27.11.2013

Mehr Mut zu Recht und Freiheit

Essay von Frank Schäffler und Holger Krahmer und Norbert F. Tofall

Linker und rechter Paternalismus haben den Begriff der Zivilgesellschaft ins Gegenteil verkehrt und unterwandern die offene Gesellschaft. Umso mehr muss der Liberalismus den Primat von Recht und Freiheit verteidigen.

„Das angeborne Recht des Menschen ist nur ein einziges: Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nöti­gender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einen allge­meinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zu­stehende Recht.“– Immanuel Kant –


In einem Land, das trotz schlimmster Erfahrungen mehr auf den Staat als auf den Einzelnen vertraut; in einem Land, das Angst vor öffentlichem Disput, vor Streit um die richtige Lösung hat, aber den Staat ersatzreligiös vergöttert; in einem Land, in dem der Einzelne und die Fa­milien vom Staat in allen Bereichen bevormundet werden und in dem diese Entmündigungen ideologisch als kollektive Selbstbefreiungsprozesse gefeiert werden; in einem Land, in dem die Hälfte des Volkseinkommens über staatliche Kanäle fließt, ist eine Partei von größter Wichtigkeit, die staatliche Macht begrenzt und das Recht und die Freiheit des Einzelnen kon­sequent verteidigt.

Verteidigung der Grundsäulen der freien und offenen Gesellschaft

Fast alle gesellschaftlichen Bereiche sind heute dadurch geprägt, dass der alte liberale Begriff Zivilgesellschaft in sein genaues Gegenteil verkehrt worden ist. Politisches Ziel dieser Begriffsumwertung war die von Wolfgang Abendroth in den 1950er Jahren geforderte „Trans­formation des liberalen Rechtsstaats in den Sozialstaat“, an der wir heute alle leiden und der sich die heutige FDP konsequent entgegenstellen muss.

In der liberalen Tradition von Adam Ferguson, Adam Smith, Imma­nuel Kant, Alexis de Tocqueville, Lord Acton, Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek und anderen wird die individuelle Freiheit jedes Men­schen durch Institutionen wie Privateigentum, Ver­trags­freiheit, Kapitalverkehrsfreiheit und Gewerbefreiheit, aber auch durch die Autonomie der Familie sowie Religions- und Ge­wis­sensfreiheit vor der Herrschaft durch andere Menschen geschützt.

In unserer heutigen so­zial­demokratischen Scheinmoderne, die letztlich eine paternalistische Prämoderne ist, denun­ziert man diese Institutionen jedoch als nicht legitimierte Herrschafts­formen der spätkapita­listi­schen, bürgerlichen Gesellschaft, die auf elaborierte und subtile Art und Weise kommuni­kativ verflüssigt werden müssen. Die Essenz dieser Angriffe auf die eigentli­che liberale Zivil- und Privatrechtsgesellschaft lautet jedoch in Kurzform: Eigentum ist Dieb­stahl, Familie ist ein Unterdrückungsapparat und Religion ist Opium fürs Volk.

„Unter der Tarnkappe ‚Demokratisierung aller Lebensbereiche‘ werden die institutionellen Grund­säulen der freien und offenen Gesellschaft angegriffen.“

Das Kollektiv mit dem heutigem Decknamen Zivilgesellschaft weist den einzelnen Individuen nicht nur Freiräume und Eigentumsrechte zu. Das Kollektivsubjekt entscheidet nach öffentli­cher Berat­schlagung im angeblichen herrschaftsfreien Diskurs sogar über die künftige Ent­wicklung aller Individuen einer Gesellschaft, was dann als die Umsetzung emanzipatorischer gesell­schaftlicher Projekte und als kollektiver Selbstbefreiungsprozess gefeiert wird. Unter der Tarnkappe „Demokratisierung aller Lebensbereiche“ werden so die institutionellen Grund­säulen einer freien und offenen Gesellschaft angegriffen.

Auf diese Weise wird der Staat, der als Vereinigung von Menschen unter Rechtsgesetzen (Kant) eigentlich die Aufgabe hat, die Bedingungen zu schützen, unter denen die Willkür des einen Individuums mit der Willkür des anderen Individuums nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann, für gesellschaftspolitische Projekte sogenannter „Trä­ger der Zivilgesellschaft“ missbraucht. Der demokratische Staat verliert so den Anspruch, frei­heit­lich-demokratischer Rechtsstaat zu sein. Recht und Freiheit werden kampflos aufgegeben.

