06.01.2014

„Sprechen ist auch ein anarchistischer Akt“

Interview mit Jan Fleischhauer

Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer erklärt nicht nur den Zusammenhang von Political Correctness und Opfermentalität, sondern auch, warum heute jeder, der gegen das Establishment aufbegehren will, die Linke attackieren muss

Herr Fleischhauer, in Ihrer Spiegel-Online-Kolumne „Der schwarze Kanal“ setzen Sie sich auch kritisch mit Phänomenen der sogenannten „Political Correctness“ auseinander. Was haben wir unter diesem Begriff zu verstehen?

Der Begriff taucht erstmals in den achtziger Jahren in Amerika auf, als Selbstbeschreibung eines akademischen Milieus. Es geht darum, das Augenmerk auf die Empfindlichkeiten von Minderheiten zu richten und diesen Sensibilitäten Rechnung zu tragen. Dabei wird erstmals zwischen politisch korrektem und inkorrektem Sprechen unterschieden. Der erste Journalist, der diesen Trend meines Wissens einem breiten Publikum bekannt machte, war Richard Bernstein 1990 in der New York Times. In literaturwissenschaftlichen Seminaren sollte gegenüber dem klassischen Kanon, der an den Universitäten unter dem Oberbegriff „Western Civilization“ firmierte, etwas Neues etabliert werden, nämlich ein Curriculum, das Literatur von Frauen und vor allem aus dem nicht-europäischen Kulturkreis mit einbezog. Man sieht dann, dass in den Neunzigern der Begriff von der anderen politischen Seite okkupiert wird, und zwar als Kampfbegriff. Konservative Kritiker behaupten, mit Hilfe der Political Correctness werde versucht, bestimmte Sprachhandlungen zu zensieren oder auszugrenzen, Diskursräume zu bestimmen und enger zu machen. Das ist die Bedeutung von Political Correctness, wie sie sich heute durchgesetzt hat.

„Moralische Abwertung ist das schärfste Schwert, das wir im öffentlichen Sprechen besitzen. Man entzieht sich damit der Notwendigkeit, sich mit dem von anderen Vorgebrachten argumentativ auseinanderzusetzen.“

Was genau stört Sie daran?

Zunächst stört es mich immer, wenn in öffentlichen Debatten versucht wird, die Argumente der Gegenseite von vornherein dadurch zu diskreditieren, dass man sie moralisch abwertet. Diese moralische Abwertung ist das schärfste Schwert, das wir im öffentlichen Sprechen besitzen. Man entzieht sich damit der Notwendigkeit, sich mit dem von anderen Vorgebrachten argumentativ auseinanderzusetzen. Die Moralisierung des politischen Lebens ist ein Kennzeichen unserer Zeit. Wenn Sie so wollen, ist es eine Aufgabe meiner Kolumne, dagegen anzuschreiben. Wir erleben heute, dass tendenziell aus jeder politischen Frage, die ja zunächst lediglich auf einen auszutragenden Interessengegensatz verweist, ein Kampf zwischen Gut und Böse gemacht wird. Dabei ist Political Correctness ein probates Mittel der Empörungsverstärkung.

Scheinbar haben Moraldebatten in der Politik besonders in den letzten Jahren stark zugenommen. Besteht ein Zusammenhang zur politischen Korrektheit?

Ich bin seit 25 Jahren im politischen Beobachtungsgeschäft. Es ist immer verführerisch, zu denken, wir würden gerade jetzt die Klimax einer politischen Fehlentwicklung erleben. Irgendwie war die Vergangenheit immer besser. Früher habe man viel freier geredet, heißt es. Ich bin mir da nicht so sicher, jedenfalls haben wir keine Statistik zur Hand, die diesen Befund stützen würde.

