11.01.2021
„Man scheint sich in eine Rechtfertigungsspirale begeben zu haben“
Interview mit René Schlott
Historiker René Schlott hält die politischen Reaktionen auf das Corona-Virus für ein bedenkliches soziales Experiment, das menschheitsgeschichtlich einmalig ist. Aus dem Buch „Bürger oder Untertan?"
Novo: Anlässlich des Corona-Shutdowns haben Sie die Initiative „Grundgesetz a casa“ (Grundgesetz zu Hause) ins Leben gerufen. Worum geht es und was war der Anlass dazu?
René Schlott: Der Anlass war ein Artikel von mir in der Süddeutschen Zeitung vom 17. März 2020 mit dem Titel „Um jeden Preis?“. Da ging es darum, dass die Maßnahmen und die Einschränkungen, die die Bundesregierung und die Landesregierungen beschlossen hatten, die offene Gesellschaft nicht retten, sondern erwürgen könnten. Es besteht die Gefahr, dass ein Gewöhnungseffekt eintritt, der die Basis unserer freien, demokratischen und solidarischen Gesellschaft untergräbt. Nach dem Artikel bekam ich eine Menge E-Mails und Anrufe von Leuten, die mir Zuspruch gaben und mich ermutigten, mich weiter zu engagieren.
Ihre Initiative war also nicht von vorneherein geplant?
Die Initiative entstand erst aus dem spontanen Zuspruch aus der Leserschaft. Das Ganze soll jetzt dazu dienen, einerseits solidarisch auf diese durch das Corona-Virus verursachte Krise zu reagieren. Wie alle anderen bleiben auch wir zu Hause. Das tun wir aber nicht in erster Linie aufgrund staatlicher Vorschriften, sondern aus staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein für diese Gesellschaft. Und gleichzeitig wollen wir die Zeit nutzen, um einen Blick ins Grundgesetz zu werfen. Es soll nicht polarisiert werden zwischen der großen Mehrheit derjenigen Menschen, die diese Maßnahmen gutheißen, und denen, die es eher kritisch sehen. Sondern es geht darum, das Grundgesetz als eine Errungenschaft ins Gedächtnis zu rufen, die als eine unabdingbare, gemeinsame Basis für unser aller Zusammenleben wirkt. Wir sollten uns auch daran erinnern, dass am Ende dieser Krise all diese Grundrechte, die jetzt eingeschränkt sind, auch wieder in Kraft gesetzt werden müssen.
Wie läuft die Initiative konkret ab?
Wir haben einen Twitter-Account eingerichtet, bei dem die Nutzerinnen und Nutzer eingeladen sind, den für sie wichtigsten Grundgesetzartikel vorzulesen und gegebenenfalls auch die Gründe für ihre Wahl zu erläutern. Alle, die sich beteiligen, erhalten ein aus Anlass des 70. Jahrestages des Grundgesetzes gestaltetes Heft – „Das Grundgesetz als Magazin“, das uns vom Herausgeber in größerer Zahl überlassen worden ist.
„Es bedarf einer fortgesetzten Wachsamkeit und eines Engagements, das dafür sorgt, dass die Grenzen, die das Grundgesetz gezogen hat, nicht dauerhaft verschoben werden.“
Die Anti-Corona-Maßnahmen führen dazu, dass sich unsere Gesellschaft an einen permanenten Schwebezustand gewöhnt, in dem die Krise immer weiter verschleppt wird. Müssen wir uns hier auf einen dauerhaften Kampf um unsere Grundrechte einrichten?
Die bisherigen Entscheidungen der Politik zeigen, dass wir in absehbarer Zeit nicht zum Zustand zurückkehren werden, der vor der Verhängung der drastischen Freiheitseinschränkungen bestanden hatte. Ich möchte jedoch diese militaristischen Begriffe wie „Kampf“ etc. vermeiden. Die Politik spricht auch von „Krieg“, von „vorderster Linie“ und so weiter. Es bedarf freilich einer fortgesetzten Wachsamkeit und eines Engagements, das dafür sorgt, dass die Grenzen, die das Grundgesetz gezogen hat, nicht dauerhaft verschoben werden. Demokratie lebt davon, dass immer wieder Einzelne kritisch ihre Stimme erheben und dafür auch Nachteile in Kauf nehmen.
