Allensbach rund 2000 Deutsche und Franzosen im Alter von 16 bis 49 Jahren befragt. Fazit der Studie: Die Deutschen denken – viel mehr als die Franzosen – beim Thema Kinder an Probleme: finanzielle Einschränkungen, Stress, enorme zeitliche Belastungen und Nachteile im Beruf. [1] Ob man Kinder haben möchte oder nicht, ist eine private Entscheidung. Dennoch stellt sich die Frage, warum Kinder in dem einem Land eher mit Mühe, Opfer und Anstrengung verbunden werden als in dem anderen. Mangelnde staatliche Förderung (wie z.B. die Bereitstellung von Betreuungsplätzen), die eine Vereinbarung von Beruf und Kindern für Frauen schwer macht, wird oft als Ursache aufgeführt. Das klingt plausibel, reicht jedoch als Erklärung nicht aus.
Die Einstellung zu Kindern wird nicht nur durch die realen Lebensumstände wie z.B. die Situation auf dem Arbeitsmarkt, den relativen Wohlstand einer Gesellschaft, die Zahl der Kinderkrippen usw. beeinflusst, sondern auch durch Faktoren, die der ideellen Sphäre zuzuordnen sind. Als in dieser Hinsicht geprägt können z.B. Antworten auf Fragen gelten, was eine gute Mutter sei, worin der Lebenssinn bestehe oder ob sich die Interessen der Kinder problemlos mit denen der Erwachsenen verbinden ließen.
Unbestreitbar ist, dass in Deutschland die Vorstellung, Eltern und Kinder hätten per definitionem gegensätzliche Interessen, weit verbreitet ist. Verantwortlich hierfür sind zwei schlechte „Ideen“: Die erste ist die der intensiven, kindzentrierten Erziehung (die Vorstellung, unser Leben müsste ganz und gar um die angeblichen Bedürfnisse und Nöte von Kindern organisiert sein). Die zweite ist die der „Ich-Zentriertheit“, die, ausgehend von der Erkenntnis, dass Kindererziehung auch Arbeit macht, vor allem Müttern zugesteht, auch „mal egoistisch zu sein“ und sich „mehr Zeit für sich selbst zu nehmen“.