Diesen Entwicklungen muss sich eine liberale Partei in allen gesellschaftlichen Bereichen mit „Vernunft und Widerstand“ und klaren Alternativen entgegenstellen. Wir brauchen in Deutschland und Europa mehr Recht und Freiheit und mehr Entscheidungsbefugnisse für je­den von uns. Die Politik braucht nicht nur mehr Transparenz und Klarheit, sondern wirksame Grenzen. Wir brauchen deshalb mehr Mut zu Recht und Freiheit.

Die Entfaltung des Individuums in der Marktwirtschaft

Für Liberale und überzeugte Europäer gibt es keinen Primat der Politik; denn Politik und Staat haben Recht und Freiheit zu schützen und sind Recht und Freiheit untergeordnet. Für Li­berale und überzeugte Europäer gibt es einen Primat von Recht und Freiheit. Recht und Frei­heit müssen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen gelten. Und das heißt, der Staat muss Rechtsstaat sein. Die Wirtschaft muss Marktwirtschaft sein. Für die Religion gilt die Religi­ons- und Gewissensfreiheit. Deshalb muss auch Europa ein Ort des Rechts und der Frei­heit sein und kein Ort des Primats der Politik. Die Macht der Politik in Deutschland und Europa muss zum Schutz der individuellen Freiheit und des Rechts begrenzt werden.

Individuelle Freiheit heißt, dass Menschen unabhängig von der nötigenden Willkür anderer Menschen leben können. Die individuelle Freiheit für uns alle kann nur durch die Herrschaft des Gesetzes (rule of law) geschützt werden. Durch allgemeine und abstrakte Regeln soll si­chergestellt werden, dass jeder Mensch frei leben kann.

Der Staat ist eine Vereinigung von Bürgern unter Rechtsgesetzen, durch die die gleiche Frei­heit für alle hergestellt und gesichert wird. Das Recht ist mit der Befugnis zur Anwendung von Zwang verbunden, und nur der Staat hat das Recht zur Ausübung von Zwang. Aber er hat es auch nur, um eine Verfassung von der größten Freiheit zwischen Menschen zu errichten und zu sichern, nicht von der größten Glückseligkeit und Wohlfahrt.

Der Staat darf keine Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen per Gesetz – und das heißt per Zwang – durchsetzen oder fördern. Der Staat hat lediglich dafür zu sorgen, dass die Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen der Menschen nebeneinander bestehen können. Glücks- und Wohlfahrtsvorstellungen sind ausschließlich individuelle Lebensführungsprogramme. Kein Mensch, keine Gruppe, keine noch so demokratisch gewählte Mehrheit und auch kein Staat haben deshalb das Recht, Menschen zu zwingen, auf eine bestimmte Art und Weise glücklich zu sein. Jeder Mensch hat das Recht, auf seine Art nach Glück zu streben.

„Kein Staat hat das Recht, Menschen zu zwingen, auf eine bestimmte Art und Weise glücklich zu sein.“

Diesem Ideal entspricht ökonomisch die Marktwirtschaft. Die Marktwirtschaft ist kein Dschungel, in dem der Stärkere den Schwächeren frisst. Der freie Markt ist der Ort, auf dem freie Menschen auf der Grundlage des Rechts freiwillig zum ge­genseitigen Vorteil überein­kommen, miteinander zu handeln und geschäftlich zu kooperieren. Der Markt ist deshalb nichts anderes als ein Oberbegriff für die millionenfache und unter den Bedingungen der Glo­balisierung milliardenfache dezentrale direkte und indirekte Kooperation von einzelnen Men­schen. In keinem anderen Wirtschaftssystem kann der Einzelne sich so frei entfalten wie in der Marktwirtschaft. Das Recht auf die freie Berufswahl, den eigenen Le­bensstil und die freie Gestaltung des Familien- und Privatlebens, der Werteentscheidungen und Konsumgewohn­heiten und des räumlichen Lebensmittelpunktes ist in einer Planwirt­schaft nicht möglich. Freiheit und Wirtschaftsplanung schließen sich aus.