Mehr und mehr ist von einer „neuen Normalität“ die Rede. Es zeichnet sich mittlerweile das Folgende ab: Man hebt einige Beschränkungen des sozialen Lebens zwar nach einiger Zeit wieder auf, führt jedoch zugleich immer wieder neue Kontrollinstrumente ein. Man denke an die berühmten Tracking-Apps, an weiter fortbestehende Kontaktbeschränkungen, aber auch an fortbestehende Einschränkungen des Demonstrationsrechtes oder an die Pflicht zum Tragen von Masken im öffentlichen Raum. Sehen Sie einen nennenswerten Widerstand gegen dieses sich abzeichnende Szenario?
Ich habe den Eindruck, dass die Mehrheit der Menschen immer noch für diese Maßnahmen ist und nicht wenige Leute sogar ihre Verschärfung fordern. Aber es gibt eine wachsende Minderheit – nicht zuletzt von sehr kritischen Verfassungsrechtlern. Mittlerweile ist also eine breitere Diskussion entstanden, in der namhafte Juristen, Soziologen, Mediziner und andere davor warnen, diese Einschränkungen zu verschärfen und tatsächlich auch noch neue soziale Standards einzuführen. So langsam scheinen auch die Gerichte mutiger zu werden. Je länger die Maßnahmen andauern, desto schwieriger sind sie zu rechtfertigen, auch juristisch.
Das gilt vor allem für die Versammlungsfreiheit, die nicht nur eingeschränkt, sondern vollständig außer Kraft gesetzt wurde. Zumindest eine Zeit lang wurden Demonstrationen in ihrer Gesamtheit unterbunden. Dabei hat der Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers die Versammlungsfreiheit, neben der Meinungsfreiheit, als das demokratienächste Grundrecht bezeichnet. Deshalb wäre es umso bedenklicher, wenn man in Deutschland dauerhaft noch nicht einmal gegen die gegenwärtige Politik demonstrieren darf oder dafür hohe Auflagen verhängt werden. Doch nun ist es vereinzelt wieder möglich, dass Demonstrationen kleinerer Gruppen unter Beachtung der Hygieneregeln abgehalten werden können. Es besteht daher die Hoffnung, dass nach und nach die Verwaltungsgerichte und auch das Verfassungsgericht dem Ganzen doch eine Grenze setzen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat damit angefangen, zumindest Versammlungen mit begrenzter Teilnehmerzahl zu erlauben. Da sind also die ersten Richter und Richterinnen, die auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit pochen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheint also immer mehr zur Geltung zu kommen, je länger die Krise andauert.
„Je länger die Maßnahmen andauern, desto schwieriger sind sie zu rechtfertigen, auch juristisch.“
Jedenfalls hat jeder, der nicht gewalttätig wird und etwa zur Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung ansetzt, das Recht, auf die Straße zu gehen. Von daher hoffe ich, dass jetzt auch eine breitere Bewegung entsteht, die genau darauf achtet, dass die Grundrechte wieder zurückkommen, zumal die Klagefreudigkeit auch wieder zugenommen hat und man sich seine Rechte doch nicht so leicht nehmen lassen will.
Gibt es im Rahmen der Corona-Bekämpfung eine Maßnahme, die Sie in besonderem Maße für bedenklich halten?
Ich halte es in besonderem Maße für schädlich, dass die Maßnahmen die Bildungschancen benachteiligter Kinder beeinträchtigen. Deshalb bin ich gespannt, ob jetzt auch die ersten Klagen kommen, was die Bildung der Kinder angeht, denn die Bundesrepublik gehört zu den Unterzeichnerstaaten der UN-Kinderrechtskonvention. Die sagt in Artikel 3, dass alle staatlichen Maßnahmen darauf geprüft werden müssen, ob sie das Wohl der Kinder verletzen. Ich halte die Schulschließungen für kaum vereinbar mit diesem Artikel. Hier haben wir es mit einer gravierenden Bildungsungerechtigkeit zu tun. Außerdem garantiert Artikel 2 des Grundgesetzes die freie Entfaltung der Persönlichkeit für alle Menschen. Kinder können sich aber nicht frei entfalten, wenn sie über Wochen zu Hause eingesperrt werden, nicht mehr auf Spielplätze dürfen und nicht betreut werden.
Im Zuge dieser Krise steigt die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit weiter an, beträchtliche Teile des Kleingewerbes drohen zugrunde zu gehen, Restaurants gehen ein. Was halten Sie angesichts der sich abzeichnenden Verwerfungen von der öffentlichen Diskussionskultur in Hinblick auf die Corona-Krise?
