01.09.2006

Liegewiese - Ballspiele nicht gestattet!

Analyse von Katharina Rutschky

Widerstand ist zwecklos - gegen Bürokratismus hilft nur Anarchismus.

„Die Schwierigkeit besteht darin, nur notwendige Gesetze zu erlassen und diesem wahrhaft konstitutiven Prinzip der Gesellschaft treu zu bleiben, wachsam zu sein gegen die Wut des Regulierens, die unheilvollste Krankheit moderner Regierungen.“

(Mirabeau d. Ä. (1715–89) in: „Sur l’éducation publique“)

„Es wird niemals einen freien und aufgeklärten Staat geben, ehe der Staat nicht den Einzelnen als die höhere und unabhängige Macht anerkennt, aus der seine eigene Macht und Autorität nur abgeleitet ist.“

(Henry David Thoreau (1817–62) in „Ziviler Ungehorsam“)

Im Berliner Tiergarten stößt man noch heute auf das Schild „Liegewiese – Ballspiele nicht gestattet“. Irgendwann in den 60er-Jahren fingen die Bürger nämlich an, den Rasen zu betreten. Nur zähneknirschend markierte das Gartenamt nun einige Flächen als „Liegewiese“, kompensierte aber die Abtretung der absoluten Grünherrschaft wenigstens durch ein neues Verbot. Vergebens. Im Zeichen eines stillen, aber hartnäckigen bürgerlichen Anarchismus ist die Parkordnung weiter erodiert: Die Leute legen sich hin, wo es ihnen gefällt, oft splitternackt, Ballspiele kommen auch vor, und inzwischen ignoriert das Volk der Jogger im Verein mit streunenden Spaziergängern zur Empörung der Behörde sogar das gepflegte Wegenetz und hat den Park mit „Trampelpfaden“ durchzogen, die selbst mit höflichen Appellen und Zäunen nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind. Auch Hunde laufen frei, obwohl das Gesetz ihre Ausführung nur an einer exakt zwei Meter langen Leine gestattet.

Die Polizei hat sich längst als Gesetzeshüter zurückgezogen und wird heute von sporadisch auftretenden Mitarbeitern eines so genannten Ordnungsamtes ersetzt. Wie leidenschaftlich mancher Berliner die Verschandelung des öffentlichen Raums (Grafitti, Müllablagerungen an der Bordsteinkante etc.) auch in Leserbriefen beklagt, so verhasst sind diese ABM-Kräfte, die dem Bürger vorschriftliches Benehmen beibringen sollen. Er hat nämlich kein schlechtes Gewissen, wenn er im Park oder sonst wo gegen Gesetze verstößt, die den eigenen Interessen ebenso widersprechen, wie sie seine Vernunft und sein Verantwortungsbewusstsein verhöhnen.

Die Leute sind gescheiter und moralischer, als die Kultur des Alarmismus in den Medien suggeriert und Politiker zu immer neuen, flächendeckenden Sicherungsmaßnahmen inspiriert, die heute nicht Widerstand wecken, sondern den bürgerlichen Anarchismus. Man verhält sich pragmatisch und lässt sich dabei nicht erwischen.

Wer kann es Klienten des Wohlfahrtsstaats, großen und kleinen Firmen, Dienstleistern und Steuerzahlern im Ernst verübeln, wenn sie ihren Grips auch darauf verwenden, ein System auszutricksen, das angeblich das allgemeine Beste vertritt, ihre Interessen aber ebenso wie ihr individuelles, praktisches Verhalten nur als Bedrohung versteht und zunehmend zum Mittel der fürsorglichen Bevormundung, ja sogar der Kriminalisierung greift? Gegen das populäre Konzept des „Sozialmissbrauchs“ zum Beispiel hat Kurt Biedenkopf kürzlich zu Recht eingewandt: Was im großen Rahmen als „Strukturanpassung“, wohl gar als zukunftsweisende Reform mit allen Nebenkosten da oben beschlossen werde, könne auf der individuellen Handlungsebene doch nicht als Betrug am Gesellschaftsvertrag interpretiert werden.

