21.04.2017
Kann sich die Demokratie zur Vielfalt bekennen?
Essay von Kenan Malik
Vielfalt sollte man nicht fürchten, noch im Sinne der Multi-Kulti-Ideologie institutionalisieren. Sie ist für die Demokratie unerlässlich, wenn sie als Grundlage offener, kritischer Debatten dient.
Wenn es zwei Themen gibt, die den gegenwärtigen politischen Diskurs bestimmen, dann sind es Vielfalt und Demokratie. Egal ob es nun um die Flüchtlingskrise, den radikalen Islam oder den Multikulturalismus geht, Befürchtungen angesichts der Auswirkungen der Vielfalt sind in den westlichen Gesellschaften tief verankert. Derartige Befürchtungen waren eine der Hauptursachen für das Erstarken populistischer Parteien und den Wahlerfolg von Donald Trump im letzten Jahr und vermutlich auch von Marine Le Pen in diesem Jahr. Dies ließ und lässt viele um die Demokratie selbst fürchten, von der sie glauben, dass sie durch den Erfolg des Populismus gefährdet sei. Andere hat es dazu verleitet, anzunehmen dass die westlichen Gesellschaften zu demokratisch geworden seien und dem demokratischen Prozess Grenzen gesetzt werden müssten, um ungewollte Ansichten und Politiker fernzuhalten.
Um die Punkte dieser Diskussion auseinanderzunehmen, möchte ich drei Dinge tun: Erstens will ich betrachten, was wir unter Vielfalt verstehen und die Vorstellung infrage stellen, dass vielfältige Gesellschaften etwas Neues sind; zweitens will ich zeigen, wie politische Veränderungen in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen haben, Demokratie und Vielfalt zu schwächen, und drittens möchte ich untersuchen, wie wir Demokratie und Vielfalt in Beziehung zueinander setzten sollten.
Der Mythos vom homogenen Europa
Es ist eine der sich am hartnäckigsten haltenden Vorstellungen, dass die Gesellschaften Europas ursprünglich homogen gewesen seien und erst durch Immigration vielfältig geworden sind. Genau wie jene, die der Einwanderung ablehnend gegenüber stehen, so akzeptieren auch die Befürworter der Vielfalt diese Behauptung. Diese trifft jedoch nur zu, wenn man eine äußerst selektive Definition von „Vielfalt“ zugrunde legt.
„Wenn es zwei Themen gibt, die den gegenwärtigen politischen Diskurs bestimmen, dann sind es Vielfalt und Demokratie.“
Wenn wir von europäischen Gesellschaften als historisch homogen sprechen, meinen wir, dass sie ethnisch, vielleicht auch kulturell, homogen waren. Aber die Welt ist auf vielerlei Weise von Unterschieden geprägt, nicht nur durch Ethnien, sondern auch durch Klassen, Geschlechter, Religionen, Politik und sehr viel mehr.
Viele machen sich über den Zusammenstoß des Islams mit dem Westen sorgen und befürchten, dass die islamischen Werte nicht mit denen des Westens vereinbar sind. Wir gehen davon aus, dass derartige Konflikte und Befürchtungen neu und das Ergebnis eines Europas sind, das durch Masseneinwanderung vielfältig geworden ist. Aber religiöse Konflikte waren im alten, angeblich homogenen Europa die Norm. Und auch wenn es jetzt schwer vorstellbar erscheint, so wurden Katholiken bis vor nicht allzu langer Zeit von vielen so angesehen wie heute Muslime, als fünfte Kolonne deren Loyalität, wie es der englische Philosoph John Locke ausdrückte, „einem fremden Fürsten“ gehörte: dem Papst, dessen Werte mit denen einer liberalen Demokratie unvereinbar waren und der eine Bedrohung für die Sicherheit und die Stabilität der Nation darstellte.
Juden wurden noch mehr als eine Bedrohung für die europäische Identität, Werte und Lebensart angesehen und zwar derart, dass sie Opfer des weltweit größten Völkermordes wurden. Aber die Juden als „Andersartige“ zu behandeln, war nicht auf Deutschland beschränkt. Eine solche Ausgrenzung gab es in den meisten europäischen Ländern, von der Dreyfus Affäre in Frankreich über das erste Einwanderungsgesetz in Großbritannien, dem Alien Act von 1905, der vor allem konzipiert wurde, um die Einwanderung von europäischen Juden in das Land zu verhindern.
