23.11.2018

Nicht zu viel über seine Wurzeln grübeln (2/3)

Von Martin Bartholmy

Das Buch „Roots“ von Alex Haley hat für die afroamerikanische Identitätsfindung eine große Rolle gespielt. Das macht einen kritischen Blick auf dieses Werk und seinen Autor umso wichtiger.

„What’s Alex Haley if it doesn’t have roots?
What’s a weekend if you ain’t knockin boots?
What’s a black nation without black unity?
What is a child who doesn’t know puberty?”
(A Tribe Called Quest: What?)


Zweiter Auftritt von Alex Haley. Bei der Autobiografie von Malcom X war er im Hintergrund geblieben, zwar nicht Ghostwriter – der vollständige englische Titel lautet „The Autobiography of Malcolm X as told to Alex Haley“ –, aber ganz Diener seines Subjekts. Das Buch entwickelte sich, es erschien 1965 nach der Ermordung Malcolms, zwar nicht sofort, aber allmählich zu einem Bestseller, und bis 1977 wurden allein in den USA gut sechs Millionen Exemplare verkauft. Haley, der in erster Linie Journalist war, wurde zu einem gefragten Experten für afroamerikanische Themen, und er wurde laufend zu Interviews und Vorträgen eingeladen. Neben Malcolm X entwickelte Haley in diesen Jahren eine weitere Geschichte, nämlich die seiner Familie, ihrer Herkunft und Wurzeln.

Alex Haley ist ein in zweierlei Hinsicht merkwürdiger Autor. Er ist der Verfasser von zwei der, in den USA und darüber hinaus, erfolgreichsten und wirkmächtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts, der Autobiografie von Malcolm X und der Geschichte seiner eigenen Vorfahren, „Roots“. Ansonsten gibt es von Haley fast nichts – ein paar Interviews, eine läppische Weihnachtsgeschichte sowie postum erschienene Fragmente. Die Wirkung von „Roots“ und der Autobiografie lässt sich nur mit der von „Onkel Toms Hütte“ und „Vom Winde verweht“ vergleichen, zwei Büchern, die – aus sehr verschiedener, weißer Sicht (nämlich einmal aus dem Norden, einmal aus dem Süden der USA) – von Sklaverei und Bürgerkrieg erzählen. Haley gelang es mit seinen beiden Büchern, hierzu ein Gegenbild aus schwarzer Sicht zu entwerfen.

Archäologie und Therapie

„Roots“, 1976 erschienen und 1977 als Mehrteiler fürs Fernsehen verfilmt, gibt vor, kein Roman zu sein, sondern, so wie das Malcolm X-Buch, Tatsache – echte Geschichte, nur dass es in „Roots“ nicht um die Geschichte einer Person geht, sondern um jene von Haleys Vorfahren, und zwar bis zurück ins 18. Jahrhundert und nach Afrika zu einem gewissen Kunta Kinte, der in Gambia gefangen und in die Sklaverei verkauft wird. Die erklärten Absichten Haleys mit diesem Buch sind zwiespältig. Einerseits, so sagte er, habe er, angeregt durch mündliche Überlieferungen in seiner Familie, Ahnenforschung betrieben und jahrelang alle verfügbaren Quellen studiert. Andererseits wolle er mit „Roots“ die allgemeingültige Geschichte der Schwarzen in den USA erzählen, ihnen dabei ihre afrikanischen Wurzeln zurückgeben und sie zugleich zu einem Teil der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika machen, das heißt, „Neger“ zu Afroamerikanern (passenderweise feierte man 1976, als das Buch erschien, den 200. Geburtstag der Unabhängigkeit der USA). Bei „Roots“, darauf bestand Haley, handele es sich um keinen Roman, sondern um Fakten, um Geschichte – eine Behauptung, welche er, nachdem Zweifel an der Gründlichkeit und Richtigkeit seiner Recherchen laut geworden waren, dahingehend abwandelte, bei dem Buch handele es sich um „faction“, das heißt, um eine Mischung aus Fakten und Fiktion, da er, um eine überzeugende und spannende Geschichte erzählen zu können, seine Nachforschungen mit erfundenen Dialogen habe anreichern müssen.