Wer hat diesen Vertrag schon geschlossen – selbst einen so kleinkarierten, wie er in manchen Bundesländern für einbürgerungswillige Zuwanderer obligat werden soll? Eine unterstellte nationale Wertegemeinschaft, die sich mit Prüfungen so defensiv positioniert, hat noch nicht begriffen, dass wir in einer „Gesellschaft von Individuen“(Norbert Elias) leben und sie nur um den Preis der Reaktion hintergehen können. Die Parole „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ taugt nicht für die Zivilgesellschaft. So produktiv das Misstrauen von Individuen, ihre Kritik und ihr Engagement sein können, so wenig ist es der Zwang der Politik und der Institutionen zu gesetzesförmigen, flächendeckenden Regeln. Er lähmt nicht nur die Wirtschaft, die immerhin protestiert, sondern behindert die soziale Evolution, wogegen der bürgerliche Anarchismus stumm opponiert.

Es hat Gründe, weshalb Berufspolitiker so gering geachtet sind, Justiz und Verwaltung misstraut wird, die Bürokratie, derer sie sich bedienen, zu einem Hasswort geworden ist. Professionell ausgeübte Politik, Bürokratie und Rechtsstaatlichkeit, die an sie anschließt, waren einmal progressiv. Max Weber hat das alles schön beschrieben. Bürokratie fußte auf Sachkenntnis, war aktenförmig und also nachprüfbar und justiziabel. Sie war Beamten anvertraut, die neutral jedem Bürger dienten und das auch in Unabhängigkeit von parteilichen Eingriffen mächtiger Interessengruppen tun konnten. Weber interessierte sich ganz objektiv für Herrschaftsformen, obwohl er die Demokratie als eine neue nach seinem frühen Tod 1920 nicht mehr in vivo studieren konnte. Einen Nachfolger hat er nicht gefunden, der uns die Demokratie nicht bloß als einen Wert, sondern als eine besondere Herrschaftsform nüchtern und neutral erklären könnte.

Eine Herrschaftsform ist die Demokratie nämlich, so wie alle ihre Vorgänger. Sympathisch mit dem allgemeinen Wahlrecht, mit der Verpflichtung auf das allgemeine Beste und dem Willen der Politik, die Volksbeglückung zum Ziel des Handelns zu erheben. Es ist auch sympathisch, aber auch billig, sich über die Missachtung der Presse- und Meinungsfreiheit in China, über Menschenrechtsverletzungen irgendwo auf dem Globus zu echauffieren. Die Probleme haben wir nämlich gelöst, ohne das einheimische begriffen zu haben, das sich in Politikverdrossenheit, Pessimismus und Resignation fühlbar macht.

Bürgersprechstunden, Bürgerbeteiligung bei Planungsmaßnahmen, das wiederholte Versprechen auf Bürokratieabbau nebst einer neuen Verwaltungssprache, die auch Nicht-Juristen verständlich ist – all das sind Versuche der demokratischen Herrschaftsform, der Unlust einer Gesellschaft von Individuen entgegenzuarbeiten. War ich zur Europawahl nicht ausdrücklich sogar mit Hund geladen? War das nun ein Signal der Verzweiflung seitens der Berufspolitiker oder kündet dieses Entgegenkommen von einem Wandel zum Respekt und der Achtung vor dem kompetenten Bürger, dem man nicht mehr von vornherein unterstellt, den öffentlichen Frieden zu gefährden? Richtig ist natürlich auch, dass Neonazis in den Genuss unserer Meinungs- und Demonstrationsfreiheit kommen. Also darf mein Hund auch mit ins Wahllokal.

Das höchste Gut, auf das sich eine fiktive Gesellschaft mit einem fiktiven Gesellschaftsvertrag in Übereinstimmung mit den alarmistischen Medien, den von ihnen abhängigen Berufspolitikern und einer traditionellen Verwaltung geeinigt hat, ist die Sicherheit. Wer da einmal googelt, wird die Zahl von 145 Mio. Eintragungen bei diesem Stichwort mit einem besseren kaum toppen können. Richtig ist, dass ein moderner Staat sich vorzüglich durch die Gewähr innerer und äußerer Sicherheit legitimiert.