„Die Welt ist auf vielerlei Weise von Unterschieden geprägt, nicht nur durch Ethnien, sondern auch durch Klassen, Geschlechter, Religionen, Politik und sehr viel mehr.“
Europa wurde aber nicht nur von religiösen und kulturellen, sondern auch von politischen Konflikten zerrissen. Von dem englischen Bürgerkrieg über den spanischen Bürgerkrieg, den deutschen Bauernkriegen bis hin zur Pariser Kommune waren die Gesellschaften Europas zutiefst gespalten. Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Konservativen, Liberalen und Sozialisten, Monarchisten und Liberalen zeichneten die europäischen Gesellschaften aus. Natürlich sehen wir diese Konflikte nicht als Ausprägungen einer vielfältigen Gesellschaft. Warum nicht? Nur deshalb, weil wir eine beschränkte Vorstellung davon haben, was Vielfalt bedeutet.
Aber selbst mit dieser beschränkten Vorstellung haben wir ein falsches geschichtliches Bild von den europäischen Gesellschaften. Wir schauen auf die europäischen Gesellschaften zurück und stellen uns vor, dass sie ethnisch homogen gewesen wären. Aber so haben zeitgenössische Europäer ihre Gesellschaften nicht gesehen. Im 19. Jahrhundert und bis weit bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden die Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung von vielen als rassisch andersartig angesehen.
„Jede soziale Klasse“, schrieb der französische anti-egalitäre Adlige Arthur de Gobineau in seinem „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“, „stellt eine rassische Unterart dar.“ Der französische Autor Augustin Thierry dachte, es gäbe nur zwei Klassen, aber er bestand wie Gobineau darauf, dass „Wir glauben, eine Nation zu sein, aber wir sind eigentlich zwei Nationen in einem Land“, jede davon eine klar abgegrenzte Rasse mit „ewig gegensätzlichem Charakter.“ Der christliche Sozialist Phillipe Buchez fragte sich 1857 bei einem Vortrag vor der Medizinisch-Psychologischen Gesellschaft in Paris, wie es sein könne, dass „in einem Volk wie dem unseren, sich Rassen bilden können, nicht nur eine sondern mehrere, so elendig, minderwertig und entstellt, dass man sie tiefer einstufen möge als die minderwertigsten Rassen der Wilden, da ihre Minderwertigkeit manchmal unauslöschlich ist.“ Die Rassen, von denen er sprach, waren natürlich keine Afrikaner oder Asiaten, sondern die Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung.
„Religiöse Konflikte waren im alten, angeblich homogenen Europa die Norm.“
Im Oktober 1865 wurde ein Bauernaufstand in Jamaika vom Gouverneur der Insel, Edward John Eyre, gewaltsam niedergeschlagen. Sein Vorgehen löste in Großbritannien eine heftige Debatte aus. Die, die seine Härte verteidigten, taten dies nicht mit dem Argument, dass die Jamaikaner schwarz seien, sondern dass sie sich nicht von den britischen Arbeitern unterscheiden würden. „Der Neger in Jamaika“, schrieb Edwin Hood, „ähnelt dem Straßenhändler in Whitechapel; er ist mit großer Wahrscheinlichkeit ein Wilder mit dem Verstand eines Kindes.“ Als eine Gruppe weißer Arbeiter gegen die Methoden Eyres protestierte, beschrieb der Daily Telegraph sie bezeichnenderweise als „Neger, welche die Vorlieben ihres Stammes für jeglichen Aufruhr ohne Risiko teilen.“
Im Saturday Review, einem renommierten liberalen Magazin dieser Epoche, wurde in einem Artikel über das Leben der Arbeiterklasse im Osten Londons dargelegt, dass „die Armen eine Rasse“ seien „von der wir nichts wissen, deren Leben einen ganz anderen Charakter als das Unsere hat und mit denen wir keine Berührungspunkte haben.“ „Unterschiede und Grenzen wie jene zwischen den Klassen Englands“, so die Schlussfolgerung des Artikels, „die immer fortbestehen, von der Wiege bis zum Grabe und die so etwas wie Kontakt und Freundschaft unterbinden, lassen sich sehr gut mit der Trennung zwischen Sklaven und Weißen vergleichen.“
Identität verdrängt Ideologie
Was heute anders ist, ist nicht dass europäische Gesellschaften heutzutage vielfältiger sind, sondern dass wir eine andere, deutlich engere Vorstellung von Vielfalt haben. Die Bedeutung der Klassenzugehörigkeit in der europäischen Politik ist ausgehöhlt worden, und zwar als politische Kategorie und als Kennzeichen sozialer Identität. Gleichzeitig hat „Kultur“ zunehmend als Medium an Bedeutung gewonnen, mit dem Menschen soziale Unterschiede wahrnehmen.