Armut ist nicht die Folge von Marktwirtschaft, sondern der Abwesenheit von Marktwirt­schaft. Wo keine auf Rechtssicherheit und Eigentum beruhende Marktordnung herrscht, herrscht Rückständigkeit und Elend. Seit dem Ende des Feudalzeitalters und der Entstehung der modernen Marktwirtschaft in Europa haben die Menschen in den Teilen der Welt, in dem sich diese Wirtschaftsordnung durchgesetzt hat, einen zuvor nicht vorstellbaren Wohlstand erreicht. Gemessen an allen Indikatoren, Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, Kaufkraft, Gesundheit sind wir wohlhabender als es die Generationen zuvor gewesen sind.

Wenn es uns gelingt, den oft durch planwirtschaftliche Versuchungen unterbrochenen Weg der wirtschaftlichen Freiheit fortzusetzen, können wir die großen wirtschaftlichen und sozia­len Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen.

Der politische Auftrag, die Existenzberechtigung und die Erfolgsperspektive der FDP ergeben sich aus ihrer Position, Sachwalter, Anwalt und Vorkämpfer von individueller Freiheit, Rechtsstaat und Marktwirtschaft zu sein. Die FDP darf sich nicht von einzelnen Gruppen und Interessenvertretern instrumentalisieren lassen, sondern muss die Prinzipien von Recht und Freiheit stets höher stellen als die Belange von Einzelinteressen. Sie muss in jeder Situation glaubwürdig für die Sache der Freiheit streiten – allein so wird sie das Vertrauen und den Rückhalt in der Bevölkerung wiedergewinnen, um eine starke politische Kraft zu sein.

Ihre Aufgabe ist es, anders zu sein als andere Parteien. Ihr Platz im Parteiensystem ergibt sich aus der Notwendigkeit, sich der Aushöhlung der Bürgerrechte, der Marktwirtschaft, der De­mokratie und des Rechtsstaat entgegenzustellen und die Aufhebung von Freiheitsbeschrän­kungen voranzutreiben. Als Partei muss sie selbst ein Motor der Reform des politischen Sys­tems sein im Sinne der Durchsetzung der Beschränkungen politischer Macht, der Begrenzung des Einflusses der Parteien und der Bewahrung und Wiederherstellung der Gewaltenteilung.

Freiheitsinseln als Gegenmacht zum mentalen Modell des Illiberalismus

Doch wieso haben die FDP-Parteiführungen und die FDP-Bundestagsfraktion in der ablau­fenden Legislatur nicht entsprechend dieser Maximen gehandelt? Diese Frage stellt sich ins­besondere deshalb, weil bereits 1992 für eine klassisch-liberale Partei in Deutschland Wählerpotentiale von 20 bis 25 Prozent ermittelt wurden. Das sind erheblich höhere Zahlen als die üblichen 5 bis 10 Prozent für die FDP und selbst mehr als das historische Hoch von 14,6 Prozent aus dem Jahr 2009. Diese Diskrepanz erklärt sich daraus, dass die FDP seit ihrer Gründung nach dem zweiten Weltkrieg nie eine klassisch-liberale Partei war, sondern immer auf unter­schiedliche Art und Weise zu verschiedenen Zeiten etwas ganz anderes. Dieses Andere hat bereits inhaltlich verhindert, dass das klassisch-liberale Wählerpotential von 20 bis 25 Prozent ausgeschöpft werden konnte. Wären die FDP-Parteiführungen Maximierer von Wählerstim­men, dann müsste auch für FDP-Parteiführer der Schluss naheliegen, die FDP zu einer klas­sisch-liberalen Partei umzuformen, um auf diesem sicherlich nicht leichten Weg das liberale Wählerpotential von 20 bis 25 Prozent Schritt für Schritt dauerhaft und glaubwürdig zu er­schließen.

Aber warum sind die FDP-Parteiführungen offensichtlich keine oder nur sehr selten Wähler­stimmen-Maximierer? Wieso folgen sie oftmals nicht ihrer eigentlichen machtpolitischen Aufgabe? Die Antwort ergibt sich, wenn man die Zahlen von 20 bis 25 Prozent klassisch-libe­rales Wählerpotential einmal umdreht. Denn 75 bis 80 Prozent der potentiellen Wähler in Deutschland bekennen sich weder implizit noch explizit zum klassisch-liberalen Werte- und Ideenhorizont. Wir haben es in unserer Gesellschaft also mit einer strukturellen Macht von 75 bis 80 Prozent zu tun, die ein antiliberales „mentales Modell“ verinnerlicht hat.