„‚Roots’ soll eine Geschichte sein, die Schwarzen in den USA eine Identität als Afroamerikaner gibt, eine Identität, auf die sie stolz sein können.“

Zum einen will „Roots“ also Archäologie sein: die Ausgrabung der verschütteten und verdrängten Geschichte einer unterdrückten Minderheit, um die historische Wahrheit, wenn nicht ans Licht zu holen, so doch der breiten Öffentlichkeit bewusst zu machen. Zum anderen soll „Roots“ Therapie sein: eine Geschichte, die Schwarzen in den USA eine Identität als Afroamerikaner gibt, eine Identität, auf die sie stolz sein können, weil klargestellt wird, dass sie nicht von „Wilden“ abstammen, und weil zudem das Leid der Sklaverei in seinem ganzen Ausmaß dargestellt wird – und damit auch die Leistung jener Menschen, die diese Brutalität und Entmenschlichung überlebten.

Für den historischen Roman ist eine derartige Stilisierung nicht ungewöhnlich. Walter Scott schuf in seinen Büchern ein verklärtes Bild der Vergangenheit Schottlands, James Fenimore Cooper machte die Trapper in der Wildnis Nordamerikas zu Helden. Haleys Errungenschaft ist es, dies für die Schwarzen in den USA getan zu haben, deren Geschichte zuvor an Schulen, Universitäten sowie in den Massenmedien, wenn überhaupt, dann nur in verklärter Form vorkam – wie beispielsweise die Sklaverei in „Vom Winde verweht“ als gutartiges System und die Sklaven als im Grunde zufriedene, vergnügte Menschen dargestellt werden. Haleys Errungenschaft war zugleich aber auch sein Stolperstein, denn Haley wollte beides sein, Historiker und Geschichtenerzähler.

Wirklichkeit und Fiktion

Als durch Nachforschungen rasch klar wurde, dass an Haleys Recherchen kaum etwas stimmte, versuchte er, sich auf zweierlei Weise zu verteidigen. Zum einen, sagte er: „Schwarze brauchen ein Eden […]. Ich wollte unsere ursprüngliche Farbe zeigen – in ihrem unverdorbenen Zustand, und ich weiß, meine Darstellung ist gerecht.“ Kritikern warf er Rassismus vor, und er ging dabei so weit zu sagen, wenn man behaupte, „Roots“ habe sich nicht ereignet, wäre dies, „wie wenn man behauptet, Anne Frank habe nie gelebt oder dass die ganze Sache mit den Nazis bloße Fiktion ist“. Zweitens verteidigte sich Haley damit, die mündliche Überlieferung seiner Familie, wie auch die anderer schwarzer Familien in den USA und in Afrika, jene durch die Griots – traditionelle Erzähler und Sänger – mündlich tradierten Geschichten, sei wenigstens gleich viel wert und gleich wahr wie die offizielle, wissenschaftliche, „weiße“ Geschichte der Welt.

Es sind dies Gründe, die einer anführt, der sich schwer verrannt hat, der den Befreiungsschlag versucht, und dem dazu jedes Argument recht ist, sei es der Nazi-Vergleich, sei es die Vernunftkritik. In letzter Konsequenz besagt all dies: „Nur ich weiß, wer ich bin – und ich lasse mir von anderen, die meine Identität nicht teilen, nichts vorschreiben.“

„Haleys Problem, nämlich die Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion, hat mit seiner eigenartigen Geschichte als Schriftsteller zu tun.“

Haleys Problem, nämlich die Vermischung von Wirklichkeit und Fiktion, hat mit seiner eigenartigen Geschichte als Schriftsteller zu tun. Mit sehr wenig Erfolg hatte er jahrelang Kurzgeschichten verfasst, bis er schließlich ein Auskommen fand, erst als Journalist für Reader’s Digest und dann als Interviewer für den Playboy. Im Auftrag des Playboy sprach er u.a. mit Miles Davis, Martin Luther King, Muhammed Ali und Malcolm X – und wegen des letztgenannten Interviews trat ein Verlag an ihn heran und fragte, ob er daraus nicht ein Buch machen wolle.

