13.01.2023

Nein, wir erleben keine Orgie der Zerstörung

Von Karl-Heinz Dehner

Titelbild

Foto: Sponchia via Pixabay

Bedroht uns ein dramatisches Artensterben? Entsprechende Einlassungen bei der Weltnaturschutzkonferenz sind von der Realität nicht gedeckt.

In seiner Rede zur Eröffnung der Weltnaturkonferenz in Montreal sagte UN-Generalsekretär António Guterres, die Natur sei „des Menschen bester Freund“, und fügt hinzu: „Ohne Natur haben wir nichts, ohne Natur sind wir nichts.“

Für Hunderte von Jahren habe die Menschheit eine „Kakophonie des Chaos“ aufgeführt, bei der mit „Instrumenten der Zerstörung“ gespielt worden sei. Für den UN-Chef steht fest, wo die Verursacher zu finden sind: „Multinationale Konzerne füllen ihre Bankkonten auf, während sie die natürlichen Geschenke der Welt ausräumen.“ Durch „bodenlosen Appetit nach hemmungslosem Wirtschaftswachstum“ sei die Menschheit zu einer „Massenvernichtungswaffe" (im Original „weapon of mass extinction“) geworden. Die Biodiversitätskonferenz sei „unsere Chance, diese Orgie der Zerstörung“ zu stoppen.

Eines scheint Guterres vergessen zu haben: dass unsere Zivilisation in einem ständigen Kampf gegen die zerstörerischen Naturgewalten, Heimsuchungen und Krankheiten, die „unser bester Freund" hervorbringt, aufgebaut wurde. Außerdem kann von einem Massenaussterben, das mit einem der fünf vergleichbar wäre, die die Erde bisher erlebt hat, keine Rede sein.

Auf der Konferenz ging es um einen neuen Weltnaturschutzvertrag, der dem globalen Zustandsbericht des UN-Weltbiodiversitätsrats IPBES Rechnung tragen soll. Dieser „Global Assessment Report of Biodiversity and Ecosystem Services" hat für den Natur- und Artenschutz die gleiche Bedeutung wie die Klimaberichte des UN-Weltklimarats IPCC für den Klimaschutz. 

Der Vertrag soll die Grundlagen dafür schaffen, dass es der Menschheit gelingt, künftig „in Harmonie mit der Natur zu leben", und dass bis zum Jahr 2050 „die biologische Vielfalt geschätzt, erhalten, wiederhergestellt und klug genutzt wird, um die Ökosystemleistungen zu erhalten, einen gesunden Planeten zu bewahren und allen Menschen wesentliche Vorteile zu bringen."

Konkret formuliert der Vertrag 23 Ziele (Targets). Diese ersetzen die Aichi-Biodiversitätsziele aus dem Jahr 2010, die als Richtschnur für den Schutz der Artenvielfalt bis 2020 dienen sollten. Doch welcher Zustand der Biodiversität soll wiederhergestellt werden?

Was wir als Natur bezeichnen, ist Ergebnis eines Zusammenwirkens von spontanen Prozessen und menschlichen Aktivitäten, die die ökologischen Systeme, in denen wir leben, verändert haben und die uns durch eine Reihe von Nutzungen Ressourcen und Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Das Problem bei der „Wiederherstellung der Biodiversität" ist, dass die natürliche Welt ein dynamisches System ist, so dass die Wahl des Zustands, zu dem man zurückkehren möchte, willkürlich ist.

Eine solche Festlegung eines Referenzzustands unterstellt, wie der Biologe Chris Thomas bemerkt, dass alle ökologischen und evolutionären Veränderungen bis zu zur Erreichung dieses Zustands positiv zu bewerten sind, wohingegen alle nachfolgenden Entwicklungen als unerwünscht gelten, da sie Abweichungen von dem bevorzugten Zustand darstellen. Doch unsere Ansichten über den relativen Wert verschiedener Arten, über die Ökosystemleistungen, die wir aus alten und neuen Ökosystemen beziehen, und über die Bedeutung der Vielfalt auf verschiedenen räumlichen und zeitlichen Ebenen betreffen gesellschaftliche Fragen, für die es keine allgemeingültigen „richtigen" Antworten geben kann.

Wie dramatisch ist der Artenschwund?

Im Zusammenhang mit der Konferenz wurde immer wieder betont, dass von den schätzungsweise acht Millionen Tier- und Pflanzenarten auf der Erde laut Einschätzung des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) der Vereinten Nationen eine Million vom Aussterben bedroht seien.

