16.07.2018

Gitarren und Groupthink

Von Matthias Kraus

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Foto: piro4d via Pixabay / CC0

Menschen sind soziale Wesen, die sich in Gruppen organisieren. Sie neigen zu konformen Meinungen und Mitläufertum, ob bei Atomkraft oder Massenerschießungen.

Milieus sind geschlossene Gesellschaften. Wenn wir erst einmal dazugehören, übernehmen wir einen Standpunkt nach dem anderen. Solidarisch entschlossen verteidigen wir von nun an den Gruppenkonsens zu den richtigen und den falschen Fußballclubs, den guten und den schlechten TV-Serien oder zum Für und Wider der Gentechnik — selbst, wenn wir von all dem keinen Schimmer haben. Wir sind nun Botschafter unserer Gruppe. Es ist genau wie mit Gitarren…

Letzte Woche habe ich eine Mosrite Mark I in metallicblau ersteigert. Eine E-Gitarre muss mir vor allem als visuelles Statement gefallen. Fender Stratocasters oder Gibson Les Pauls hat jeder schon gesehen. Zu diesen Normalo-Klampfen kommen Unterkategorien und Exoten wie meine Mosrite. Sie stammt ästhetisch aus den 1960er Jahren, ist irrationaler und manierierter als der Mainstream. Nirvana, die Venturas oder die White Stripes spielen sowas. Surf-Punk-Bands wiederum spielen Danelectros. Für Rockabilly sollte es schon eine Gretsch sein. Post-Rocker nutzen gerne Retro-Kaufhausgitarren von Silverstone oder Airline. Für Laien klingen alle einfach nach E-Gitarre. Auch den Formen wohnt nichts inne, was beispielsweise eine spezifische Surf-Punk-Qualität hätte; die Zuordnung ist im Grunde historischer Zufall.

Doch warum müssen es für die Surf-Punker ausgerechnet Danelectros sein, während der Blues-Rocker zur Les Paul greift? Wegen der berühmten Vorbilder? Ich glaube, es geht es nicht darum, so zu sein wie beispielsweise Nirvanas Kurt Cobain. Der gute Kurt ist vielmehr der Kristallisationspunkt einer aus welchen Gründen auch immer attraktiven Szene. Meine Indie-Gitarre hat die Funktion einer Aufnahmegebühr in diesen Club, je kostspieliger, authentischer, seltener, desto glaubwürdiger beweist sie meinen Wunsch, dazu zu gehören. Spiele ich das Brett wie Cobain unbequem auf Hüfthöhe, kommt zum materiellen Statement die Attitüde dazu. Außenstehende erkennen sie leicht wieder und das ist der Zweck: Nach innen und nach außen meine Gruppenzugehörigkeit zu demonstrieren — mit im Grunde austauschbaren Attributen als Signal. Dabei ist es egal, ob es um Musik geht oder zum Beispiel um Politik. Das Resultat: Konformität. Groupthink.

„Menschen fügen sich ganz selbstverständlich in einen fast beliebigen Clan ein.“

Du stehst links? Monsanto ist der Feind! Israelis sind Besatzer! Internationale Handelsabkommen sind Knebelverträge! Amerikaner sind ungebildete, zur Fettsucht neigende Weltpolizisten! Die Gebräuche in islamischen Ländern haben wir nicht zu kritisieren, kehren wir besser vor unserer eigenen Tür!

Du stehst rechts? Der menschliche Anteil am Klimawandel wird maßlos übertrieben! Der Staat sollte härter durchgreifen! Hate-Speech-Verbote sind Zensur! Die Burka muss weg! Putin ist gar nicht so verkehrt!

Sind das wirklich charakteristisch linke beziehungsweise rechte Standpunkte, abgeleitet von Werten wie soziale Gerechtigkeit beziehungsweise individuelle Freiheit? Oft genug könnte man sie genauso gut auch umgekehrt zuordnen. Zum Beispiel, dass internationale Handelsabkommen unsere nationalen Interessen aushebeln, was auf einmal ein rechtes Argument wäre oder dass der obligatorische Hidschāb ein patriarchalisches Machtinstrument ist, nun ein linker Standpunkt. Doch nein, die jeweilige Gruppe gibt vor, dass es nur andersherum zu bewerten ist. Es gibt auch national abgegrenzte Denkschulen. In Deutschland hat die Umwelt einen höheren Stellenwert als in Großbritannien, beim Tierschutz ist es umgekehrt — warum auch immer. Bin ich also unter anderem deshalb Umwelt- bzw. Tierschützer, weil ich Deutscher bzw. Brite bin?

„Auch in unserer vergleichsweise aufgeklärten Zeit sind selbst gebildete, aus der Reihe tanzende Meinungen selten anzutreffen.“

Menschen sind soziale Tiere. Wie alle Primaten fügen wir uns ganz selbstverständlich in einen fast beliebigen Clan ein und rivalisieren mit der Nachbarsippe. Wer „die anderen“ sind, hängt vom jeweiligen „Wir“ ab. Hören wir Indie, sind es die Hard-Rocker. Wohnen wir in Frankfurt, sind es die Offenbacher. Büffeln wir in der Klasse 3b, dann ist es die doofe 3c. Auch politische Debatten werden schnell zu Stellvertreterkriegen rivalisierender Stämme. Die jeweils anderen haben prinzipiell und immer unrecht. Mit stereotypen Argumenten geht man aufeinander los, jeder Pfeil im Köcher ist gerade recht. Amerika! Russland! Israel! Palästina! Europa! Klima! Atom! Umwelt! Wirtschaft! Freiheit! Gerechtigkeit! Fake News! Bildung! Burka! Binnen-I! Ist B für x, muss A automatisch dagegen sein.