„Bis weit bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden die Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung von vielen als rassisch andersartig angesehen.“
Die Verlagerung von „Klasse“ hin zu „Kultur“ ist Teil größerer gesellschaftlicher Veränderungen. Die alte Unterscheidung zwischen „links“ und „rechts“ ist weniger wichtig geworden. Die Arbeiterklasse hat viel von ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht verloren. Die Schwächung von Arbeiterorganisationen, der Niedergang kollektivistischer Ideologien, die Expansion des Marktes in jeden Bereich des sozialen Lebens, die Erosion der Zivilgesellschaft, die Schwächung von Institutionen – von Gewerkschaften bis hin zur Kirche –, die traditionell dazu beitrugen, Individuen zu sozialisieren, das alles hat eine sozial fragmentiertere Gesellschaft erschaffen.
Teilweise aufgrund dieser sozialen Fragmentierung begannen die Menschen, ihre sozialen Beziehungen anders zu sehen. Gesellschaftliche Solidarität wurde zunehmend nicht mehr in Hinsicht auf die Politik, sondern eher über die ethnische Zugehörigkeit, die Kultur oder die Religion definiert. Die Frage, die sich die Menschen stellen, ist nicht so sehr „In was für einer Gesellschaft möchte ich leben?“, sondern „Wer sind wir?“
Die zwei Fragen sind natürlich aufs engste miteinander verbunden und jedes Gefühl sozialer Identität muss eine Antwort auf beide finden. Da aber das politische Leben verengt und die Mechanismen der Politikgestaltung ausgehöhlt worden sind, wird die Antwort auf die Frage „In was für einer Gesellschaft möchte ich leben?“ nicht mehr so sehr von den Werten oder Institutionen, die Menschen entwickeln wollen, bestimmt, sondern von der Art Mensch, der sie zu sein glauben. Die Antwort auf die Frage „Wer sind wir?“ wird nun weniger von der Vision der Gesellschaft bestimmt, die sie schaffen wollen, sondern von der Geschichte und Tradition, der sie vermeintlich angehören. Mit anderen Worten hat die Politik der Ideologien der Identitätspolitik das Feld geräumt.
„Die Bedeutung der Klassenzugehörigkeit in der europäischen Politik ist ausgehöhlt worden.“
Die Art und Weise, wie wir die Welt betrachten, wird nun weniger davon bestimmt, „liberal“ oder „konservativ“ oder „sozialistisch“ zu sein, sondern „muslimisch“, „weiß“, „englisch“ oder „europäisch.“ Genau vor diesem Hintergrund betrachten Europäer ihre Länder mittlerweile als besonders oder gar unerträglich vielfältig.
Die Einengung der Politik und die Fragmentierung der Gesellschaft hat auch die Sicht auf die Demokratie verändert. In der Demokratie geht es darum, es einem Kollektiv zu ermöglichen, Entscheidungen zu treffen, zu denen es mehr als einen Standpunkt gibt. Demokratie setzt, anders gesagt die Vielfalt von Sichtweisen voraus. Wenn alle das gleiche denken würden, gäbe es für den demokratischen Prozess gar keine Notwendigkeit.
Dies ist der Grund, warum jene falsch liegen, die im Aufstieg des Populismus ein Versagen der Demokratie sehen. Die Demokratie erfordert nicht, dass jedes Mal das „richtige“ Ergebnis erzielt wird. Tatsächlich würde es nicht den Erfolg, sondern das Versagen der Demokratie, bedeuten, wenn stets das „Richtige“ dabei herauskäme. Der ganze Sinn des demokratischen Prozesses liegt darin, dass er unberechenbar ist.