Es ist insgesamt ein Armutszeugnis. Alles, was von oben angeordnet wird, sei es von Landesregierungen und Bundesregierung, wird von allen Instanzen ohne jegliche Diskussion durchexekutiert. Es scheint in diesen Beamtenapparaten wohl niemanden zu geben, der zum Beispiel einmal die Rückfrage stellt: Wie sinnvoll ist denn eigentlich das Schließen von Spielplätzen für die Pandemiebekämpfung? Oder dass auch derjenige, der dazu beauftragt wird, einen Bauzaun am Spielplatz anzubringen, keine Rückfrage stellt.
Ich finde es auch bedenklich, dass die Bedeutung der Demonstrationsfreiheit heruntergespielt wird. Erst sehr spät fielen einige Widersprüche auf: Unter Hygieneauflagen blieben zwar Baumärkte oder Lottoläden geöffnet, aber Demonstrationen durften nicht abgehalten werden. Das halte ich für unverantwortlich. Wenn Kritikern entgegengehalten wird, mit solchen Demonstrationen gefährde man Menschenleben, dann handelt es sich um ein Totschlagargument, das Grundrechte letztlich gegeneinander ausspielt.
„Alles, was von oben angeordnet wird, sei es von Landesregierungen und Bundesregierung, wird von allen Instanzen ohne jegliche Diskussion durchexekutiert.“
Ich erwarte in unserer Gesellschaft auf allen Ebenen kritische Rückfragen – und das Recht, auch kritische Rückfragen zu stellen. Stattdessen erlebe ich in den letzten Wochen eine Feindseligkeit von Menschen, die ich gar nicht kenne, die mir – nur weil ich eine Position zu der Sache habe – Parteilichkeit unterstellen. Es ist besorgniserregend, dass die ganz normalen Mechanismen des kritischen Nachfragens und auch das Recht, kritisch nachzufragen, außer Kraft gesetzt zu sein scheinen.
Als Historiker und Geisteswissenschaftler bin ich dazu konditioniert worden, nichts als gegeben hinzunehmen. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Meinungsfreiheit bedeutet zwar nicht, dass man seine Meinung unwidersprochen überall bekannt geben kann. Aber es heißt eben auch, dass man respektvoll behandelt wird. Ich respektiere ja auch, dass es zu diesen demokratisch legitimierten Maßnahmen gekommen ist.
Haben Sie den Eindruck, dass sich die Politik an klaren Kriterien orientiert, wenn es darum geht, die Einschränkungen zu rechtfertigen?
Daran habe ich Zweifel. Merkel und andere hatten zunächst als Zielkorridor ausgegeben, dass die Verdoppelungsrate der Infizierten in Deutschland auf 10 bis 14 Tage ausgedehnt werden soll. Inzwischen liegen wir bei mehr als 80 Tagen. Doch jetzt wird gar nicht mehr von dieser Zahl geredet, sondern jetzt hat man mit dem sogenannten R-Wert eine neue Zahl als Ziel ausgegeben. Und nachdem auch diese Zielvorgabe erreicht worden ist, kann man sich nicht wirklich zu einer nennenswerten Lockerung der Maßnahmen durchringen. Man bekommt also den Eindruck: Die Kriterien werden nicht transparent benannt, und nach deren Erreichen bleiben viele Maßnahmen dennoch bestehen.
In der etablierten Politik und den etablierten Medien scheint es den Drang zu geben, immer wieder eine Rechtfertigung dafür zu bekommen, den gegenwärtigen Schwebezustand immer weiter zu verlängern. Auf der anderen Seite gibt es diese vielen vor allem medizinischen Experten, die dem vehement widersprechen …
Ich bin nur immer wieder erstaunt, wie diese medizinischen Experten sofort für verrückt erklärt oder als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet werden. Auch die Art und Weise, wie die Heinsberg-Studie angezweifelt wird, wirkt bedenklich. Ich erkenne eine ganze Menge Fahrlässigkeit und fehlende Ernsthaftigkeit in der Debatte. Man scheint sich in eine Rechtfertigungsspirale hineinbegeben zu haben: Wenn man jetzt die Maßnahmen aufhöbe, dann sähe es so aus, als wären die gar nicht notwendig gewesen, und dann müsste man sich dafür rechtfertigen.
Es scheint hier viel politisches Kalkül im Spiel zu sein, und so wird das Ganze auf dem Rücken der Menschen und des Grundgesetzes ausgetragen. Das gilt auch für die etablierten Medien. Sie sollten ihre Rolle als vierte Gewalt im Land noch viel ernster nehmen. Medien sind schließlich nicht Verlautbarungsorgane der Regierung. Sie müssen immer wieder kritisch zurückfragen, wie sinnvoll die Maßnahmen sind und sich stärker für eine mögliche politische Instrumentalisierung der Maßnahmen interessieren.