Dynamik des Familienlebens
Der kindzentrierte Erziehungsansatz begann als eine Philosophie, die u. a. von Erziehungsgurus wie Alice Miller (Das Drama des begabten Kindes), Penelope Leach (Die ersten Jahre deines Kindes) propagiert wurde. Im Gegensatz zu der bis in die 60er- und 70er-Jahre üblichen frühkindlichen Erziehung, die Wert auf Routine und Disziplin legte, sollten Eltern die „Hinweise des Kindes erkennen lernen“. Wenn das Baby hungrig war, sollte es gefüttert werden (Stillen auf jeden Fall und bitte nach Bedarf!); wenn es spielen wollte, sollten Eltern dem Wunsch nachgeben; wenn es müde war, sollte man es schlafen lassen; wenn es aber nachts schrie, sollte man es sofort trösten usw. Als wahrlich schlecht galten plötzlich Eltern, die die Bockanfälle ihrer Kinder ignorierten oder Verbote erteilten, statt sie durch Gespräche „einfühlsam“ zum richtigen Benehmen zu bewegen.
Der kindzentrierte Ansatz ist unterdessen zum wichtigsten Glaubensgrundsatz der Erziehung geworden. In Elternkursen wird Eltern beigebracht, keinen Druck auf ihre Kinder auszuüben (das Kind entscheidet selber, wann es aufs Töpfchen möchte usw.). Dies setzt sich häufig in den Schulen in Form einer an den „individuellen Bedürfnissen des Kindes“ ausgerichteten Pädagogik fort. Der kindzentrierte (oder intensive) Erziehungsansatz basiert auf der Idee, das Kind müsse von dem Moment an, an dem es das Licht der Welt erblickt, im Mittelpunkt unseres Lebens stehen. Bekannt wurde er durch Artikel von Mary Ainsworth und anderen Bindungstheoretikern. Sie glaubten, Kinder seien, biologisch gesehen, darauf vorbereitet, uns zu jenen Erfahrungen zu führen, die sie benötigen, und dass sie eine sichere Bindung an eine Bezugsperson (z.B. die Mutter) brauchen. „Wenn wir auf ihre Signale und Zeichen reagieren, entwickeln sie eine gesunde und sichere Bindung an uns“, so der Psychologieprofessor und Bindungstheoretiker William Crain. [2]
Offenbar ist diese Bindungstheorie in Deutschland einflussreicher als in Frankreich. Die Allensbach-Umfrage ergab, dass 62 Prozent der französischen, aber nur sieben Prozent der deutschen Frauen es ohne Weiteres für möglich hielten, Kinder schon mit weniger als einem Jahr extern betreuen zu lassen. Die Bindungstheorie hat in nicht zu unterschätzendem Maße dazu beigetragen, das Leben mit Kindern in der Wahrnehmung vieler Mütter zu verkomplizieren. Jede vermeintliche Nachlässigkeit bei der Wahrnehmung von kindlichen Signalen, so die These, könne zu späteren psychischen Störungen führen.
Ein wichtiger Aspekt der kindzentrierten Erziehung ist die Annahme, es bestünde ein Konflikt zwischen den Interessen von Eltern und ihren Kindern. Damit Kinder zu ihrem „Recht“ kommen, müssten wir (z.B. durch entsprechende Eltern-Erziehungskurse) lernen, unsere Interessen zurückzustellen und sensibel für dieBedürfnisse unserer Kleinen zu werden. Doch diese Gegenüberstellung von Interessen ist künstlich und nicht hilfreich. Viele Eltern möchten ihr Baby nachts nicht schreien lassen, sie gestalten ihre Freizeit so, dass auch die Kinder Spaß haben (schließlich ist ein Tag im Zoo angenehmer als der Besuch einer Ausstellung für moderne Kunst). Dies alles hat jedoch nichts mit einer kindzentrierten Erziehung zu tun. Es ist vielmehr ein pragmatisches Zugeständnis an die Wünsche von Kindern und Teil der Dynamik des Familienlebens. Aber auch, wenn wir viel für unsere Kinder tun (z.B. 50-mal das gleiche Märchenbuch vorlesen), tagsüber an sie denken, die Wohnung schön einrichten usw., ist dies für uns nicht „kindzentrierte Erziehung“, sondern das, was man als Mutter oder Vater eben tut. Auch stellt sich die Frage, wessen Interessen wir damit verfolgen: nicht nur die unserer Kinder, und nicht nur unsere eigenen. Wir haben unsere Kinder, weil wir sie wollen und unsere eigene Vorstellung von Familienleben haben. Im Großen und Ganzen organisieren wir unser Leben so, wie wir es im Rahmen der Familie gerne möchten. Es gibt keinen Interessensgegensatz.

„Die Vorstellung, ‚auch Eltern dürfen egoistisch sein‘, stellt all das, auf das wir verzichten, wenn wir Kinder haben, in den Mittelpunkt und blendet aus, was wir hinzugewinnen.“