„Die Frage, die sich die Menschen stellen, ist nicht so sehr ‚In was für einer Gesellschaft möchte ich leben?‘ sondern ‚Wer sind wir?‘“
Der Grund, warum wir die Demokratie brauchen, liegt darin, dass oft heftig umstritten ist, was die „richtige“ Politik oder wer nun der „richtige“ Kandidat ist. Donald Trump und Marine Le Pen mögen reaktionär sein und ihre Politik mag dazu beitragen, die liberale Demokratie zu schwächen, aber ihr Erfolg bedeutet nicht, dass die Demokratie ein Problem hat, sondern die Politik.
Aber während die Demokratie vielfältige Sichtweisen benötigt und sich zwangsläufig mit ihnen befasst, ist die Art und Weise, wie Meinungsverschiedenheiten ausgedrückt werden, doch wichtig. Die Wandel von der Politik der Ideologien hin zur Identitätspolitik und von einer weitgehend politischen zu einer vornehmlich kulturellen Sichtweise auf soziale Bindungen haben das Wesen der Demokratie verändert.
Politische Auseinandersetzungen spalten die Gesellschaft entlang ideologischer Gräben, aber sie führen sie trotz kultureller und ethnischer Unterschiede auch zusammen. Kulturelle und ethnische Auseinandersetzungen hingegen führen zwangsläufig zur Spaltung. Politische Meinungsverschiedenheiten lassen sich oft aushandeln, kulturelle und ethnische hingegen häufig nicht. In politischen Auseinandersetzungen ist es nicht von Belang, wer jemand ist, sondern woran er glaubt, bei kulturellen und ethnischen Auseinandersetzungen ist es andersherum. Politische Konflikte sind häufig nützlich, weil sie soziale Probleme auf eine Weise thematisieren, die die Frage aufwirft: „Wie können wir die Gesellschaft verändern, um dieses Problem zu lösen?“ Wir mögen mit der Antwort darauf nicht einverstanden sein, aber die Debatte an sich ist sinnvoll. Anders gesagt sind politische Auseinandersetzungen die Art von Konflikten, die für einen sozialen Wandel vonnöten sind.
„Politische Meinungsverschiedenheiten lassen sich oft aushandeln, kulturelle und ethnische hingegen häufig nicht.“
Bei kulturellen und ethnischen Konflikten geht es weniger darum, die Gesellschaft zu verändern, als darum, gewisse Gruppen oder Identitäten zu unterstützen oder zu verteidigen, wobei oft jene ausgegrenzt werden, die anderen Gruppierungen angehören oder eine andere Identität haben.
Minderheiten, die in der Vergangenheit um Gleichberechtigung und Gleichbehandlung gekämpft haben, verlangen nun die Würdigung ihrer spezifischen Identität, öffentliche Anerkennung ihrer kulturellen Eigenheiten und Toleranz gegenüber ihren kulturellen und religiösen Überzeugungen. Die Grundbedeutung der Gleichberechtigung hat sich verändert. Früher bedeutete es, das Recht zu haben, trotz ethnischer, kultureller oder religiöser Unterschiede gleichbehandelt zu werden. Heute bezeichnet man damit das Recht aufgrund dieser Unterschiede anders behandelt zu werden.
Die öffentliche Minderheitenpolitik hat in vielen Ländern nur dazu beigetragen, diese Entwicklung zu verstärken. Politiker und politische Entscheidungsträger haben Minderheiten oft so behandelt, als sei jede von ihnen eine homogene, einheitliche Gruppe, die aus Menschen besteht, die alle die gleiche Meinung haben und sich vor allem über eine bestimmte Sichtweise auf Kultur und Religion definieren. Natürlich ist keine Gemeinschaft wirklich so. Wie die Gesellschaft selbst ist auch jede Gemeinschaft zutiefst gespalten. Aber anstatt sich gerade bei muslimischen Gemeinschaften an Individuen – also an deutsche oder britische Bürger – zu wenden, wurden sie vom Staat oft nur als Mitglieder dieser Gruppen angesehen.