Wie wurde diese Zahl ermittelt? Die genannte Zahl ist eine Extrapolation der Zahlen der Weltnaturschutzunion (IUCN), die eine Liste bedrohter Arten führt. Der IBPES nimmt an, dass es rund 8 Millionen Arten von Lebewesen auf der Erde gibt. Diese Zahl ist eine Schätzung, die eine Studie aus dem Jahr 2011 berichtet hat. Bislang sind nur 1,7 Millionen Arten beschrieben. Von diesen sind derzeit rund 150.000 in den Roten Listen der IUCN erfasst und hinsichtlich ihres Zustands bewertet.

Die IUCN hat also nicht alle weltweit bekannten Arten bewertet; in vielen taxonomischen Gruppen hat sie sogar nur einen sehr geringen Prozentsatz bewertet. Im Jahr 2022 hatte sie nur rund neun Prozent der beschriebenen Arten bewertet.Bei den Land-, Süßwasser- und Meereswirbeltieren, Wirbellosen und Pflanzengruppen, die in den roten Listen der IUCN aufgeführt werden, gelten 28 Prozent als vom Aussterben bedroht („threatened by extinction"). Der Anteil der Insektenarten, die vom Aussterben bedroht sind, ist nicht bekannt und wird vom IPBES anhand der verfügbaren Daten auf 10 Prozent geschätzt.Der IPBES ging von der IUCN-Bewertung aus und kommt mit einer Hochrechnung zu dem Schluss, dass von schätzungsweise acht Millionen Tier- und Pflanzenarten rund eine Million vom Aussterben bedroht seien.

Was aber bedeutet „vom Aussterben bedroht"? In der Roten Liste der IUCN werden die Arten auf der Grundlage ihrer geschätzten Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines bestimmten Zeitraums auszusterben, bewertet. Diese Schätzungen berücksichtigen die Populationsgröße, die Änderungsrate der Populationsgröße, die geografische Verteilung und das Ausmaß der Umweltbelastungen, denen sie ausgesetzt sind. Als „threatened by extinction" werden alle Arten deklariert, die in die IUCN-Kategorien CR („critically endangered"), EN („endangered") oder VU („vulnerable") fallen. Eine Art wird als „critically endangered" bewertet, wenn das Risiko des Aussterbens in der freien Natur innerhalb von zehn Jahren oder drei Generationen auf mehr als 50 Prozent, als „endangered", wenn das Risiko des Aussterbens in der freien Natur innerhalb von 20 Jahren oder 5 Generationen auf mehr als 20 Prozent, als„"vulnerable", wenn das Risiko des Aussterbens in der freien Natur innerhalb von 100 Jahren auf mehr als 10 Prozent geschätzt wird. Auf die o. a. einzelnen Kategorien entfallen nach der aktuellen Roten Liste jeweils 6 (CR), 11 (EN) bzw. 11 (VU) Prozent. Der Großteil der Arten auf der Liste ist also keineswegs akut bedroht und ein Aussterben mittelfristig eher unwahrscheinlich.

„Das so genannte sechste große Artensterben wird seit Jahrzehnten heraufbeschworen. Es ist bislang nicht eingetreten, wie praktisch alle Weltuntergangsvorhersagen in der Geschichte der Menschheit."

Das so genannte sechste große Artensterben wird seit Jahrzehnten heraufbeschworen. Es ist bislang nicht eingetreten, wie praktisch alle Weltuntergangsvorhersagen in der Geschichte der Menschheit. Schon 1980 prognostizierte der Bericht „Global 2000“ ein dramatisches Artensterben, nämlich, dass bis zum Jahr 2000 15 bis 20 Prozent aller derzeit lebenden Arten ausgestorben sein würden.

Tatsächlich gibt es aktuell 986 in den roten Listen der IUCN aufgeführte als sicher geltende Aussterbefälle, von weiteren 1305 Arten wird angenommen, dass sie (in freier Wildbahn) ausgestorben sind. Das sind zwischen 0,7 und 1,5 Prozent aller in den Roten Listen erfassten Arten. Bei den Wirbeltieren, die besser erforscht sind, sind es den Roten Listen zufolge 415 bzw. 395 Arten. Dokumentiert sind 164 ausgestorbene Vogelarten (hinzu kommen evtl. weitere 22) und 87 ausgestorbene Säugetierarten (plus evtl. weitere 29, bei denen es vermutet wird). Das sind rund 1,5 (oder bis zu 1,7) Prozent aller Vogelarten und rund 1,5 (oder bis zu 1,9) Prozent aller Säugetierarten.

Wie dramatisch ist der Rückgang der Wirbeltierbestände?

