23.01.2012

Null-Toleranz-Diät für Dicke

Kommentar von Josef Hueber

Dicksein wird in unserer Gesellschaft zunehmend stigmatisiert. Auf fragwürdiger Wissenschaft beruhende Gesundheits-, Schönheits- und Ernährungsnormen breiten sich hierzulande mehr und mehr aus. Eine ironische Kritik an einer alles andere als lustigen Entwicklung

„Lasst dicke Männer um mich sein!“ – So hat es einst William Shakespeare dem misstrauischen Cäsar in den Mund gelegt und ihm damit ein Bekenntnis entlockt, das nicht gerade einen Mangel an Verständnis vom Zusammenhang zwischen Körpergewicht, Gemütlichkeit, Menschenfreundlichkeit und vielleicht sogar Verlässlichkeit verrät. Aber die Tage sind längst gezählt, als man den Dicken gegenüber freundlich gesinnt war. Wer bei pfundskerl-xxl.de einkauft, wird dies tunlichst in der Bewerbung um eine Führungsposition verschweigen. Denn dort glaubt man, genau zu wissen, dass Übergewicht ein Zeichen von mangelnder Disziplin, Trägheit, Fresssucht und sportlichem Desinteresse ist. Diesen Katalog an Untugenden ständig mit sich herumzutragen und zur Schau zu stellen, bereitet keinem Mann Freude. Und Frauen schon gar nicht. Forscher des Leipziger Max-Planck-Instituts haben nämlich bestätigt, dass wir ruhigen Gewissens an der Leistungsfähigkeit rundlicher Weiblichkeit zweifeln dürfen, denn: „Nur schlanke Frauen handeln mit Weitsicht“. [1] So ist das also mit den schlanken und den dicken Frauen.

Vorbei die Zeit, als Mama stolz war, wenn sich ihre Kinder den Fleischtopf schmecken ließen. Als die Oma ordentlich „gute Butter“ oder gar Butterschmalz in die Pfanne gleiten ließ, damit das brutzelnde Schnitzel oder der blubbernde Pfannkuchen wirklich ein Genuss waren. Heute, inmitten unserer multitoleranten Gesellschaft, hört der Spaß mit der Toleranz derartiger Genüsse auf. Hören wir doch mal rein, woran Otto Normalverbraucher, seines Zeichens Schlankmensch, Gefallen finden soll. Hier ein Beispiel für den sozial inkorrekten Habitus, präsentiert im menschenverachtenden Unterhaltungston. Die Schröders dichten so:

„Neulich auf dem Schulhof so vor 15/16 Jahrn / Da ist mir ein einschneidendes Erlebnis widerfahrn /Wir spielten Jungs die Mädchen ich war wie wild hinter ihn’n her / und prallte in ein ganz massiven fleischgewordnen Berg / In der einen Hand die Fritten / in der andern das Dessert / Ich wollte noch was sagen / Doch der Aufprall war zu schwer / Dicke Kinder stehen ständig im Weg / Dicke Kinder Schulbrot doppelt belegt / Alle woll’n nur ihr Bestes / Von Mutti gemässtet / Dicke Kinder dicke Kinder“ [2]

Was als Holterdipolter-Lyrik daherkommt, ist brutale Diskriminierung, ist offenes Mobbing von durch den Bodymassindex stigmatisierten Menschen. Derlei zu ertragen, wird keiner anderen Gruppe in unserer Gesellschaft zugemutet. Denn wo rassistisch oder irgendwie Phobes getextet wird, meldet sich der Staatsanwalt. Oder kann man sich, in Abwandlung obiger Poesie, Verse vorstellen wie „ Gehbehinderte / Rollstuhlfahrer / Blinde / Alte /Schwule stehen ständig im Weg“ ?