Haley muss ein guter Interviewer gewesen sein, gelang es ihm doch, selbst zu schwierigen und sehr misstrauischen Gesprächspartnern wie Malcolm X ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und diese dazu zu bringen, sich ihm zu öffnen. Seine zweite Begabung war die als Redner und als Geschichtenerzähler – gewissermaßen als moderner Griot. Nach dem Erfolg des Malcolm X-Buchs lebte Haley für über ein Jahrzehnt von Vorträgen, von denen er pro Jahr weit über 100 hielt. Am erfolgreichsten war dabei ein Vortrag, welchen Haley „Saga of a People“ (Die Heldensage eines Volks) nannte, und die auf einem geplanten Buch basierte, für das er bereits 1964 (noch vor Erscheinen der Autobiographie) einen Vertrag abgeschlossen hatte (Arbeitstitel „Before this Anger“), das aber erst 1976 erscheinen sollte – unter dem Titel „Roots“.

Warum brauchte Haley zwölf Jahre, um „Roots“ zu schreiben? – Er hatte ein gutes Auskommen als Vortragsredner, und er genoss die Aufmerksamkeit des Publikums sehr viel mehr als die Arbeit am Schreibtisch. Außerdem deutet alles darauf hin, dass Haley das Schreiben nicht lag. Bereits bei seinen Interviews und dann auch beim Malcolm X-Buch hatte sich Haley stark auf seinen Redakteur beim Playboy gestützt, der die Texte vor der Veröffentlichung gründlich bearbeitete. Bei „Roots“, für das es keine Interviewpartner gab, die Material lieferten, welches Haley verarbeiten konnte, liefen diese Probleme aus dem Ruder. Trotz zweier Ko-Autoren (Murray Fisher, sein ehemaliger Redakteur beim Playboy, und die Studentin Myran Lewis, die kurz darauf die dritte Mrs. Haley wurde), die beide nicht nur Haleys Texte gründlich überarbeiteten, sondern die ganze Passagen des Buchs entwarfen und auch schrieben, ging es mit „Roots“ nur sehr langsam voran.1

„Identifikation und Identität brauchen, damit sie reibungslos funktionieren, das Siegel der Echtheit, der Authentizität.“

Erschwerend kam hinzu, dass Haley durch seine Vortragstätigkeit sehr gut ausgelastet war. Allein die „Saga of a People“ trug er weit über 1000 Mal vor. Diese Vorträge spielten bei der Entstehung von „Roots“ eine wichtige Rolle, denn erst im Wechselspiel mit dem Publikum entwickelte Haley seine Fundstücke und Ideen zu einer Geschichte: „Man beobachtet sein Publikum […] und achtet darauf, was bei ihm am besten ankommt.“2 Eine entscheidende Zutat, das merkte er bald, war, dass die Geschichte von den afrikanischen Wurzeln und der Sklaverei mehr Resonanz fand, wenn er sie als seine persönliche Geschichte, als die Geschichte seiner Familie erzählte, das heißt, wenn er sie so erzählte, dass das Publikum sich mit ihm identifizieren konnte – weil es ihn wiederum identifizierte mit seinem Vorfahren Kunta Kinte, der halb stolzer Afrikaner, halb Opfer des US-amerikanischen Sklavensystems war. Identifikation und Identität brauchen, damit sie reibungslos funktionieren, das Siegel der Echtheit, der Authentizität.

Ungefähr das erste Viertel von „Roots“ spielt in Afrika, und insgesamt wird das Buch geprägt vom Urahn Kunta Kinte, seiner Tochter Kizzy und dann deren Sohn George, wodurch im Werk ein Ungleichgewicht entsteht, soll doch die Geschichte von Haleys Familie bis hin zu ihm selbst erzählt werden. In der Handlung überwiegt jedoch der Gegensatz zwischen freiem Afrika und der Sklaverei in Amerika, und zwar sowohl was den Umfang, als auch was Spannung und Dynamik angeht. Alles, was näher an die Gegenwart heranreicht, wird sehr kurz abgehandelt. Ob seiner Fremdheit und Ferne eignet sich zeitlich und räumlich Entlegenes besser als Projektionsfläche, kommt einem so doch, hängt man seinen Fantasie- und Wunschvorstellungen nach, die widersprüchliche erlebte Wirklichkeit weitaus weniger ins Gehege.