„Minderheiten, die in der Vergangenheit um Gleichberechtigung und Gleichbehandlung gekämpft haben, verlangen nun die Würdigung ihrer spezifischen Identität.“
Die Behörden wenden sich an diese Gemeinschaften meistens über sogenannte Gemeindeführer. Diese verfügen oft über kein demokratisches oder sonstiges Mandat. Ihre Machtstellung gründet vornehmlich auf ihrer Beziehung zum Staat – ein zutiefst undemokratischer Vorgang. Ein Vorgang, bei dem die Behörden im Namen der Vielfalt die eigentliche Vielfalt innerhalb der Minderheiten ignorieren. Die Art und Weise, wie viele europäische Länder mit Vielfalt umgehen, führt dazu, dass Vielfalt nicht zu einem Bekenntnis zur Demokratie führt, sondern diese behindert.
Wenn Minderheiten ihre Identität und Merkmale stärker betonen, so tun dies auch viele Teile der Mehrheitsgesellschaft. Auch sie bestehen darauf, ihre Gemeinschaft, ihre Kultur und ihre Geschichte zu verteidigen. Der Grund dafür ist vor allem der politische Wandel der letzten Jahrzehnte. Die Abkehr sozialdemokratischer Parteien von ihrer alten Wählerschaft, der Machtverlust von Organisationen der Arbeiterbewegung und die Auflösung solidarischer Beziehungen haben dazu geführt, dass sich Teile der Arbeiterklasse politisch machtlos fühlen, während zur gleichen Zeit ihre Lebensumstände prekärer geworden sind, Arbeitsplätze verloren gingen, der öffentliche Dienst abgebaut wurde und Sparprogramme aufgelegt worden sind.
Aber anstatt neue Mechanismen zu schaffen, um es der Arbeiterklasse zu ermöglichen, ihrer ökonomischen Ausgrenzung und politischen Machtlosigkeit etwas entgegenzusetzen, begannen viele Liberale und Linke die Arbeiterklasse selbst als Teil des Problems zu sehen. Grade nach der Entscheidung für den Brexit und der Trump-Wahl haben viele die Arbeiterklasse als ungebildet und engstirnig abgeschrieben, als Teil der Geschichte, der nun zurückgelassen wird.
„Die Art und Weise, wie viele europäische Länder mit Vielfalt umgehen, führt dazu, das Vielfalt nicht zu einem Bekenntnis zur Demokratie führt, sondern diese behindert.“
David Rothkopf, Professor für Internationale Beziehungen, Vorstandsvorsitzender des Magazins Foreign Policy und stellvertretender Staatssekretär unter Bill Clinton, beschrieb die Unterstützer von Trump kürzlich als Menschen, die „sich von dem bedroht fühlen, was sie nicht verstehen, und das ist beinahe alles. Sie suchen nicht nach der Wahrheit, sie suchen in den Medien nach all dem, was sie sich besser fühlen lässt. Für viele von ihnen ist Wissen kein nützliches Werkzeug, sondern eine hinterlistige Hürde, die die Eliten erschaffen haben um die einfachen Leuten von der Macht fernzuhalten. Dasselbe gilt für Erfahrungen, Fähigkeiten und Sachverstand. Diese Dinge benötigen Zeit, Aufwand und Hingabe und stellen oft unser Weltbild in Frage. Die Wahrheit zu finden ist schwer, oberflächlich zu sein hingegen ist leicht.“ Derartige Geringschätzung wurde auch bei den Beschreibungen der „ignoranten“ Brexit-Wähler deutlich.
Da sie die herkömmlichen Mittel verloren haben, ihre Unzufriedenheit auszudrücken, und da sie sich von Linken und Liberalen verachtet sehen, haben sich viele Wähler der Arbeiterklasse der Sprache der Identitätspolitik zugewandt. Nicht der Identitätspolitik der Linken, sondern der der Rechten, der Politik des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit, die Identitätspolitik, die viele populistische Bewegungen antreibt.
In den Augen vieler war vor einem Jahrhundert die Arbeiterklasse ein Ausdruck inakzeptabler Vielfalt. Heute wird der Zusammenbruch der Kultur und der Solidarität der Arbeiterklasse von vielen als die Folge inakzeptabler Vielfalt gesehen.