Bedrängte Erwachsene?
Je mehr sich die Vorstellung, es gäbe einen Interessensgegensatz zwischen Eltern und Kindern, durchsetzt, desto größer ist die Gefahr, dass sie zu einem Selbstläufer wird. Wenn Eltern permanent gesagt bekommen, sie müssten stets die Wünsche ihrer Kinder berücksichtigen und deren Bedürfnisse erkennen, dann wird das Familienleben unnötig kompliziert, und spontane Entscheidungen werden durch das Gefühl, einer Pflicht nachzugehen, überschattet. Zeit mit Kindern wird zu Zeit für Kinder. Es geht nicht mehr darum, ob es schön wäre, in den Zoo zu gehen, sondern darum, dass man unbedingt etwas für die Kinder machen muss, da man sie in der Woche ohnehin zu wenig gesehen hat und dergleichen – und schon stehen alle möglichen Spannungen und Begehrlichkeiten im Raum.
Kinder großzuziehen wird nicht nur als harte Arbeit dargestellt, sondern auch als solche empfunden. Seit einigen Jahren gibt es eine Art Gegenbewegung zur kindzentrierten Erziehung, die die Form annimmt, „auch Eltern (vor allem Mütter) dürfen mal egoistisch sein“. Im früheren Kindergarten meiner Tochter wurde regelmäßig ein „Väterwochenende“ organisiert, auch, um den Müttern mal ein freies Wochenende zu gönnen. Dagegen ist nichts einzuwenden, und die Mutter, die nicht gerne mal ein Wochenende ohne Kinder verbringt, muss eine Art „Heilige“ sein. Doch statt sich einfach zu freuen, war bei vielen Müttern, wenn sie über das Wochenende sprachen, ein selbstmitleidiger Ton unüberhörbar („Ich möchte endlich mal wieder Zeit für mich selber haben“, „Ich Arme“…). Mütter, die die Idee der kindzentrierten, „intensiven“ Erziehung verinnerlicht hatten (mit ihren Kindern Töpferkurse belegten oder Elterngruppen besuchten), suchten nach einer Rechtfertigung dafür, dass sie auch „eigene Wünsche“ haben, und begingen einen „Tabubruch“, indem sie sagten, es sei gut, „manchmal auch egoistisch zu sein“.
Dieses „Ich will auch was für mich tun“ ist die Kehrseite der kindzentrierten Erziehung und basiert ebenfalls auf der Idee eines Interessengegensatzes zwischen Eltern und Kindern – nur, dass hier die Seite des bedrängten Erwachsenen (vor allem der Mutter) hervorgehoben wird. Es wird so getan, als sei Kinderkriegen ein selbstloser, undankbarer Akt, von dem Mütter sich zeitweise lösen müssen. Die Philosophie, „auch Eltern dürfen egoistisch sein“, stellt all das, auf das wir verzichten, wenn wir Kinder haben (jederzeit ausgehen zu können, sich auf die eigene Karriere zu konzentrieren, spontan zu sein), in den Mittelpunkt und blendet aus, was wir hinzugewinnen.
Kindererziehung hat nichts mit Selbstlosigkeit zu tun. In Zeiten der Emanzipation und der Verhütung wird keine Frau gezwungen, Kinder zu kriegen. Wir haben unsere Kinder nicht, um die Welt zu retten, sondern weil wir sie wollen. Für sie da zu sein und für sie zu sorgen, zu versuchen, sie auf den „richtigen Lebenspfad“ zu bringen, hat etwas mit der Aufwertung unseres eigenen Lebens zu tun. Es ist unehrlich und dünkelhaft, so zu tun, als stellten wir uns, weil wir Eltern sind, zurück (während die, die keine Kinder bekommen, als egoistisch gelten).


Launische Mütter
Wie die kindzentrierte Erziehung führt auch die Einstellung, „Es ist okay, mal egoistisch zu sein“, zu einer „Verkindlichung“ von Eltern. Beide Sichtweisen werten die Elternschaft ab und ermuntern Väter oder Mütter, Verantwortung zu verlagern oder sich von ihren kreativen, intensiven Pflichten abzuwenden. Während die einen, statt selber zu führen und zu entscheiden, sich vom Kind lenken lassen (kindzentriert), werden die anderen dazu ermuntert, ihren eigenen Launen nachzugehen.
Im April 2007 wurde bekannt, dass eine Berliner Mutter ihre vier Kinder sich selbst überlassen hatte und bei ihrem Freund eingezogen war, mit der Begründung „sie habe die Schnauze voll“. Obwohl Kindesvernachlässigung zu einem wahren Reizthema geworden ist, mischten sich in die Kommentare verständnisvolle Stimmen. „Zu was für einer psychischen Belastung sich ein Leben auswachsen kann, wenn ein Mensch über Jahre für alles alleine zuständig ist, für die kaputte Waschmaschine und die vollen Abfalleimer, für Pausenbrote und drei Mahlzeiten … wenn keiner da ist, der hilft oder auch nur zuhört, dann kann man eine solche Überlastung vielleicht begreifen“, war in der Berliner Zeitung zu lesen. [3] Dabei gibt es in Berlin ein gut ausgebautes Netz von Hilfsdiensten für alleinerziehende Mütter. Abgesehen davon ist es erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit uns hier weisgemacht wird, dass es normal sei, wenn selbst banale Tätigkeiten des Alltags (wie den Mülleimer leeren oder Pausenbrote schmieren) in Überforderungen und den Wunsch, alles „hinzuwerfen“, münden.
Mutter oder Vater zu sein, ist oft emotional und physisch anstrengend, aber so ist das eben. Die Einstellung „Ich will Zeit für mich“ ermuntert Eltern, sich wie trotzige Kinder zu benehmen. Familien sind sehr unterschiedlich, und es ist nur von nachrangiger Bedeutung, ob man seine Babys stillt oder nicht, welche Bücher man seinen Kindern vorliest oder zu welchen Strafen man greift. Entscheidend ist, dass sich Eltern und Kinder als Teil des gleichen Lebens sehen, sich gegenseitig vertrauen und sich aufeinander verlassen können. Eine simple Regel, die zu sehr viel mehr Entspannung führen könnte.

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