10.03.2017

Liberale Entschlossenheit statt populistischer Panik

Kommentar von Ivan Krastev

Titelbild

Foto: Irish Defensive Forces via Flickr / CC BY 2.0

Angesichts der Flüchtlingsströme wächst das Unbehagen vieler Menschen in Europa. Jetzt ist dringend eine politische Strategie gefordert, die Unsicherheiten abbaut.

Einem alten Witz zufolge lautet das typisch jüdische Telegramm: „Fang an, Dir Sorgen zu machen! Warum, erfährst du später.“ Dieser Spruch gibt geradezu perfekt die derzeitige Stimmung in Kontinentaleuropa wieder. Die Angst davor, dass „die vertraute Welt verschwindet oder von anderen erobert wird”, ist auf dem Kontinent weit verbreitet und färbt auf die europäische Politik ab. Europa hat sein Selbstvertrauen verloren und verfällt in demographische Panik. Die Bilder von Syrern und Afghanen, wie sie die ungarische Grenze stürmen oder vor griechischen Küsten ertrinken, haben die öffentliche Wahrnehmung gelähmt. Der Meinungsumschwung wird durch Vorhersagen der Vereinten Nationen gestützt, nach denen der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung im Jahre 2050 nur noch sieben Prozent betragen wird. Zahlreiche spontane Solidaritätserklärungen mit den vor Krieg und Verfolgung Fliehenden werden überschattet von einer wachsenden Angst, dass unser Wohlfahrtssystem und unsere Kultur gefährdet seien und dass unsere demokratischen Rechtsstaaten diese nicht zu verteidigen vermögen.

Bedrohte Mehrheiten – solche, die alles haben und deshalb alles fürchten – treten als die führenden Kräfte europäischer Politik hervor. Sie fürchten sich vor Ausländern, die die Kontrolle über ihre Länder übernehmen und ihre Lebensweise angreifen. Sie geben einer angeblichen Allianz von kosmopolitisch gesonnenen Eliten und von Stammesmentalität geprägten Migranten die Schuld an dem realen oder empfundenen Kontrollverlust über ihr Leben. In unterschiedlicher Weise und aus anderen Gründen plädieren Elite und Migranten für eine „Welt ohne Grenzen“, eine Welt, die viele Europäer zu fürchten und zu hassen beginnen.

„Europa hat sein Selbstvertrauen verloren und verfällt in demographische Panik“

Nun entstehen – ganz ähnlich wie im Jahre 2003 – zwei unterschiedliche Versionen Europas: Zentral- bzw. Osteuropa, wo der Aufstieg der bedrohten Mehrheiten am sichtbarsten ist und ethnische Homogenität als große historische Errungenschaft gepriesen wird, und Westeuropa, wo die Eliten - wenn auch nicht immer mit der Zustimmung der Öffentlichkeit – ihren liberalen Verpflichtungen treu bleiben. Während in Westeuropa Begegnungen mit der nicht-europäischen Welt vom Erbe des Kolonialismus geprägt sind, zeichnen sich zentraleuropäische Staaten dadurch aus, dass sie aus ethnischen Säuberungen und dem Zerfall von Kaiserreichen hervorgegangen sind. Daher kann in diesen Ländern die Überzeugung, dass der Kollaps des multikulturellen Projekt kurz bevorsteht, leichter Wurzeln schlagen. Zwar war Polen in der Vorkriegsära eine multikulturelle Gesellschaft, in der Deutsche, Ukrainer und Juden ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachten, heute ist Polen jedoch eine der ethnisch homogensten Gesellschaften der Welt (98 Prozent der Bevölkerung sind ethnische Polen). Für viele bedeutet die Rückkehr zu ethnischer Vielfalt daher eine Rückkehr zu den schwierigen Zeiten der Zwischenkriegszeit. Das erklärt, warum zentraleuropäische Regierungen und Gesellschaften der Idee, Flüchtlinge in der ganzen EU anzusiedeln, feindlich gegenüberstehen.

Diese Meinungsverschiedenheit zwischen Ost- und Westeuropa bei Diversitäts- und Migrationsfragen ähnelt stark der innerhalb der westlichen Gesellschaften anzutreffenden Kluft zwischen großen kosmopolitischen Hauptstädten und ländlichen Gegenden – zwei Welten, die sich zutiefst misstrauen.

Gesellschaften, die von demographischen Ängsten vergiftet werden, drohen, in die Zerrissenheit früherer Zeiten abzurutschen. Die gefährlichste Auswirkung der gegenwärtigen demographischen Panik ist die Unmöglichkeit, die Zukunft als Quelle des sozialen Zusammenhalts zu nutzen. Weil wir nicht wissen, wer wir in 50 Jahren sein werden, können Debatten über die Zukunft keine Antwort auf die Probleme der EU geben.

„Aus der Geschichte wissen wir, dass auch liberale Demokratien mit Ausnahmezuständen umgehen können“

In dieser extrem angespannten Situation wäre es naiv zu glauben, Politik hieße bloß, sich in vernünftiger Weise über die Vor- und Nachteile kultureller Vielfalt oder die ökonomischen Auswirkungen der Einwanderung auszutauschen. Die Einwanderungsproblematik kann nicht als eine rein logistische Herausforderung behandelt werden. Auch im Predigen liberaler Werte liegt keine angemessene Antwort auf die gegenwärtige Krise. Viele Menschen macht die Einwanderung nervös, nicht, weil sie andere abweisen wollen oder kein Mitgefühl mit den Flüchtlingen haben, sondern weil sie zunehmend den Eindruck gewinnen, das die freiheitlichen Demokratien unfähig sind, entschlossen auf Krisen zu reagieren, und dass die Situation außer Kontrolle gerät.

Es tun sich Parallelen zur Situation in den 1930er Jahren auf. Die Fähigkeit liberaler Demokratien, auf große soziale und politische Krisen reagieren zu können, steht auf dem Spiel. Jetzt ist liberale Entschlossenheit gefragt. Die populistische Antwort auf die Flüchtlings-Herausforderung besteht darin, Mauern und Zäune zwischen EU-Mitgliedsstaaten zu errichten und die Zivilgesellschaft für ihre exzessive Toleranz und Empathie zu rügen. Aus der Geschichte wissen wir allerdings, dass auch liberale Demokratien mit Ausnahmezuständen umgehen können.

Der Politikwissenschaftler Ira Katznelson argumentiert, dass Franklin D. Roosevelts „New Deal“ zur Rettung von Demokratie und Kapitalismus in Amerika die Einsicht zugrunde lag, dass während der Weltwirtschaftskrise eine Unsicherheit vorherrschte, deren angsteinflößendes Potential die Schwelle des üblichen, unvermeidlichen Risikos überstieg. In einer solchen Situation würde jeder Versuch, die Krise zu trivialisieren und „business as usual“ vorzutäuschen, die Öffentlichkeit radikalisieren. Stattdessen ist eine Strategie vonnöten, die Unsicherheit und Risiko reduziert. Eine ähnliche Strategie braucht die EU heute. Zwar können wir von unseren Regierungen nicht erwarten, die Menschenströme, die sich auf unsere Grenzen zubewegen, aufzuhalten. Dennoch haben wir das Recht, von ihnen zu erwarten, sich den Konsequenzen stellen und den Vorgang in geordnete Bahnen lenken.

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