„Anstatt es der Arbeiterklasse zu ermöglichen, ihrer politischen Machtlosigkeit etwas entgegenzusetzen, begannen viele Liberale und Linke die Arbeiterklasse selbst als Teil des Problems zu sehen.“
In den letzten Jahrzehnten wurde „Identitätspolitik“ mit der Linken und dem Kampf gegen Rassismus, Frauenunterdrückung und Homophobie verbunden. Aber ihre Wurzeln sind reaktionär und reichen weit zurück, bis hin zur Gegenaufklärung des späten 18. Jahrhunderts. Diese frühen Kritiker der Aufklärung lehnten die Vorstellung universaler menschlicher Werte ab. Sie betonten partikularistische Werte, die von bestimmten Gruppen verkörpert werden. Heute beanspruchen Populisten und die extreme Rechte dieses Erbe wieder für sich und passen die ursprüngliche reaktionäre Identitätspolitik an die Moderne an.
Die sogenannte „identitäre Bewegung“ – rechtsextreme Gruppierungen, die sich offen zur Identitätspolitik bekennen – ist nun in vielen europäischen Ländern präsent. Ihr Pendant auf der anderen Seite des Atlantiks ist die „Alt-Right“, bei der es, mit den Worten ihrer Leitfigur Richard Spencer, „nur um Identität geht.“ Der Wahlkampf von Trump war laut Spencer „das erste Mal in meinem Leben, dass Identitätspolitik für Weiße eine Rolle spielte.“
Demokratie braucht Vielfalt
Eines der Hauptargumente gegen Vielfalt ist das zuviel Vielfalt und Einwanderung das Gefühl für Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit untergraben. Es ist ein Argument, das am stärksten von rechtsextremen Einwanderungsgegnern vertreten wird, aber für das sich zunehmend auch Liberale aussprechen.
„Man könnte sich aber auch Gesellschaften vorstellen, in denen Menschen nicht aufgrund ihrer Identität zur Gemeinschaft zählen, sondern um ein politisches oder soziales Ziel voranzutreiben.“
Es ist eine Tatsache, dass Menschen soziale Wesen sind, deren Individualität nur durch die Beziehungen zum Vorschein kommt, die sie zueinander aufbauen. Es ist auch wahr, dass ein Gefühl gemeinsamer Verantwortung für den öffentlichen Raum für eine funktionsfähige Demokratie entscheidend ist. Ohne ein derartiges Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit wird die Demokratie leer. Wir haben nicht länger ein wirkliches Pflichtgefühl einander gegenüber, sondern existieren bloß als isolierte Individuen mit wenigen sozialen Bindungen.
Es gibt allerdings viele Wege, sich eine Gemeinschaft oder ein Kollektiv vorzustellen. Kritiker von Einwanderung und Vielfalt vertreten oft einen Zugehörigkeitsbegriff, den man „Burkesch“ nennen könnte, eine Sichtweise, die größtenteils auf Edmund Burke zurückgeht, der im 18. Jahrhundert den modernen Konservatismus begründete. Ein „Burkeaner“ glaubt, dass eine Gemeinschaft von ihrer Geschichte bestimmt und von ihrer Vergangenheit zusammengehalten wird. „Eine Vorstellung von Kontinuität, die sich sowohl räumlich als auch in Zahlen fortsetzt“, wie Burke selbst es ausdrückte. Werte werden nach Burkescher Denkweise durch Ort und Tradition, aber auch durch Vernunft und Notwendigkeit bestimmt.
Man könnte sich aber auch Gesellschaften vorstellen, in denen Menschen nicht aufgrund ihrer Identität zur Gemeinschaft zählen, sondern um ein politisches oder soziales Ziel voranzutreiben. Eine Gemeinschaft, die weniger von der Frage „Wer sind wir?“ bestimmt wird, als von der Frage „Was für eine Gesellschaft wollen wir eigentlich?“ Bewegungen, die für den sozialen Wandel stehen, die sich weniger über eine gefühlte gemeinsame Vergangenheit definieren (auch wenn viele sich auf historische Vorbilder beziehen), sondern eher über die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Und die somit Ausdruck einer Politik der Solidarität statt der Identität sind.
„Kaum einer geht von der Frage aus, wie es um das bürgerliche Engagement bestellt ist.“
Diese zwei Sichtweisen auf Gemeinschaften bestehen meist nebeneinander und stehen oft auch in einem Spannungsverhältnis zueinander. Die Vorstellung einer Gemeinschaft oder Nation beruht zwangsläufig auf einer Vergangenheit, die ihre Gegenwart bestimmt. Aber das Vorhandensein sozialer Bewegungen verändert die Bedeutung der Vergangenheit und auch, wie wir über nationale Identität denken.