Was sich sicherlich geändert hat, ist die Qualität von Affären. Nehmen Sie einen Politiker wie Franz-Josef Strauß: Es war zu seiner Zeit nie ein Thema, dass sich der Mann seine gesamte private Autoflotte mutmaßlich von BMW hat sponsern lassen. Heute sind wir auf der Ebene der vergessenen Fußnote angekommen. Es ist ein fabelhaftes Beispiel für moralisierende Politik, wenn im Bundestag allen Ernstes eine aktuelle Stunde abgehalten wird, um mangelhafte Quellenhinweise in der Doktorarbeit einer Ministerin zu debattieren.

Die ultimative Überhöhung liefert dann der Auftritt des Redners von den Grünen, er sehe das Land auf dem Weg in eine andere Republik. Das ist der Überschlag in den Karneval – zumal es ja immer komisch ist, wenn Menschen, die vor nicht allzu langer Zeit noch den Verzicht auf das Deodorant und das „Sie“ in der Anrede als revolutionären Akt gefeiert haben, sich nun besorgt um den Verfall bürgerlicher Sitten zeigen.

Jüngst gab es Debatten um die Anrede „Herr Professorin“ an der Uni-Leipzig, den Begriff „Zigeunerschnitzel“ oder ob man in Kinderbüchern noch Wörter wie „Neger“ schreiben darf. Häufen sich neuerdings die Diskussionen über politisch korrekte Sprache oder täuscht das?

Die Sprache ist das bevorzugte Feld der Political Correctness. Das Binnen-i gibt es seit den neunziger Jahren. Wer wirklich progressiv sein will, schreibt inzwischen mit dem Gender-Star, der das sogenannte dritte Geschlecht inkludieren soll.

Man sollte das nicht zu ernst nehmen. Es handelt sich dabei doch eher um Verstiegenheiten eines bestimmten Milieus. Ich glaube, wir sehen hier bereits eine Spätfolge des enormen Ausbaus entsprechender Professuren an deutschen Hochschulen. Wir haben heute 136 Gender-Professuren in Deutschland, damit haben die Gender Studies sogar die Slawisten hinter sich gelassen. Die Frage ist nur, was die ganzen Leute, die das studiert haben, nun eigentlich genau treiben sollen. Die Antwort lautet Sprachkritik – irgendetwas muss man ja mit seinem mühsam erworbenen Wissen machen.

Das hat ein ganz neues Feld des Sprachpuritanismus eröffnet, wie zuletzt die Kinderbuch-Debatte gezeigt hat. Der Versuch der Bereinigung von Kinderbüchern ist nicht völlig neu, aber wir treiben die Sache immer weiter, bis selbst Klassiker der Kinderliteratur, die in jedem grünen Haushalt stehen, in Verdacht geraten. Wie sich zeigt, lässt sich für jede Sache irgendein Irrer finden, der sie vertritt. Gerade erst wurde die Forderung erhoben, Zigeunersoße aus dem Handel zu nehmen. Zum Glück gibt es dann auch unter den Betroffenen Leute, die sich ihren Verstand bewahrt haben. Wir hatten dazu ein Interview auf Spiegel Online mit dem Vize-Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Silvio Peritore, der dezidiert der Meinung war, dass die Welt kein besserer Platz wird, indem man die Zigeunersoße vom Tisch nimmt.

„Der Begriff der Political Correctness ist heute keine Selbstbeschreibung der Linken mehr, sondern ein pejorativ gemeinter Begriff der anderen politischen Seite.“

Was trägt neben der bereits angesprochenen Moralisierung der Politik und dem Boom der Gender-Studies noch zur wachsenden Bedeutung des politisch korrekten Denkens in Deutschland bei?

Da gibt es mehrere Trends. Neben den genannten Versuchen zur Etablierung einer PC-Kultur gibt es zugleich eine starke Gegenbewegung. Wie gesagt, ist der Begriff der Political Correctness heute keine Selbstbeschreibung der Linken mehr, sondern ein pejorativ gemeinter Begriff aus dem anderen politischen Lager. Zahllose Aufsätze beklagen den linken Tugendfuror und sehen überall Diskurswächter am Werk – was ich so übrigens nicht teile. Jedenfalls ist das ein Symbolfeld, das auf beiden Seiten starke Emotionen weckt. Das beschränkt sich nicht auf die Linke.