Im Berufsleben ist längst bekannt, dass Aussehen und Idealgewicht Kompetenzmängel gegenüber weniger Naturbeschenkten kompensieren können. „‚Attraktivität ist heute oftmals wichtiger als persönliche Beziehungen.’ Schöne Menschen seien selbstbewusster und wirkten auf ihre Kollegen zielstrebiger. Eigenschaften, die man mit weniger attraktiven Menschen eher selten in Verbindung bringe.“ [3]

Die Übergewichtsfalle für Kinder

Ein Spaziergang im Blätterwald, im analogen oder digitalen, der sich des Themas Übergewicht gerade wieder mal annimmt, lässt es uns anhand des objektiven Bildmaterials wissen: Übergewichtige Kinder gibt’s immer mehr und mehr. Da steht schon mal ein fettes Amikind vor einem Christbaum in der Shopping-Mall, in der einen Hand ein iPhone, in der anderen was Fetttriefendes zum Reindrücken, und beweist damit die Verfettung der westlichen Kultur. „Fette Kinder in Amerika“ titelt die Seite Zeitenschrift, die sich als „Kompass in schwierigen“ Zeiten versteht. [4] Die Nachkommen im Reich der Gigasteaks, so die seriösen Journalisten, gehören „zu den fettesten der ganzen Welt.“ Bei uns in Deutschland sah Ministerin Künast 2004 im Gewicht von Kindern geradezu ein Gerechtigkeitsproblem. [5] Anders als in traditionellen Kulturen, wo Dickleibigkeit als Zeichen von Reichtum angesehen wurde, wo Bräute oft monatelang vor der Hochzeit gemästet wurden, um ein entsprechendes Gewicht zu haben, ist Nahrung im Überfluss nun also ein Indikator für Armut. Der BMI, Frau Künast, ein Indikator für das Ausmaß an Gerechtigkeit, das in der Gesellschaft herrscht? Wer hätte sich träumen lassen, dass Justitias Waage jemals Gerechtigkeit in Kilogramm wiegen würde?

Doch im mediengezeugten Unglück stehen stets profitgeübte Helfer Rat bei Fuß. Michelle Obama, Gattin des nach Arnold Schwarzeneggers Meinung mit dünnen, unmuskulösen Beinen ausgestatteten US Präsidenten [6], hat schon vor einiger Zeit den Kampf gegen die Fettamerikaner angesagt. [7] Dass sie dabei ihre eigene Tochter instrumentalisiert, gehört zum Geschäft des Yes-we-can-Bluffens. Ob dies nur lächerlich ist, bezweifelt der Ernährungsexperte Udo Pollmer: „Wie erhebend muss es für ein Kind sein, wenn sein Körper öffentlich zur Diskussion steht: ich wüsste keinen besseren Weg die Selbstachtung eines Kindes zu treffen, als ihm sorgenvoll zu vermitteln, sein Körper sei nicht okay. Es hat ab dann bei jeder Mahlzeit ein schlechtes Gewissen und schämt sich, wenn es auf dem Sofa lieber schlaue Bücher liest, statt rumzuturnen.“ [8]

In Deutschlands Arztpraxen wird die Sache so richtig ernst. Dr. Gunter Frank spricht in seinem Videobeitrag von „Schlankheitsterror im Kindergarten“ [9], von beleibten Müttern, die sich schämen, wenn sie ihren beleibten Kindern einen Schokoriegel oder andere Süßigkeiten vor den Augen despektierlicher Zuschauer geben. Und er lässt uns aufhorchen bei der Information, dass es medizinisch völlig unbedenklich sei, wenn Kinderfiguren nicht der willkürlich festgelegten Norm entsprächen. Schlankheitskuren, die den Pummelchen vermitteln, dass sie soziale Nachteile zu befürchten haben, wenn sie das Essverhalten nicht ändern, treiben, so Dr. Frank, Kinder in die Depression und in Essstörungen. Abnehmprogramme erbrächten „keinerlei Nutzen, geschweige denn Gewichtsreduktion“.