Der Nobelpreisträger Douglass C. North spricht von „Shared Mental Models“, von „gemein­samen mentalen Modellen“, die neben einer Theorie der Eigentumsrechte und einer Theorie des Staates in einer Theorie der Ideologie zu berücksichtigen sind, um institutionellen Wandel in Gesellschaften zu analysieren. Zudem sind diese „Shared Mental Models“ sehr langlebig und von Politikern kurzfristig nicht zu ändern. Der seit den fünfziger Jahren in den west­lichen Gesellschaften zu beobachtende Kulturkampf gegen bürgerlich-liberale Institutionen, der die „Transformation des liberalen Rechtsstaats in den Sozialstaat“ (Wolfgang Abendroth) zum Ziel hat und heute auf die supranationale Ebene eines „europäischen Sozialstaats“ (Jür­gen Habermas) gehoben werden soll und der seinerseits einen europäischen Superstaat vor­aussetzt, kann nicht bis zur nächsten oder übernächsten Bundestagswahl zurückgedrängt wer­den.

Bei diesem Kulturkampf handelt es sich um Prozesse kultureller Evolution, die 25 bis 30 Jahre und vielleicht auch länger kulturelle Veränderungen bewirken müssen, eine Evolution, in der sich neue dominierende „Shared Mental Models“ bilden und behaupten müssen. Diese Prozesse können zwar von den verbliebenen und von neuen bürgerlich-liberalen Kulturträgern angestoßen werden, und in den letzten 10 bis 15 Jahren haben sich überall in Europa hoch-interessante Gruppen von liberalen Überzeugungstätern außerhalb der etablierten Parteien ent­wickelt. Ob dieses aber zu einer Verschiebung des Verhältnisses von 25 zu 75 zugunsten der klassischen Liberalen, und sei es auch nur in Schritten von 30 zu 70, 35 zu 65 usw., hinsicht­lich der „Shared Mental Models“ führt, ist derzeit vollkommen offen und hängt davon ab, ob die sich überall entwickelnden Freiheitsinseln und bürgerlichen Ligaturen im Sinne von Ralf Dahrendorf und Alexis de Tocqueville überzeugend und anziehend genug sind, um im tägli­chen Kulturkampf der westlichen Gesellschaften zu bestehen und sich in gesellschaftlichen Prozessen der nächsten 25 bis 30 Jahre zu vergrößern.

„Politische Angebote an die struk­turelle antiliberale Macht von 75 bis 80 Prozent in Form von Mindestlöhnen oder ähnlichem werden die Wählerstimmen für die FDP nicht erhöhen.“

Bis dahin müssen wir von einer struk­turellen antiliberalen Macht von 75 bis 80 Prozent in der Gesellschaft ausgehen. Politische Angebote an diese 75 bis 80 Prozent in Form von Mindestlöhnen oder ähnlichem werden die Wählerstimmen für die FDP nicht erhöhen. Wir werden im Gegenteil Wählerstimmen aus unserem eigentlichen Wählerpotential von 25 Prozent verlieren.

Zudem verfügen die heutigen FDP-Parteiführungen über keine klassisch-liberale Begrifflich­keit, die sie in die Lage versetzt, die Begriffsumwertungen zu erkennen und zu durchkreuzen, die unsere politischen Gegner in den letzten Jahrzehnten erfolgreich in unsere westlichen Gesellschaften implantiert haben. Als Beispiel mag an dieser Stelle der alte liberale Begriff Zivilgesellschaft (civil society) von Adam Ferguson dienen, der von unseren antiliberalen Gegnern in sein genaues Gegenteil verkehrt worden ist..

Darüber hinaus wundert man sich, dass in der FDP viel von Leistungsgerechtigkeit schwadroniert wird. Die Forderung „Jedem nach seiner Leistung“ stammt von Lenin und diente ihm dazu, Sozialismus in Kurzform zu definieren. Dass eine FDP-Parteiführung, die Friedrich August von Hayeks Ausführungen über Wert und Verdienst in seinem Werk „Ver­fassung der Freiheit“ ignoriert und Leistungsgerechtigkeit auf ihre Fahnen schreibt, die es unter den Bedingungen von Kontingenz- und Komplexitätserhöhung in der Moderne ohnehin nicht geben kann, dann Forderungen nach Mindestlöhnen erhebt, verwundert allerdings nicht mehr. Die FDP-Parteiführungen haben die Begrifflichkeit und die „Shared Mental Models“ unserer antiliberalen Gegner übernommen. Anstatt mentale Gegenmacht gegen die struktu­relle Macht von 75 bis 80 Prozent antiliberaler mentaler Modelle aufzubauen, ergibt man sich bereits begrifflich und mental und merkt es nicht einmal. Im Grunde wollen viele auch keine Gegenmacht aufbauen, weil man sich als maßgeblicher Teil der etablierten Kräfte dieses Lan­des versteht.

