17.10.2018
Meine Religion ist die Liebe
Von Matthias Kraus
Virtue Signalling heißt, sich gegenseitig zu versichern, dass man auf der ‚richtigen‘ Seite steht. Dann macht auch widersprüchliches Handeln nichts mehr aus.
Ich gehöre ja zu den Guten. Da ist es mir ein Anliegen, anderen ein Leitstern zu sein, indem ich ab und zu zeige, was ich für richtig erachte, aber auch, wann ich Flagge zeigen muss. Zum Beispiel bei klaren Fällen von Faschismus, Frauen- oder Fremdenfeindlichkeit und fiesem Musikgeschmack. „Virtue Signalling“, die Zurschaustellung von Tugend und Moral zur Verbesserung der Stellung in der eigenen sozialen Gruppe, gehört zu den Pflichtübungen fortschrittlich Denkender. Meine peer group ist auch nicht faul und so entsteht ein enges Netz der gegenseitigen Bestärkung und der Zivilcourage.
Einladungen vom „Theater für Veränderung“ zur vierteljährlichen Jam-Session beginnen so: „Zuerst das Wichtigste: Wir dulden keine AfD-Wähler, Islamkritiker und Nazis!“ Ich persönlich bin froh, dass man wenigstens an diesem einen Abend vor solchem Pack sicher sein kann. Wobei, eigentlich ist jeder und jedem Eingeladenen klar, dass Pegida-Pöbel, Alt-Right-Bitches und Knobelbecher-Glatzen mit einem multikulturellen Musikabend sowieso nichts am Hut haben. Der Hinweis dient nicht zu deren Abschreckung, wozu auch; er soll vielmehr den eigenen Leuten zusichern, dass man moralisch nicht wankt und dass man die uns Aufrechten gebotene heilige Bürgerpflicht bei allem Sang und Klang nicht leichtsinnig vergisst. Virtue Signalling.
Kürzlich hat ein Facebook-Freund, Martin, der Bluesmusiker, gepostet, er möge Religionen nicht. Seine Religion sei die Liebe. Und ist das nicht wirklich eine schöne Idee? Eine tiefe Einsicht, die er für uns postet, in einem nachdenklichen Moment, vielleicht bei einem Glas Rotwein? Seine Form von Transzendenz sagt sich los vom blinden Nacheifern vorgegebener Dogmen und von unhistorischen Erlösungsmärchen. Nein, sein Glaube ist ganz rein, ganz einfach und ganz natürlich. Bei Lichte betrachtet kann man nur beipflichten: Letztlich ist Liebe die Quintessenz.
„Mit Virtue Signalling zeigen wir nicht nur an, wo wir stehen, wir sichern damit auch unseren Platz in der Gruppe ab.“
Das nächste Lebenszeichen meines Freundes erschien noch am gleichen Abend in der Timeline, eine kleine Videosequenz. Donald Trump steht vor seinem Wahlkampfbus herum und plaudert mit einer Tussi. Urplötzlich schnellt ein massiger Footballtyp von rechts ins Bild und lässt ihn mit einem brutalen Bodycheck hart zu Boden gehen. Trumps Hinterkopf knallt mit aller Wucht an die Karosserie des Fahrzeugs, der alte Mann fällt in sich zusammen und bleibt dann bewegungslos liegen. Ende der Sequenz, dann wieder von vorne. Ich vermute, das ist Fake, aber es sieht absolut authentisch aus, sicher bin ich mir nicht. Martin vergab dafür jedenfalls ein dickes Like.
Wer sich jetzt fragt, wie diese verstörende Gewaltfantasie zum vorigen Liebespostulat passt, hat Virtue Signalling noch nicht ganz verstanden. Beide Meldungen erfüllen den gleichen Zweck, nämlich den Beifall der Gemeinde für die richtigen Einstellungen. Weltanschauliche, aber auch kulturelle, etwa zur Frage, welche Formen von Musik, Film, Literatur und Kunst akzeptabel sind und welche nicht. (Spoiler: Avantgarde, Gesellschaftskritik, ironische Brechungen, bei denen das Lachen im Halse stecken bleibt, Bürgerschreck-Aufführungen sowie authentisch-Volkstümliches nicht-westlicher Kulturkreise gehen immer). Als Martin zum Ableben einer Hitparaden-Nervensäge der Welt via Facebook mitteilte: „Dieter-Thomas Heck ist tot! Freu!“, beschwerte sich niemand über hate speech. Es war ja wohl offensichtlich, dass er das irgendwie augenzwinkernd meint. Für Martin ist die Welt jetzt ein besserer Ort mit etwas weniger Vielfalt von der falschen Sorte, will er uns sagen.