Ich sehe das auch immer wieder in der Reaktion auf meine Kolumnen. Gerade die Kolumnen, die dezidiert vom politisch korrekten Sprechen handeln, waren enorm erfolgreich. Sie wurden, wie man an den Einträgen der Leser sehen kann, sowohl von Leuten gelesen, die mir entschieden widersprechen, als auch von denjenigen, die mir aus ganzem Herzen zustimmen.

Wir haben hier eines der wenigen Symbolthemen, über das unsere Gesellschaft noch verfügt. Der Kampf um die Atomkraft ist genauso erledigt wie der Streit um die Frage, wem wir unsere Kinder anvertrauen. Wenn ich den Streit um das Betreuungsgeld richtig verstanden habe, dann haben wir uns darauf geeinigt, dass sie am besten schon ab dem ersten Lebensjahr vom Staat erzogen werden. Der Mindestlohn ist faktisch bis in die hintersten Quartiere der CDU durchgesetzt, und ich bin mir sicher, dass die nächste Steuererhöhung von Angela Merkel kommt. Die korrekte Sprache ist also tatsächlich eines der letzten Symbolfelder politischer Auseinandersetzung.

„Tabuzonen sind für Gesellschaften wichtig, ohne sie wäre eine kommunikative Ethik nicht möglich. Aber natürlich stellt sich die Frage, wie groß sie sein müssen.“

Zur konservativ-traditionalistischen Kritik an der Political Correctness: Wenn man etwa an die Sarrazin-Debatte zurückdenkt, hieß es in diesem Zusammenhang immer wieder, eine einflussreiche linke Kulturelite instrumentalisiere die politisch korrekte Sprache um politische Gegner mundtot zu machen. Was halten Sie davon?

Sarrazin ist die Paradefigur dieser Kritik, die ich für eine Zwangsvorstellung halte. Zunächst gilt: Jede Gesellschaft braucht Tabuzonen, es hat sie immer gegeben. Man findet sie bereits im antiken Griechenland, der Wiege der Demokratie, etwa in den Schriften des Aristoteles zur Politik. Argumente, die diese Tabuzone verletzen, verdienen seiner Meinung nach kein Gegenargument mehr, sondern nur noch die Zurechtweisung. Dazu gehörten seinerzeit respektlose Bemerkungen gegenüber den Göttern und den Eltern.

Eine heutige Tabuzone, deren Übertretung einen sofort in allergrößte Schwierigkeiten bringt, ist der Holocaust und alles, was damit zu tun hat. Jeder Versuch, den Mord an den Juden in Europa zu relativieren oder herunterzureden, bringt Sie – und das aus gutem Grund – in Teufels Küche. Man steht damit außerhalb der Sphäre, in der ein größeres Publikum bereit wäre, sich vernünftig mit einem auseinanderzusetzen. Andere Gesellschaften haben aufgrund ihrer Geschichte andere Tabus – in Amerika beispielsweise sollten Sie alles mit großer Vorsicht ansprechen, was mit Rasse zu tun hat.

Solche Tabuzonen sind für Gesellschaften wichtig, ohne sie wäre eine kommunikative Ethik nicht möglich. Aber natürlich stellt sich die Frage, wie groß sie sein müssen. Und damit kommen wir zur Annahme der Konservativen, dass diese Verbotszonen vom politischen Gegner ständig ausgeweitet würden, um sich so diskursive Geländegewinne zu erschleichen. Das gipfelt dann unweigerlich in der Formulierung: „Das muss man doch noch sagen dürfen“ und den Hinweisen darauf, was man in Deutschland heute angeblich alles nicht sagen darf. Ich muss gestehen, ich kann an dem Punkt nicht ganz folgen. Gerade Sarrazin ist ein eigentümlicher Beweisfall. Ein Mann, der 1,5 Millionen Bücher verkauft hat, in jeder relevanten Talkshow des Landes mindestens dreimal aufgetreten ist und der vor Publikation seines Buches einen Vorabdruck in Bild und Spiegel hatte, den beiden publikumsreichsten Organen des Landes, beklagt sich darüber, dass er nicht an der öffentlichen Debatte teilnehmen darf und wird von anderen dafür hochgehalten. Ein echtes Phantasma.