„Es ist still geworden um die Vogelgrippe“, las ich neulich, und der Satz war nicht ironisch gemeint. Nun ja, von BSE hat man auch nichts mehr gehört, so wenig wie von anderen Bedrohungen, derer sich die Politiker zum Schutz der Bevölkerung prompt annahmen. Das Ganze immer nach der medien- und bürokratiekompatiblen Devise: Man kann sich nie genug aufregen und nicht vorsichtig genug sein! Wegen der Vogelgrippe geriet die Landrätin von Rügen (dort wurde die Grippe zuerst entdeckt) unter Beschuss. Sie hatte es versäumt, wegen einer infizierten Katze und einigen Schwänen den Katastrophenalarm auszulösen. Man unterstellte ihr sofort eine interessengeleitete, ja kriminelle Verantwortungslosigkeit, die den Tourismus über die Seuchengefahr stellt. Die Vogelgrippe ist längst durchgewinkt – mit dem Kollateralschaden dieser Hysterie, an dem sich Unzählige gütlich taten und wichtig machten, muss die Region, die vom Tourismus lebt, in dieser Saison irgendwie zurechtkommen.

Vereinzelte Fälle von Kindesmisshandlung haben Politiker und allzeit wache Lobbyisten, ganz im Sinne dieses Musters von Fürsorge, Prävention und bürokratischer Herrschaft, auf die Idee gebracht, die neunmalige Überprüfung von Kindern vor ihrer Einschulung zur Pflicht zu erheben. Gleichzeitig erfuhr man aber, dass die bisher übliche Schuleingangsprüfung der Behörden dazu geführt hat, das Schulalter der Kinder enorm zu erhöhen, ohne aber ihren Schulerfolg zu heben. Wir verdanken es PISA, dass inzwischen jedes Kind eingeschult wird, das die Eltern für schulreif halten. Natürlich gegen den Protest der Ämter, die bisher mit der Schuleingangsprüfung ein bisschen herrschen konnten. Wie nicht anders zu erwarten, berufen sie sich auf das Gute, die wahren Interessen der Kinder, die die Eltern aus Dummheit oder egoistischen Gründen vernachlässigen.

Die gewählten Volksvertreter verhalten sich einerseits, als ob sie den Wählerauftrag erfüllen, der auf das gemeine Beste zielt – andererseits behandeln sie die Menschen wie Kinder, die zum Guten überredet, notfalls auch gezwungen werden müssen. Jüngstes Beispiel für die Verwicklung in Fürsorge, Sicherheitsdenken für andere und arglose Selbstherrlichkeit demokratischer Machthaber ist das Rauchverbot. Hier fährt man dreigleisig. Man hat die Sünder schon länger drastisch über den Schaden aufgeklärt, den sie sich selbst zufügen, und die Zigaretten zur Strafe enorm verteuert. Weil weiter geraucht wird, hat man die „Passivraucher“ entdeckt, die von Rauchern nicht nur gestört, sondern angeblich auch tausendfach zu unschuldigen Opfern gemacht werden. Ist ein flächendeckendes Rauchverbot die Lösung? Wohin die schöne Sitte, dass man fragt, ob man rauchen darf, und woher das Misstrauen in die Menschen vor Ort, die sich doch selber irgendwie einigen können?

Es ist ein symptomatischer Fehler unserer Volksvertreter, dass sie an große Lösungen glauben, solche, die nach Erörterungen in Experten- und Ethikkommissionen gesetzlich verabschiedet und dann vor dem Verfassungsgericht oder gar auf EU-Ebene einklagbar, justiziabel wären.

So läuft es, aber so läuft es falsch und jedenfalls vorbei am kompetenten Bürger, der macht, was er will und seine Intelligenz ziemlich oft darauf verwendet – ob es sich um Steuern, Schwarzarbeit, Sozialleistungen oder Parkordnungen oder sonst etwas handelt –, sich nicht erwischen zu lassen bei Gesetzesverstößen, die sein Gewissen nicht um ein Gramm belasten. Jenseits der offiziellen Politik gibt es die Praktik des bürgerlichen Anarchismus. Frontaler Widerstand gegen ein offizielles und immer gut gemeintes allgemeines Rechts- und Ordnungsdenken ist nicht nur frustrierend, sondern auch zwecklos.

Neben dem schon fast traditionellen Kinder- und Jugendschutz sind Natur-, Verbraucher- und Gesundheitsschutz, überfüttert vom generellen Sicherheitsdenken, heute das vorzügliche Einfallstor für eine neue autoritäre Politik, die dem Bürger misstraut und seine Freiheit ebenso missachtet, wie es der wilhelminische Obrigkeitsstaat vor 100 Jahren getan hat. Auch die Demokratie ist eben eine Herrschaftsform, die man beobachten und kritisieren muss.

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