Es besteht wenig Hoffnung, dass seriöse wissenschaftliche Forschung und erhärtete Fakten eine wirksame Medizin gegen Fettphobie sind. Und das ist gut so. Zumindest für diejenigen, die dem Schlankheitsgott BMI die Anbetung nicht verweigern und gerne Geld für Überflüssiges in den Klingelbeutel einer medizinisch zweifelhaften Therapie werfen. Das „ Fachklinikum Borkum“ jedenfalls greift die aus allen Nähten geplatzten kindlichen Polster an. Auf der Webseite präsentiert sich das Ergebnis: Ein auf den korrekten BMI rückgeführtes Kind blickt freundlich in die Augen des Mausbedieners. [10] Die Therapie der zuvorkommenden Klinikmitarbeiter – wie sollte es anders sein – nimmt Kinder und deren Eltern in die Pflicht. Dickerchen sind nämlich immer auch Opfer von ernährungsunkundigen oder einfach ernährungsspontanen und damit irregeleiteten Eltern. Die dicken Kinder zeigen falsche „Ernährungsmuster“ – so lautet zunächst die Begründung für ihre Behandlungsbedürftigkeit. Gemüse und Salat sind angesagt, nix Süßigkeiten. Schokoriegel als Lob? Ein völlig falsches Muster! (Frage an den Therapeuten: Salatblätter als Belohnung – wäre dies nicht ein erstrebenswertes Ziel einer Ernährungstherapie? Oder sollte man vielleicht Nahrungsaufnahme überhaupt als Belohnung für Kinder aus unseren Verhaltensmustern streichen? Dann aber müssen wir uns als Erwachsene auch abgewöhnen, uns als „Belohnung“ für geleistete Arbeit oder einfach so für den Abend eine Flasche Bier oder Wein zu gönnen, denn: Exempla trahunt. Beispiele geben die Richtung vor!)

Wenn websurfende Eltern nun Zweifel an der Wirksamkeit ernährungsvernünftiger, aber lustverneinender Essmuster der Bochumer Klinik haben sollten, hilft ihnen ein virtuelles kleines, grünes Monsterchen mit Sprechblase, das den Kinderwiderstand gegen Gemüse mühelos bricht: Es erzählt davon, dass der Seemann Popeye sich regelmäßig mit Spinat (ein Uggh für jedes Kind!) gestärkt hat, um seine Gegner zu besiegen. Ja, und sollte ein Kind von der Siegesstatistik des Seefahrers unbeeindruckt bleiben, so bietet Monsterchen handfeste Infos: Spinat habe Ballaststoffe, Mineralien und Vitamine. In den Tomaten, so lernen die Kleinen auf der Webseite, seien noch mehr vernünftige Stoffe drin. Und ja, dies sollte jedes Schleckermaul wissen, da ist auch was gegen Krebs enthalten. Ob Otto jetzt immer noch nein zur Tomate sagt?

Spätestens jetzt also sollte unser Musterkind einsehen, warum es sich selbst schadet, wenn es isst, was ihm schmeckt, statt bewusst zu essen, was ihm schmecken soll. Vielleicht gelingt es dann ja auch, aus einem „Bewegungsmuffel“ ein sportbegeistertes Kind“ zu machen? Das, so die Auskunft auf der Homepage der Klinik, sei „einfacher als es scheint.“ Wer’s glaubt. Die Fortsetzung der Webseitenreise sei hier empfohlen. Eine Statistik über mangelnde Erfolge und vorauszusehende Rückfaller, Opfer des Jo-Jo-Effekts, findet sich nicht.

Essen: keine Frage der freien Entscheidung

Die These lautet: Normabweichendes Gewicht ist als soziales Stigma zur Bewährungsprobe für die Menschenwürde vor Ort geworden. Dass sich Menschen wegen ihres physischen Erscheinungsbilds herabwürdigen lassen müssen, bis hin zur sozialen Ausgrenzung, ist eine Schande für eine sich sonst ach so tolerant gebende Gesellschaft. Wenn der stellvertretende Bundesvorsitzende der Senioren-Union, Leonhard Kuckart, fordert, dass Übergewichtige höhere Beiträge für Kranken- und Pflegeversicherung zahlen müssen [11], so hat er sich damit offen für die Diskriminierung Benachteiligter ausgesprochen, was bedauerlicherweise keine deutliche öffentliche Zurückweisung provoziert. Im Gegenteil: Wenn mittlerweile sogar vom Lehrerverband, eigentlich der Vertreter von Kinderinteressen an vorderster Front, gefordert wird, dass für übergewichtige Kinder weniger Kindergeld bezahlt werden sollte [12], dann ist die moralische Grenzlinie überschritten. Nahrungsaufnahme wird offensichtlich nicht mehr als individuelle freie Entscheidung angesehen, sondern als Vorgang, der sich öffentlicher Bewertung aussetzen muss. Die Öffentlichkeit mit ihren fragwürdigen Normen entscheidet darüber, ob Essgewohnheiten und Aussehen verantwortungsvollen oder unverantwortlichen Umgang mit der eigenen Person offenbaren. Spätestens jetzt vergeht einem der Appetit.

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