„Man bekommt den Eindruck: Die Kriterien werden nicht transparent benannt, und nach deren Erreichen bleiben viele Maßnahmen dennoch bestehen.“
Ich war erstaunt, als am 15. April nach einer Pressekonferenz im Kanzleramt in der Tagesschau in Bezug auf ein noch zu erstellendes Konzept zur Schulöffnung am 4. Mai ohne Beleg gesagt wurde, dass Lehrer und Eltern diese Entscheidung begrüßt hätten. Ich kenne aber nur Eltern, die von einer Katastrophe sprachen, weil es bei dieser Ankündigung blieb, ohne dass man etwas Konkretes hatte. Die einzig konkrete – und umso erstaunlichere – Aussage kam auf dieser Pressekonferenz von Markus Söder, der die Ausweitung der Notbetreuung nur damit begründet hatte, dass ja jetzt die Geschäfte für Blumen und Buchhändler geöffnet seien und die dortigen Beschäftigten ihre Kinder in die Betreuung geben müssten.
Das ist eine rein technokratische und ökonomische Begründung, die den Aspekt der Bildungsgerechtigkeit noch nicht einmal streift. Wir alle wissen doch: Privilegierte Haushalte können es sich leisten, Kinder zu unterrichten, man hat Homeoffice, keine Einkommensverluste, ist intellektuell in der Lage, die Aufgaben irgendwie zu erledigen. Doch es gibt in diesem Land ganz viele Familien, die unter gänzlich anderen Bedingungen leben und deren Kinder angesichts der verordneten Isolation zu anhaltender Passivität verdammt sind.
Diese Bildungsungerechtigkeit, die wir in Deutschland qua Herkunft ohnehin haben, wird also nicht nur durch diese Krise an sich, sondern in besonderem Maße durch die einfallslose Reaktion der Verantwortlichen noch einmal verstärkt. Das gilt im Allgemeinen für die Verfestigung von Milieus – etwa Akademikerhaushalte und Arbeiterfamilien. Es ist enttäuschend und alarmierend, dass selbst der Lehrerverband dies nicht zu erkennen scheint, wenn er nonchalant sagt, im Zweifel müssten die Kinder eben noch einmal ein Jahr wiederholen.
Man hat jedenfalls bewiesen, dass Bildung eben doch keine Priorität hat, weder an Schulen, Kindergärten und Universitäten. Es fragt sich, wie zukünftig noch eine kritische Selbstbefragung unserer Gesellschaft möglich sein soll.
In Ihren öffentlichen Wortmeldungen deuten Sie selbst darauf hin, dass die Anti-Corona-Politik einen asozialen Charakter aufweist – dass sie sogar einen fundamentalen Angriff auf die Wesenseigenschaft des Menschen darstellt, nämlich ein „Zoon politikon“ zu sein, also ein politisches und gemeinschaftsbezogenes Wesen. Können Sie uns das ein wenig erklären?
Schon Aristoteles hat festgestellt: Der Mensch ist ein politisches und soziales Wesen. Er braucht den Austausch mit anderen. Jetzt liest man, dass diese Krise etwas Gutes habe, weil sie den Durchbruch zur digitalen Meinungsbildung und zur digitalen Demokratie bringe. Man sollte aber besser zurückschauen nach Athen und in andere historische Situationen. Meinungsbildung entsteht, indem sich Menschen einander körperlich begegnen, indem sie sich gegenübersitzen, in einer Debatte. Videokonferenzen können derartiges nicht ersetzen.
Menschen sind darauf angewiesen, die Mimik des Gegenübers zu sehen, seine Gestik, seine Bewegung. Erst dadurch entsteht ein vollständiger kommunikativer Deutungsrahmen. Wir brauchen das Gegenüber zur Kommunikation. Erst dadurch kommt es zur sozialen Interaktion. Wenn man Menschen das verweigert, dann treibt man sie in die Depression und in die soziale Vereinsamung. Man kann auch an Einsamkeit sterben. Es gibt bereits die ersten Suizidfälle aus Verzweiflung über die momentane Schieflage – und aus Angst. Angst einerseits vor dem Coronavirus, verstärkt durch Endlosschleifen aus New York oder Bergamo.