Was steckt hinter diesem Phantasma, das ja durchaus auch verschwörungstheoretische Züge trägt?

Das ist gewissermaßen das Spiegelbild zu den Bilderberger-Konferenzen, wo die Mächtigen zusammensitzen und unsere Geschicke bestimmen. Hier soll es nun die Elite linker Meinungsdiktatoren sein, die jeden vernünftigen Geist aus dem öffentlichen Diskurs zu eliminieren versucht. Solche Verschwörungstheorien machen sich immer gut, um vom eigenen Versagen abzulenken. Ist man, wie ich, gegen die Opferfigur auf der Linken, also gegen die Art, sich als Mitglied einer Minderheit darzustellen und daraus bestimmte Rechte und Rücksichtnahmen abzuleiten, kann man auf der anderen Seite nicht hingehen und genau das für sich verlangen. Indem sich die Konservativen in die Rolle des Opfers und der Ohnmacht einfinden – die übrigens wahnsinnig unsexy ist –, machen sie sich zum Spiegelbild dieser Art linker Minderheitendiskurse.

Die Frage ist nun, welchen Mehrwert man sich davon verspricht. Ein Mehrwert liegt offenkundig darin, dass man innerhalb der öffentlichen Debatte Anteilnahme findet. Wenn jemand seine Schicksalsgeschichte ausbreitet, dann sind wir darauf trainiert, erst mal ergriffen zuzuhören. Das funktioniert bei Sarrazin genauso. Er darf sich endlos darüber ausbreiten, was ihm angeblich alles Schlimmes widerfahren ist und das Publikum lauscht andächtig. Der zweite Mehrwert ist die Schuldverlagerung. Nichts ist entlastender als die Annahme, dass man für das eigene Unglück nicht selber die Verantwortung trägt. Wenn Sie zum Beispiel kein Gehör finden oder nicht publiziert werden, dann liegt das dieser Entlastungsstrategie zufolge nicht mehr daran, dass Sie vielleicht Ihre Gedanken nicht klar zu Papier bringen können oder einfach langweilig sind. Nein, es ist das linke Meinungskartell, das Ihren Auftritt vor der Öffentlichkeit sabotiert. Das ist genau die gleiche Figur, wie sie auf der Linken umgekehrt funktioniert. Da ist es dann eben das Patriarchat oder das System, das Sie daran gehindert hat, Ihre Wünsche und Hoffnungen, die Sie für ihr Leben hatten, zu erfüllen.

„Die Einrichtung in der Opferrolle steht dem aufklärerischen Ziel der Emanzipation also fundamental im Wege. Und Emanzipation ist doch genau das, was wir anstreben.“

Was ist problematisch an diesem Denken?

Das Opferdenken ist auch deshalb eine Sackgasse, weil es dazu verleitet, in der Opferrolle zu verharren. Jeder gute Therapeut wird Ihnen sagen: Wer tatsächlich zum Opfer einer traumatischen Erfahrung geworden ist, also etwa eines Gewaltaktes oder anderer schwer beeinträchtigender Ereignisse, sollte aus dieser Rolle möglichst schnell herausfinden und sie hinter sich lassen. Der gute Therapeut wird gerade nicht dazu raten, sich in die Talkshow zu setzen und immer und immer wieder das Schicksal des missbrauchten Jungen aus einem katholischen Internat zu schildern, der bis heute nicht darüber hinweg kommt, dass er einmal unsittlich berührt wurde. Die Einrichtung in der Opferrolle steht dem aufklärerischen Ziel der Emanzipation fundamental im Wege. Und Emanzipation ist doch genau das, was wir anstreben sollten.