Warum signalisieren besonders wir Progressiven so fromm und eifrig diese Empörungs-, Tugend- und Geschmacksbeweise? Mit Virtue Signalling zeigen wir nicht nur an, wo wir stehen, wir sichern damit auch unseren Platz in der Gruppe ab. Vormals obligatorische Werte, hergeleitet aus Religion, Herkunft, Klasse oder Knigge, haben Zugehörigkeit und Denkrichtung vorgegeben, doch die werden gerade entsorgt. Zurück bleibt ein sozial atomisiertes Niemandsland. Wer möchte da schon ziellos und mutterseelenalleine durchmäandern? Also schaffen wir neue, kollektiv auszuhandelnde Werte. Ihre unverbriefte und dezentrale Natur gleichen wir aus mit freiwilliger, aber strenger Überwachung durch die Community. Nonstop wird öffentlich ausgehandelt, was zum „Wir“ gehören darf und was auf gar keinen Fall.
Es ist deshalb kein Paradox, jakobinisch-wütende Abscheu gegen Reaktionäre und andere unterbelichtete Loser drastisch zur Schau zu stellen und im gleichen Atemzug allumfassende Liebe zu Mensch, Tier und Natur ungefragt zu verkünden. Was das Kritisieren von ökonomischen und ökologischen Schieflagen betrifft: der gute Wille genügt. Er ist mit wenigen Klicks in der Welt, ändert in seiner Tatenlosigkeit nur nichts an den bemängelten Zuständen. Da die Realität sich weigert, sich von selbst zu verbessern, bleibt uns nur die verbale Nachrüstung. So beginnt der Wettstreit um den empörtesten Aufschrei und die umfassendste Liebesbekundung.
„Liebe für die ganze Menschheit, aber null Toleranz für Intolerante oder Spießer.“
Virtue Signalling kostet dich nichts. Mit rein rituellen Gesten und Appellen riskierst du nicht die eigene Haut, machst du dir nicht die Finger schmutzig. Wie immer, wenn es etwas kostenlos gibt, ist der Andrang groß. Möchtest du in diesem Poetry Slam der Tugend als Solostimme positiv auffallen, lege einfach eine verbale oder schriftliche Schippe obendrauf. Und die Schere zwischen Reden und Handeln öffnet sich noch ein bisschen weiter.
- Beweisstück A: Klimafreundliches Verhalten? (Das Klima kann nur global gerettet werden. Eigenes Verhalten spielt da keine Rolle.)
- Beweisstück B: Flugverkehr? (Grünenwähler fliegen am häufigsten. Sie finden es aber nicht so toll, dass sich das heute viele leisten können, deshalb: teurer machen!)
- Beweisstück C: Hilfe für Bedürftige? (Egal, ob Geld, ehrenamtliche Arbeit oder Blutspende — trotz höherem Durchschnittseinkommen wird links von der Mitte am wenigsten geholfen, weil: Umverteilung ist gerecht, Wohltätigkeit ist erniedrigend.)
Wie einfach haben es dagegen doch die Konservativen! Sie müssen ihre Übereinstimmung mit der peer group nicht öffentlich nachweisen. Im Großen und Ganzen ist klar, wo man steht, beruft man sich doch auf Vorhandenes wie verbindliche Normen und schützenswerte Leitkulturen. Tun Konservative ihre Weltsicht kund, was ohne Not selten passiert, können sie es sich deshalb leisten, auf moralische Spitzenakrobatik zu verzichten.
Milieus definieren sich über gemeinsame Werte. Und so annonciert sich auch Martin als einer von uns, den nachweislich Guten. Sein öffentliches Credo: Liebe für die ganze Menschheit, aber null Toleranz für Intolerante oder Spießer. Wer könnte dem nicht zustimmen? Daumen hoch!