Viel wurde vor der Konferenz auch über den Rückgang der Wirbeltierbestände berichtet. So hieß es in der F.A.Z.: „Rund 70 Prozent der seit dem Jahr 1970 erfassten Populationen an Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien sind mittlerweile durch den Einfluss des Menschen verschwunden." Dies gehe aus dem jüngsten ‚Living Planet Report' der Umweltschutzorganisation WWF hervor. Wie diese Zahl berechnet wird und was sie bedeutet, erfährt der Leser nicht. Die Welt ist da schon etwas präziser, hier erfahren wir: „Zwischen 1970 und 2018 sei bei den mehr als 31.000 untersuchten Populationen ein Rückgang von im Schnitt 69 Prozent zu beobachten gewesen, schreibt [sic!] die Umweltstiftung WWF und die Zoologische Gesellschaft London im neuen Living Planet Report 2022'. Insgesamt wurden Daten zu mehr als 5200 Wirbeltierarten ausgewertet. Dazu gehören Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien."

Der Living Planet Index (LPI) gilt dem Abkommen über die biologische Vielfalt (CBD) als Indikator für den Fortschritt bei der Erreichung der Ziele für den Zeitraum 2011 bis 2020 und soll auch eine wichtige Rolle bei der Überwachung der Fortschritte im Hinblick auf die Ziele für die Zeit nach 2020 spielen, die auf der COP15 im Dezember letzten Jahres verhandelt wurden. Der LPI basiert auf Populationsdaten von Wirbeltierarten und stellt die durchschnittlichen Bestandsveränderungen dar. Wie diese Zahl berechnet wird und was sie bedeutet, ist im Technischen Supplement des Reports beschrieben.

Der LPI basiert derzeit auf Daten aus den Jahren 1970 bis 2018 für insgesamt 31.821 Populationen von 5230 Arten aus aller Welt. Er bezieht sich also nur auf die beobachteten Populationen, die im Index enthalten sind. In die Berechnung gehen nur Zahlen von ausgewählten Populationen ein, für die langjährige belastbare Zeitreihen zur Populationsentwicklung vorliegen. Eine Population ist eine Gruppe von Tieren, die derselben Art angehören und zu einem bestimmten Zeitpunkt am selben Ort leben, wo sie im Laufe der Zeit erfasst wurden. Es kann mehrere Populationen einer Art geben, die an getrennten Standorten leben.

Die Berechnung des LPI ergab einen durchschnittlichen Rückgang der Populationsgrößen der beobachteten Säugetiere, Vögel, Amphibien, Reptilien und Fische um 69 Prozent seit 1970. Dieses Ergebnis bedeutet nicht, dass die Zahl der Wirbeltiere oder der Bestände um 69 Prozent zurückgegangen ist. Es bedeutet auch nicht, dass 69 Prozent der Populationen oder der Arten im Rückgang begriffen sind. Es besagt, dass die Größe der beobachteten Populationen im Durchschnitt um 69 Prozent zurückgegangen ist. Dabei zählt jede Population mit gleichem Gewicht, unabhängig von ihrer Größe.

Beispiel: Nehmen wir an, wir hätten nur zwei Populationen im Index, eine Vogel- und eine Nagetierpopulation. Die Vogelpopulation ist von 10 auf 2 (also um 80 Prozent), die Nagetierpopulation von 100 auf 98 (also um 2 Prozent) zurückgegangen. Der durchschnittliche Rückgang der Populationen beträgt somit 41 Prozent. Die Gesamtzahl der Tiere hingegen ist von 110 auf 100, also nur um rund 9 Prozent zurückgegangen.

Globalisierung und Homogenisierung der Artenvielfalt

Die biologische Vielfalt nimmt nicht generell auf allen räumlichen Ebenen ab. Eine Vielzahl von Studien hat gezeigt, dass die durchschnittliche Zahl der Arten auf regionaler Ebene in den letzten Jahrzehnten stabil geblieben oder sogar leicht gestiegen ist. Mit anderen Worten: Das Aufkommen neuer Arten in einer Region entspricht der Rate des Verschwindens anderer Arten, wenn man den Durchschnitt vieler Standorte betrachtet, wobei einige einzelne Standorte eine Nettozunahme aufweisen, während andere einen Rückgang verzeichnen.

„Eine Vielzahl von Studien hat gezeigt, dass die durchschnittliche Zahl der Arten auf regionaler Ebene in den letzten Jahrzehnten stabil geblieben oder sogar leicht gestiegen ist."