Wie können wir als Gesellschaft von dieser jämmerlichen Grundhaltung wegkommen?

Es wäre mit Sicherheit nicht ganz falsch, mit Nachdruck zu versuchen, medial seinen Punkt zu setzen, sofern man sich dazu berufen fühlt. Ich werde oft von Leuten eingeladen, die dem RCDS nahe stehen, den Jungen Liberalen oder anderen Jugendorganisationen, die es in ihrem Umfeld nicht ganz leicht haben. Und die ermuntere ich dann, übrigens mit dem Hinweis auf die 68er, frisch und fröhlich und auch angriffslustig ihre Meinung zu vertreten.

Zum einen hilft es, glaube ich, wenn man Humor hat – dazu darf auch eine gewisse Selbstironie gehören. Aber ebenso wichtig sind Angriffslust und Kampfeswille. Von den 68ern kann man diesbezüglich viel lernen. Sie sind ja damals nicht als Herrschaftsformation gestartet, sondern als Protestbewegung. Das mediale Klima Ende der Sechziger war nachweislich gegen sie gerichtet, und zwar überwiegend. Am Ende haben sie sich durchgesetzt, heute bilden sie die kulturell dominierende Herrschaftsformation. Daher sage ich jedem jungen Menschen, der das Privileg hat, gegen das Establishment aufbegehren zu können: Wenn Du aufbegehren willst, dann musst du gegen die Linke sein! Denn die Linke ist zum Establishment geworden und stellt, jedenfalls in Deutschland, die kulturelle Hegemonialmacht dar.

Sind die politischen Diskurse über politische Korrektheit, gender-sensible Sprache und ähnliches letztlich nicht sehr auf ein bestimmtes akademisches, bildungsbürgerliches Milieu beschränkt, während der Rest der Gesellschaft sie eigentlich für irrelevant hält?

Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Die meisten Deutschen machen solche Verrenkungen gar nicht mit. Denn oft wissen sie nicht einmal, dass es überhaupt den Zwang dazu gibt. Dass man jemanden mit schwarzer Hautfarbe heute nicht mehr als Neger bezeichnet, wenn man ihm gegenüber tritt, das wissen die Leute. Auf diese Empfindlichkeiten nimmt man selbstverständlich Rücksicht. So wie man auch auf Beschimpfungen von Italienern, Spaniern oder anderen Ausländern verzichtet, jedenfalls wenn sie dabei sind.

Aber der doch hochspezialisierte Diskurs über den aktuellen Stand der Gendersprache ist auf ein universitäres Milieu beschränkt. Und da wird er wohl auch immer bleiben. Von dort aus hat er lediglich Eingang in die Verwaltungs- und Behördensprache gefunden, und das nicht zufällig. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel, wo nun ja auch zu unser aller Glück der Fortschritt in Form der rot-grünen Landesregierung Einzug gehalten hat, werden bereits alle Gesetze in gendergerechter Sprache abgefasst. Man hat das Gender-Budgeting eingeführt, die Schulbücher werden daraufhin durchsucht, ob nun Mädchen und Jungen in gleicher Zahl repräsentiert werden.

Irgendwann wird das zwar auch die Bürger erreichen, aber das heißt nicht, dass sie selber anders sprechen werden. Das wird nie funktionieren, denn der Mensch tendiert dazu, in der Sprache zu verkürzen. Sprechen ist auch ein anarchistischer Akt. Deshalb funktioniert ein derart elaborierter Code nur da, wo gewissermaßen menschliche Sprechmaschinen ins Werk gesetzt werden. Sobald ich mich auf der Straße unter normale Leute begebe, bricht das System zusammen.

„Angegriffen habe ich die irrige Hoffnung, wenn wir die Sprache verändern, müsste das automatisch auf die Wirklichkeit zurückwirken.“

Auch ohne den Einfluss politisch korrekter Sprachpuritaner wäre Sprache natürlich immer einem gewissen Wandel unterworfen. Wie stehen Sie dazu?