„Meinungsbildung entsteht, indem sich Menschen einander körperlich begegnen, indem sie sich gegenübersitzen, in einer Debatte.“
Knapp über 40 Prozent der Haushalte in Deutschland sind Singlehaushalte. Das sind Leute, die vielleicht mal über Facebook etwas posten. Das kann jedoch nie die persönliche unmittelbare Begegnung ersetzen. Auch in unserem digitalen Zeitalter lässt sich das Bedürfnis nach unmittelbarer körperlicher Interaktion nicht ausschalten. Ich halte es für mit der Menschenwürde nicht vereinbar, dass in Italien sterbende Menschen nicht mehr besucht werden dürfen – dass sie stattdessen ihr Smartphone vor das Gesicht gehalten bekommen und sich so verabschieden können. Dabei wurden sie zum Teil noch von der Presse fotografiert. Wer auf solche Ideen kommt, bei dem stellt sich die Frage, welche menschlichen Maßstäbe noch gelten.
Die bestehenden Bruchlinien in unserer Gesellschaft – etwa die Kluft zwischen Politik und allgemeinem Volk, zwischen etablierten Medien und Volk, die Kluft zwischen Einkommensklassen, die Kluft zwischen Kleinunternehmertum und gigantischen Tech-Unternehmen – werden durch diese Krise verbreitert. Ein wachsender Teil der sozialen Interaktionen wird infolge der Coronakrise nun über die die digitalen Medien vermittelt. Das könnte ein Nebeneinanderher-Leben isolierter Menschen forcieren, die in ihren begrenzten Echokammern gefangen sind. Bereitet das schweren zukünftigen Konflikten den Boden?
Wir haben es in der Tat mit einer Krise zu tun, welche die Konflikte, Verwerfungen, Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft noch einmal mit aller Erbarmungslosigkeit offenlegt. Der Soziologe Steffen Mau hat das in einem anderen Zusammenhang einmal „Frakturen“ genannt. Er spricht von Brüchen in unserer Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass der Gesellschaft immer neue Frakturen hinzugefügt werden, ohne dass man bedenkt, was das für deren Stabilität auch langfristig bedeutet. Wenn Sie mehrere Knochenbrüche haben, dann ist die Stabilität Ihres Körpers irgendwann hin. Und die gesellschaftlichen Bruchlinien kommen in dieser Krise mit großer Wucht zum Vorschein.
Es wird auch viel von der neuen Solidarität gesprochen, da sei so etwas wie eine neue Bewegung in Deutschland zu sehen. Wenn man sich aber die Betrugsfälle bei den Auszahlungen anschaut, die hochgeschossenen Preise für Masken, die Hamsterkäufe, dann erkennt man, dass eher der Egoismus sichtbar wird, der vom Kapitalismus ja gefördert wird. Es gibt gewiss solidarische Nachbarschaftshilfen. Die eigentliche Solidarität aber, das Mitmenschliche untereinander, wird jedoch systematisch unterbunden, durch Eindämmungsverordnungen auch noch bestraft.
Eine letzte Frage an Sie als Historiker: Halten Sie das, was wir momentan erleben, eigentlich für sogar menschheitsgeschichtlich einmalig?
In der Tat. Wir hatten in Deutschland selbst in Kriegszeiten noch nie ein komplettes Gottesdienstverbot für alle Religionen, wir hatten noch nie einen kompletten Shutdown der Schulen. Selbst in schwierigsten Kriegszeiten, selbst unter den Bedingungen der Diktatur, wurden Schulen offen gehalten. Auch in der Nachkriegszeit gab es nur zum Teil Ausfälle. Wir hatten noch nie eine derartige Einschränkung der Versammlungsfreiheit, wo selbst auf die 1.-Mai-Demos, selbst auf die Ostermärsche verzichtet wird.
Wir haben es insgesamt mit einem menschheitsgeschichtlich einmaligen Experiment zu tun, bei dem man zeitgleich über drei Milliarden Menschen unter Quarantäne stellt. Es ist einmalig, dass man das, was man früher gefördert hat – den sozialen Kontakt und das Miteinander –, systematisch unterbindet und es sogar mit Strafen belegt. Ich bin unsicher, wie dieses Experiment ausgeht. Jedenfalls sollte in dieser für unsere Freiheit und Demokratie gefährlichen Zeit jeder Bürger seine Stimme erheben und sich dauerhaft engagieren.
Das Interview führte Kai Rogusch am 16. April 2020. Aktuelle Einschätzungen von René Schlott finden Sie in diesem Interview bei Gunnar Kaiser.