Literarisch gelungen, weil gelungen imaginiert, ist in „Roots“ vor allem der Anfang, nämlich die Fiktion eines paradiesischen Afrikas – und, darauffolgend, jener Teil, der die Hölle der Sklaverei und speziell der Überfahrt auf dem Schiff der Sklavenhändler schildert. Was diese beiden Elemente voneinander unterscheidet, ist, dass das paradiesische Afrika mit der historischen Wirklichkeit wenig zu tun hat, während die Darstellung des Sklavenhandels der damaligen, durch Quellen bezeugten Realität sehr nahe kommt.

Märchen und Identität

Diese beiden Elemente – die Wunschvorstellung und die historischen Tatsachen – müssen im Roman miteinander verbunden werden, und es überrascht nicht, dass, trotz aller Hilfe durch andere, dem wenig begabten Schriftsteller Haley dies nicht gelingt. Kunta Kintes Heimat, das afrikanische Dorf Juffure und seine Umgebung sind eine Märchenwelt, das fällt selbst bei flüchtiger Lektüre auf: Es gibt keine Kindersterblichkeit, keine Konflikte (von Krieg ganz zu schweigen), und es ist eine Welt, die ganz in sich und ihren uralten Bräuchen ruht. Gerade deshalb aber funktioniert die Erzählung, wird doch eine in sich stimmige Welt aufgebaut, eine Welt voll interessanter und exotischer Ereignisse. Dass dabei auch allerlei eingearbeitet wird, was nichts mit dem Afrika des 18. Jahrhunderts zu tun hat, dagegen sehr viel mit den USA des 20. Jahrhunderts, stört nicht – eher kann man es (auch wenn das wohl nicht Haleys Absicht war) als amüsante Satire à la „Gullivers Reisen“ lesen – beispielsweise wenn der Slogan „Black is beautiful“ aufgegriffen wird.

„Nachdem die alten Helden ausgedient hatten, verbanden mehr und mehr Menschen eine positive Identität mit Leiden – mit einer Rolle als Opfer.“

„Selbst Binta kochte des Nachts eine Brühe aus frisch gestampftem Fudano-Laub, ließ diese dann abkühlen und tränkte ihre Füße sowie ihre blassen Handflächen darin – so lange, bis diese schwarz waren wie Tinte. Als Kunta seine Mutter fragte, warum, sagte sie, er solle verduften. Also fragte er seinen Vater, und der sagte ihm: ‚Je mehr Schwärze eine Frau hat, desto schöner ist sie.’“

Als afrikanisches Märchen funktioniert der erste Teil, als eindringlich gestaltete Geschichtslektion der folgende Teil über die Versklavung. Der Rest des Romans fällt hingegen stark ab.

Das Publikum in den USA und darüber hinaus sah in „Roots“ – und stärker noch in der Verfilmung – mehr als ein Märchen oder eine Nachhilfestunde in Geschichte, es begriff „Roots“ als ein Angebot, die eigene Identität neu zu erfinden, und, nachdem durch den Vietnamkrieg, Watergate, Öl- und Wirtschaftskrise die alten Helden – das heißt die Macher und Pioniere, die Cowboys, Soldaten, Erfinder und Astronauten – ausgedient hatten, verbanden mehr und mehr Menschen eine positive Identität, das heißt, etwas, auf das man stolz sein kann, mit Leiden – mit einer Rolle als Opfer.3 Diese Neuerfindung einer positiven Identität blieb nicht auf Schwarze begrenzt. Kurz nach dem Erfolg von „Roots“ lief im US-Fernsehen der Mehrteiler „Holocaust“; die Oscars für den besten Film ging in diesen Jahren an: „Einer flog übers Kuckucksnest“, „Rocky“, „Der Stadtneurotiker“, „Die durch die Hölle gehen“ und „Kramer gegen Kramer“.

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