Dadurch verstärkt sich eine machtpolitische Versuchung ganz anderer Art. Unterstellt man die erfahrungsgesättigte Annahme, dass die Interessen der FDP-Parteiführungen nicht deckungs­gleich mit den Interessen der normalen Parteimitglieder und der potentiellen FDP-Wähler sind, dann erkennt man, wieso fünf bis sechs Personen an der Parteispitze mit Aussicht auf Ministerämter ganz anders handeln als Maximierer von Wählerstimmen, die unser Wähler­potential von bis zu 25 Prozent erschließen sollten. Und man erkennt dann auch, wieso die Koalitionsverhandlungen im Herbst 2009 nur etwas länger als 3 Wochen gedauert haben. Und man erkennt, wieso 2013 die FDP-Parteiführung Mindestlöhne fordert, obwohl mit dieser Forderung unser Wählerpotential von 25 Prozent nicht erschlossen werden kann. Man will dieses Wählerpotential gar nicht erschließen, weil es dann schwieriger wird, die Koalition mit der sozialde­mokratisierten Merkel-CDU fortzusetzen oder in eine Ampelkoalition mit SPD und Grünen einzutreten. Letzteres wird aber bereits am lebens-stylischen Hass, den SPD und Grüne für die FDP empfinden, scheitern. Das katastrophale Wahlergebnis war die Quittung für dieses opportunistische Taktieren

Die mangelnde Bereitschaft, mentale Gegenmacht aufzubauen, führt jedoch dazu und das ist noch viel, viel problematischer als die immer schwelende machtpolitische Versuchung, dass bezüglich der Europa-Frage, die gerade keine Frage des Euros ist, keine klassisch-liberalen Positionen vertreten werden. Davon profitierte letztlich vor allem die AfD.

Oder in Zahlen: An CDU/CSU hat die FDP über 2 Millionen Stimmen verloren, weil sie die versprochene Steuerreform nicht durchgeführt hat. Die größte Gruppe der AfD-Wähler waren ehemalige FDP-Wähler, mehr als 400.000. Für den Wiedereinzug in den Bundestag fehlten lediglich 88.000 Stimmen. Das zeigt, dass der FDP sowohl die gebrochenen Steuersenkungsversprechen als auch die falsche Euro-Rettungspolitik enorm geschadet hat.

Beschränkung des Staats durch freie Bürger

Die europäische Freiheitsidee ist aus der Vielgestaltigkeit Europas entstanden. Diese Vielge­staltigkeit Europas hat fünf Pfeiler hervorgebracht, die das Europäische Haus tragen:

  • die Ablehnung der Allein- und Fremdherrschaft,
  • die Machtbegrenzung und Machtkontrolle,
  • neben der politischen Gewaltenteilung die gesellschaftliche Gewaltentei­lung zwi­schen Politik, Staat, Wirtschaft, Religion, Bildung usw., die man auch gesell­schaftliche Arbeitsteilung nennt; die Soziologen bezeichnen dies als funktionale Ausdifferenzierung der mo­dernen Gesellschaft,
  • die Idee der individuellen Freiheit und
  • die Herrschaft des Rechts.

Außerhalb Europas, aber auch bereits in Russland, neigt die Staaten- und Gesellschaftsbildung zur Despotie. Infolge der Verbindung von weltlicher und religiöser Gewalt und infolge der Unterwerfung aller gesellschaftlichen Teilbereiche wie Wirt­schaft, Religion und Bildung unter den Primat der Politik und des Staates konnte sich keine gesellschaftliche Gewaltentei­lung entwickeln, die wirksam genug war, dem Staat Grenzen zu setzen und Despotie zu ver­hindern. In Europa und nachfolgend in der gesamten westlichen Kultur sind hin­gegen alle Versuche gescheitert, Despotien dauerhaft zu errichten.


