02.03.2015

Mythos Giftgasgras

Kommentar von Sabine Leopold

Diese Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten. 2012 machte im Internet die Meldung die Runde, eine Herde Kühe sei in Texas an Cyanid im Gras gestorben. Die Erklärung: Das genetisch manipulierte Gras sei spontan mutiert.

Es begann mit einem Hoax [1]. Am 23. Juni 2012 meldet die US-amerikanische Nachrichtenagentur CBS News Skandalöses aus der Kleinstadt Elgin im Bundesstaat Texas: Genmanipuliertes Grünfutter habe dort wenige Wochen zuvor eine ganze Rinderherde um die Ecke gebracht. [2]

Nur einen Tag später fand sich die Meldung – diesmal mit Einzelheiten – auch auf deutschen Internetseiten: Ein texanischer Farmer namens Jerry Abel habe seine Jungrinder auf eine Weide mit einer genmanipulierten Grassorte namens „Tifton-85“ umgetrieben. Wenige Stunden später waren 15 der 18 Tiere tot. Das Gras, so vermute man, sei plötzlich mutiert und habe Cyanid freigesetzt. Cyanid ist Blausäure – das heimtückische Gift also, mit dem schon zu Agatha Christies Zeiten munter drauflos gemordet wurde.

„Genmanipuliertes Gras soll mutiert sein. Nur gibt es kein genmanipuliertes Gras“

Anfang Juli 2012 verwies Google bei den Suchworten „Tifton-85 + Cyanid“ bereits auf mehrere tausend Webinhalte, die alle in heller Aufregung giftige Genpflanzen und die skrupellose Agrarindustrie anprangerten. Am 12. Juli 2012 schließlich nahm sich der Essener Naturproduktevertreiber Natura Vitalis (unter anderem spezialisiert auf Jungbrunnen- und Fettverbrennungsmittelchen, Industrieverschwörungstheorien und Impfgegnerargumente) auf seiner Internetseite des Themas an und verkündete unter der bedeutungsschweren Überschrift „Genmanipuliertes Gras ist tödlich“ [3]:

„Wie der US-Nachrichtensender CBS berichtet, ist ein mysteriöses Massensterben von Rindern in Texas aufgeklärt. Dort wurde die genmanipulierte Grassorte Tifton-85 ausgebracht. […] in dem Gras ist nach der gentechnischen Veränderung und einer Mutation auch das gefährliche Zyanid (Blausäure) enthalten. Die Tatsache, dass es sich bei dem Todesgras um ein Produkt der Gen-Industrie handelt, sollte die Alarmglocken läuten lassen.“

Zu diesem Zeitpunkt war die Ursprungsmeldung bereits drei Wochen alt und CBS hatte längst verschämt zurückgerudert: Nein, es habe sich wohl doch nicht um ein genmanipuliertes Gras gehandelt – schon deshalb, weil es bislang so etwas gar nicht gebe. Die Autorin der Meldung habe wohl den Begriff „Kreuzzüchtung“ in den falschen Hals gekriegt. Auch habe es keine Mutation gegeben. Dabei hätte man gerne gewusst, wie eine 32 Hektar große Wiese mit Millionen von Einzelpflanzen spontan mutiert. Vielmehr sei das – bereits seit Jahrzehnten angebaute – Futtergras möglicherweise durch Temperatur- oder Trockenstress zur Cyanid-Gasfreisetzung gebracht worden. Das ist eine Fähigkeit, die viele Pflanzen in Notsituationen als Abwehr gegen Fressfeinde einsetzen. Mit anderen Worten handelt es sich um ein Beispiel für die natürlichen Abwehrkräfte von naturbelassenen Pflanzen. Allerdings könne bisher nicht geklärt werden, ob die Grassorte überhaupt etwas mit dem Tod der Färsen zu tun habe. Weitere Untersuchungen würden laufen.

Noch heute – fast drei Jahre, nachdem die Giftgasmeldung die Runde machte – finden sich bei Google zahlreiche Einträge zum „genmanipulierten Gras“ und seinen Kuhkillereigenschaften. Das Internet vergisst nicht. Und verbessert sich selten. Noch immer empört sich die Netzgemeinde über genmanipuliertes Futter und beruft sich dabei auf das texanische Bastardgras – eine schnöde altmodische Pflanzenkreuzung, die nie ein Gentechniklabor von innen gesehen hat.

Die Meldung von Natura Vitalis steht auf deren Facebook-Seite selbstredend noch immer unverändert online.

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