Interessant finde ich hier ein Missverständnis in der Schulbuch-Diskussion. Einige Kolumnisten wie ich oder Harald Martenstein von der Zeit haben sich darüber lustig gemacht, dass nun in den Büchern von Otfried Preußler die Verkleidungen der Kinder als Chinesen, Türkenmädchen oder Neger, wie es dort noch unbedacht heißt, geändert werden müssen. Manche auf der anderen Seite saßen danach dem Missverständnis auf, Leute wie ich wollten nun das in Ungnade gefallene Wort im allgemeinen Sprachgebrauch retten, nach dem trotzigen Motto: „Das lassen wir uns doch von den Linken nicht nehmen, dieses schöne Wort ‚Neger‘.“

Großer Unsinn! Ich würde niemals jemandem gegenüber ein Wort benutzen, das er als diffamierend empfindet, es sei denn, ich will ihn beleidigen. Da kann ich tausendmal sagen, das sei doch noch in den sechziger Jahren völlig unproblematisch gewesen: Wenn es das heute nicht mehr ist, habe ich das zur Kenntnis zu nehmen. Und wenn morgen das Wort „schwarz“ als diskriminierend gilt, dann werde ich dieser Bedeutungsverschiebung in meinem Alltag ebenfalls Rechnung tragen.

Angegriffen habe ich vielmehr die irrige Hoffnung, wenn wir die Sprache verändern, müsste das automatisch auf die Wirklichkeit zurückwirken. Das heißt, nur weil wir jetzt ein Wort benutzen, das angeblich nicht mehr abwertend ist, soll sich gleich das Los der sich durch dieses Wort diskriminiert fühlenden Minderheit ändern. An dieser reinsten Form von Idealismus verblüfft mich vor allem, dass sie von Linken vorgetragen wird. Denn gegen den Idealismus hat Karl Marx sein Leben lang angeschrieben. Dass man den Linken ausgerechnet Marx wieder näher bringen muss, ist eine ironische Wendung in der Sprachdebatte.

Sie bezeichnen sich selbst als konservativ. Woher kommt eigentlich ihre Leidenschaft für die, wie Sie sagen, „Sonder- und Verstiegenheiten der linken Lebenswelt“?

Ein Teil meiner publizistischen Rolle ist jetzt nolens volens die Beobachtung der linken Lebens- und Gefühlswelt, da habe ich beim Spiegel meine ganz eigene Planstelle inne. Aber es ist ja auch nicht so schwierig: Die linke Welt ist meiner Ansicht nach eine wunderbare Quelle für alle möglichen Vorhaben, Projekte und Absonderlichkeiten, die man guten Gewissens aufspießen kann – ich wundere mich manchmal, dass nicht viel mehr Leute das machen. Als ich vor zweieinhalb Jahren mit meiner Kolumne „Der schwarze Kanal“ anfing, befürchtete ich, mir könnten die Themen ausgehen. Diese Sorge hat sich als unbegründet erwiesen, wie sich zeigt.

Ich sehe mich ein wenig in der Tradition der in den Achtzigern begründeten Neuen Frankfurter Schule. Es waren Autoren wie Gernhardt und Henscheid, die das Beobachtungsfeld damals deutlich erweitert haben, und zwar um das linke Milieu. Sie fanden es einfach irgendwann wahnsinnig langweilig, immer wieder die gleichen Pappkameraden wie Strauß oder Kohl vom Hocker zu stoßen, zumal die auch ziemlich weit weg waren, womit der Akt des Stoßens ziemlich futil wurde. Gerade bei der Linken klaffen Pathos und Alltag ja oft auf herrlichste Weise auseinander. Es ist der Vorteil, oder auch Nachteil, der Konservativen, dass der Anspruch an die eigene Lebensführung nicht in gleichem Maße ausgeprägt ist. Jemand wie Franz Josef Strauß wäre nie auf die Idee gekommen, zuerst dem Land zu dienen und danach erst sich selbst.

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