Wie stark das Bedürfnis nach Konformität in der eigenen Gruppe ausgeprägt ist, illustriert ein schlimmes Ereignis vom 13. Juli 1942, das Gerd Gigerenzer in seinem Buch „Bauchentscheidungen“ nacherzählt: Das deutsche Reserve-Polizeibatallion 101 war in Polen stationiert. 500 Familienväter, zu alt, um noch zur Wehrmacht eingezogen zu werden, alle bereits vor Hitlers Aufstieg sozialisiert, aus dem nicht sonderlich braunen Hamburg und aus einer eher dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstehenden sozialen Schicht stammend, erhielten im Morgengrauen den Befehl, alle jüdischen Frauen, Kinder und Alte eines Dorfes aufzuspüren und auf der Stelle zu erschießen. Major Trapp, der Kommandant, machte den Hilfspolizisten ein ungewöhnliches Angebot: Wer sich der Aufgabe nicht gewachsen fühle, dürfe beiseitetreten. Nur zwölf Männer nahmen sein Angebot an, die anderen 97,5 Prozent führten den Befehl aus. Warum nutzten so wenige diese perfekte Möglichkeit, sich dem Massenmord zu entziehen? War es Autoritätsgläubigkeit? Antisemitismus? Die kurze Bedenkzeit? Angst vor militärischen Konsequenzen? Der Historiker Christopher Browning ist in dem Buch „Ganz normale Männer“ der Frage nachgegangen und hat mit vielen der Täter gesprochen. Browning zufolge war es die Identifikation der Männer mit ihren Kameraden. „In praktisch jedem sozialen Kollektiv übt die Gruppe, der eine Person angehört, gewaltigen Druck auf deren Verhalten aus und legt moralische Wertmaßstäbe fest.“

Auch in unserer vergleichsweise ungefährlichen und aufgeklärten Zeit sind selbst gebildete, aus der Reihe tanzende Meinungen selten anzutreffen. Zum Beispiel zur Kernkraft. Warum sind sich hierzu alle Progressiven (und in Deutschland nicht nur die) so erstaunlich einig? Kennen sie sich auf dem Gebiet besonders gut aus? Ist die einzig richtige Antwort selbstevident und andere Länder wie zum Beispiel Frankreich ignorieren sie einfach oder begreifen sie nicht? Warum führen nicht zumindest ein paar versprengte Rebellen zum Beispiel an, dass eine neue Generation von Flüssigsalzreaktoren die dritte Welt mit dezentraler, billiger Energie ohne CO2 aus der Armut holen könnte? Zusätzlich könnten Stück für Stück Plutoniumbestände in unproblematischere Spaltprodukte umgewandelt und die Endlagerzeit der wesentlich geringeren Restmengen von hunderttausenden auf dreihundert Jahre verkürzt werden. Das klingt fast zu gut, um wahr sein zu können.

„Mitläufertum ist für soziale Tiere der Normalzustand.“

Aber selbst, wenn diese Behauptungen nur in Teilen zutreffen und alle möglichen Hürden überwunden werden müssten – wäre das dann nicht ein egalitäres, humanes, ökologisches Ziel, für das es sich lohnen würde, Machbarkeitsstudien zu beauftragen, die vielen noch offenen Fragen versuchen, gemeinsam zu lösen und im Zweifel dafür politisch zu kämpfen? Natürlich. Ist aber undenkbar, denn Nuklearenergie ist in Deutschland ein linkes Tabu. Schon darüber laut nachzudenken, wäre nicht ratsam. Wer wollte schon den Zorn der eigenen Gruppe auf sich ziehen?

Leider sind wir so katzbuckelnd gestrickt. Mitläufertum ist für soziale Tiere der Normalzustand. Akzeptiertes Mitglied einer Gruppe zu sein, war bis vor wenigen Generationen eine Frage von Leben und Tod und bis heute trauen sich nur Abweichlertypen, auf den Gruppenkonsens zu pfeifen. Deshalb werden beliebige Fragen auf den jeweiligen politischen Seiten so erstaunlich konform beantwortet. Deshalb ist es um die Wissenschaft, die doch ihrem Wesen nach skeptisch sein sollte, kaum besser bestellt, sobald der Forschungsgegenstand politisch relevant wird: Infrage stellen der vorherrschenden Meinung geriet in diesem Fall schon immer schnell in den Verdacht der Ketzerei. Max Planck beschrieb das so: „Die Wahrheit triumphiert nie, ihre Gegner sterben nur aus.“

Jeder Werbespot, jeder Oscar-gekrönte Film, jeder Popsong appelliert an das Individuum in uns — „Be yourself!“. Mein Freund, der Sänger Sven, sagt, zu Beerdigungen bestellten sich die Hinterbliebenen mit Abstand am häufigsten „My Way“ von Frank Sinatra. In unserer Selbstwahrnehmung sind wir eigenständige Personen, die, unbeeindruckt vom Mainstream, Dinge auf ihre ureigene Weise tun und wir hätten gerne, dass die anderen uns auch so sehen. Aber im Zweifel geht die Gruppe immer vor. Nur Revoluzzer kommen auf die Idee, in der Surf-Punk-Band eine Les Paul zu spielen.

Dieser Text erscheint als Teil der Reihe „Losing my religion” von Matthias Kraus.

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