Wirksam wird die Begrenzung des Staates nicht nur durch die Gewaltenteilung innerhalb von Politik und Staat. Vor allem durch die gesellschaftliche Gewaltenteilung oder gesellschaftli­che Arbeitsteilung wird diese Begrenzung wirksam. Und das heißt auch durch das freie, dezentrale und individuelle Handeln von Millionen von Menschen im Privatrechtsverkehr. Denn nur so kann verhindert werden, dass Politik und Staat despotische Formen annehmen. Und es war das europäische Bürgertum, das in der Neuzeit durch dieses millionenfache dezen­trale Han­deln im Privatrechtsverkehr Schritt für Schritt die gesellschaftliche Gegenmacht gegen einen allmächtigen Staat aufgebaut hat. Deshalb stehen am Anfang der Europäischen Einigungsbe­wegung nach dem zweiten Weltkrieg die vier euro­päischen Grundfreiheiten in den Römischen Verträgen. Vom Primat der euro­päischen Regierungen steht da nichts.

Das vereinte Europa ist von seinen Gründungsvätern als ein Hort der Freiheit gegen alle For­men von Diktatur, Unfreiheit und Planwirtschaft erträumt worden. Das heutige Europa ist auf dem Weg in die monetäre Planwirtschaft und den politischen Zentralismus.

Die Gründungsväter Europas wollten ein Europa des Rechts und der Rechts­staatlichkeit. Die heutigen Regierungen des Euro-Raums, die EU-Kommission und die EZB verabreden sich hingegen fortwährend zum kollekti­ven Rechtsbruch, obwohl die EU-Kommission als Hüterin der Verträge und die nationalen Regierungen zum Schutz des Rechts verpflichtet sind.

Die freiheitliche Wirtschaftsverfassung Europas wird an einem Wochenende im Mai 2010 in Brüssel staatsstreichähnlich außer Kraft gesetzt und unsere Staats- und Regierungschefs und die EU-Kommission verbreiten bis heute auf allen Fernsehkanälen die falsche Aussage: „Scheitert der Euro, dann scheitert Eu­ropa.“ Dabei verdrängen sie, dass die europäische Frei­heitsidee aus der Vielgestaltigkeit Europas hervorgegangen ist und dass sich aus dieser Viel­gestaltigkeit die fünf eben beschriebenen Grundpfeiler Europas herausgebildet und gefes­tigt haben.

„Der von den Märkten ausgeübte Zwang auf die Euro-Mitgliedsstaa­ten, ihre Staatshaushalte zu sanie­ren, wird von den europäi­schen Staats- und Regierungschefs als Sklaverei empfunden.“

Der von den Märkten, also von uns freien Bürgern im millionenfachen dezentralen Privatrechtsverkehr ausgeübte Zwang auf die Euro-Mitgliedsstaa­ten, ihre Staatshaushalte zu sanie­ren, wird von den europäi­schen Staats- und Regierungschefs als Sklaverei empfunden, die zu bekämpfen ist. Denn dass wir freien Bürger durch freies Handeln auf dem Finanzmarkt un­sere Regierungen dazu zwingen, ihre Haushalte zu sanieren, kann von den Staats- und Regie­rungschefs nicht geduldet werden. Das ist Spekulation von verantwortungslosen, geldgierigen Menschen: Währungsspekulation, die unbe­dingt unterbunden werden muss. Es geht hier of­fensichtlich nicht um die Freiheit der freien Bürger Europas, sondern um die erweiterten Handlungsmög­lichkeiten von Re­gierungen. Die Begrenzung des Staates durch gesellschaftli­che Gewaltenteilung soll aufgehoben werden. Denn Freiheit der Bürger ist Sklaverei für die Regierungen. Deshalb muss man dem Bürger einreden, dass seine Freiheit Sklave­rei sei, eine Sklaverei, von der die europäischen Staats- und Regierungschefs Europa befreien müssen.

Dass die europäischen Regierungen damit Europa das rauben, was Europa ausmacht, dass sie Europas Seele rauben und Europa als einen Ort von Recht und Freiheit zerstören, spielt für sie keine Rolle. Wir müssen deshalb dezentrale Gegenmacht gegen diesen Raub aufbauen. Wir müssen in Europa eine Graswurzelbewegung für Recht und Freiheit, eine europaweite dezentrale Freiheitsbewegung, anstoßen. Wir brauchen ein von Freiheit beseel­tes Europa. Wir brauchen in Deutschland und Europa mehr Mut zu Recht und Freiheit.

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