Der politische und soziale Wandel der letzten Jahrzehnte hat es schwieriger gemacht, Gruppen im Kontext sozialer Veränderungen zu sehen, was viele dazu verleitet hat, die Vorstellungen Burkes hinsichtlich Nation und Gemeinschaft wieder anzunehmen. Diese Rückbesinnung ist für die Demokratie zerstörerisch. Sobald Werte mehr von der Geschichte, der Tradition und dem Ort bestimmt werden als von der Politik und der Vernunft, werden sie weniger angefochten und es wird einfacher, jene auszuschließen, denen nicht zugestanden wird, zu dieser Geschichte, dieser Tradition und diesem Ort zu gehören. Man muss sich nur die gegenwärtigen Debatten um Muslime anschauen, um das zu verstehen.
Wenn wir über Vielfalt reden, dann meinen wir damit, dass die Welt ein unübersichtlicher Ort voller Konflikte und Auseinandersetzungen ist. Das ist auch in Ordnung, denn Konflikte und Auseinandersetzungen sind die Grundlage für die politische und kulturelle Teilhabe. Die Bedeutung der Vielfalt liegt darin, dass sie uns erlaubt, unseren Horizont zu erweitern und verschiedene Werte, Glaubensbekenntnisse und Lebensweisen gegenüberzustellen und über diese Unterschiede nachzudenken. Nur dies kann paradoxerweise den politischen Dialog und die Debatte ermöglichen, die wir brauchen, um eine universalistische Auffassung von Nationalität zu etablieren.
„Wenn Vielfalt zur Demokratie gehören soll, dürfen wir Vielfalt nicht als ein Mittel ansehen, um Meinungsverschiedenheiten zu verwalten, sondern als Grundlage für Dialog, Debatten und Kritik.“
Aber genau das, was die Vielfalt wertvoll macht, nämlich die kulturellen und ideologischen Konflikte, die sie mit sich bringt, ist das, was viele fürchten. Diese Furcht kann zwei Formen annehmen. Zum einen gibt es den nativistischen Gedanken, dass Einwanderung den sozialen Zusammenhalt untergräbt und unser Gefühl für nationale Identität schwächt. Auf der anderen Seite gibt es den multikulturellen Standpunkt, der Respekt vor anderen Lebensweisen, Werten und Gewohnheiten verlangt und zwischen Gruppen Grenzen ziehen will, um Konflikte und Zusammenstöße zu vermeiden. Der eine Ansatz fördert die Angst, der andere die Gleichgültigkeit. Und beide untergraben die Demokratie.
Kaum einer geht von der Frage aus, wie es um das bürgerliche Engagement bestellt ist. Engagement verlangt weder von uns, gewisse Menschen als die „Anderen“ zu meiden deren Werte und Lebensweisen mit den unseren nicht vereinbar sind, noch im Namen des „Respekts“ diesen Werten und Lebensweisen gleichgültig gegenüberzustehen. Engagement erkennt, dass gegenseitiger Respekt auch bedeutet, dass die Werte und Ansichten anderer in Frage gestellt werden. Es verlangt von uns, eine nüchterne, offene und öffentliche Diskussion über Werte zu führen und zu akzeptieren, dass seine solche Debatte schwierig und oft heftig, aber auch notwendig sein wird in einer Gesellschaft, die offen und liberal sein will. Und demokratisch.
Wenn Vielfalt zur Demokratie gehören soll, dürfen wir Vielfalt nicht als ein Mittel ansehen, um Meinungsverschiedenheiten zu verwalten, sondern als Grundlage für Dialog, Debatten und Kritik. Wenn Vielfalt zur Demokratie gehören soll, dürfen wir Demokratie nicht als eine Garantie dafür sehen, zur „richtigen“ Antwort zu gelangen. Demokratie ist ein kollektiver Prozess, um Meinungsverschiedenheiten zu bewerten, egal wie unvorhersehbar das Ergebnis auch sein mag. Der einzige Weg zur richtigen Antwort liegt darin, andere davon zu überzeugen, dass sie richtig ist. Ob beides in einer Zeit möglich ist, die immer mehr zur Abschottung als zur Öffnung tendiert, ist eine der Kernfragen, die wir beantworten müssen.