Beispiel Neuseeland: Seit der Ankunft des Menschen in Neuseeland im 13. Jahrhundert hat sich die Zahl der Pflanzenarten in dem Land verdoppelt, von etwa 2000 auf mehr als 4000. In diesem Inselstaat, in dem es abgesehen von einigen Fledermausarten keine einheimischen Landsäugetiere gab, leben heute mehr als zwei Dutzend Säugetierarten. Die Artenvielfalt hat zugenommen. Der Verlust von etwa der Hälfte der einheimischen Vogelarten Neuseelands stellt einen globalen Verlust an biologischer Vielfalt dar, da alle diese Arten endemisch waren und nirgendwo sonst auf dem Planeten lebten. Die vom Menschen ermöglichte Einwanderung und Ansiedlung von etwa der gleichen Anzahl von Vogelarten hat die biologische Vielfalt in Neuseeland erhalten, aber nichts gegen den weltweiten Verlust bewirkt, da alle neu angesiedelten Arten bereits anderswo leben.

Auch auf anderen ozeanischen Inseln wurden Veränderungen im Artenreichtum beobachtet, die der Entwicklung in Neuseeland entsprechen. Und doch ist hier, wie auch für den Rest der Erde, von einer „Biodiversitätskrise" die Rede, da viele Arten ausgestorben sind oder vom Aussterben bedroht sind. Das Resultat des menschlichen Wirkens in den letzten Jahrhunderten scheint also im Durchschnitt eher eine Zunahme oder zumindest keine Veränderung des Artenreichtums auf regionaler Ebene gewesen zu sein. Man kann diesen Prozess als Homogenisierung oder Kosmopolitisierung der in der Welt bestehenden Lebensgemeinschaften ansehen.

Nach Ansicht von Chris Thomas zeigt die Zunahme der biologischen Vielfalt auf lokaler und regionaler Ebene, wie widerstandsfähig das globale biologische System gegenüber Störungen durch den Menschen ist. Tier- und Pflanzenarten, die ihre natürliche Umgebung verlassen und sich an neuen Orten ansiedeln, seien schon immer Teil des ökologischen Wandels gewesen. Der Wandel an sich sollte nicht als negativ betrachtet werden, denn er ist es, der die biologische Vielfalt und funktionierende Ökosysteme gegenüber äußeren Einwirkungen bewahrt.

Die Evolutionsbiologie definiert die Einschleppung durch den Menschen als ein grundlegendes Merkmal invasiver Arten, das diesen Prozess von der natürlichen Besiedlung unterscheidet. Wenn Arten in historischer oder prähistorischer Zeit eingeführt wurden, ist es schwierig, sie als gebietsfremd oder einheimisch zu kategorisieren. In Deutschland konnten sich bislang rund 1200 gebietsfremde Arten in der Natur dauerhaft etablieren und ausbreiten. Vor dem Jahr 1492 (Entdeckung Amerikas) eingeführte oder eingeschleppte und seitdem dauerhaft etablierte Arten werden als Archäobiota bezeichnet. Diese stammen größtenteils aus dem vorder- oder zentralasiatischen Raum und umfassen besonders die Kulturfolger aus der Zeit der Neolithischen Revolution. In Abgrenzung zu den Archäobiota steht der Begriff Neobiota für Arten, die nach 1492 eingeführt wurden. In Deutschland gibt es heute rund 930 Neobiota-Arten, die sich dauerhaft etabliert haben. Ihr Anteil am Gesamtartenbestand beträgt rund ein Prozent.

Gebietsfremde Arten sind nicht immer schädlich, da sie mitunter einen wichtigen Beitrag zur lokalen und regionalen biologischen Vielfalt und zu Ökosystemleistungen wie der Nahrungsmittel- und Faserproduktion leisten. Viele Neobiota werden auch vom Menschen als Nahrungsmittel genutzt. Zu den bekanntesten gehören die Kartoffel und die Tomate. 

Viele Ökologen neigen jedoch dazu, jegliche Umweltveränderungen, die durch nicht heimische Arten hervorgerufen werden, als schädlich zu betrachten. Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) bezeichnet die „Invasion fremder Arten" sogar als eine von fünf „direkten Triebkräften" des weltweiten Artensterbens. Die Ansiedlung erfolgreicher Arten an neuen Standorten wird als Beleg dafür gewertet, dass die Biosphäre von einem wünschenswerten Zustand abweicht, der einem bestimmten historischen Zustand entspricht, dessen Festlegung kaum weniger willkürlich ist als die Festlegung eines Klimas „der vorindustriellen Zeit" als Klimanormalzustands.

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