24.07.2020

Kulturkrieg um die Tradition (2/2)

Von Frank Furedi

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Foto: Wokandapix via Pixabay / CC0

Seit den 1970er Jahren haben regressive politische Kräfte die Institutionen der Bildung, Kultur und sogar der Wirtschaft kolonisiert. Daraus sind die heutigen identitätspolitischen Kämpfe entstanden.

Bis vor kurzem beschränkte sich die Diskussion über den Kulturkrieg eher auf Randbereiche des öffentlichen Lebens. Oft schilderten Wissenschaftler und Kommentatoren den Kulturkampf als ein relativ unbedeutendes Phänomen oder als Episode, die der Vergangenheit angehöre. Eine Geschichte der kulturellen Konflikte in den USA, die 2015 von Andrew Hartman veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, dass die Logik der Kulturkriege erschöpft und der Begriff zur überholten Metapher geworden sei.1 Dass der Kulturkampf bei weitem noch nicht erschöpft ist, zeigte sich in den vergangenen Wochen: Zum einen im Fokus auf die „nicht-weißen“ Opfer der Covid-19-Pandemie und, vor allem, in den Black-Lives-Matter-Protesten.

Während die Realität des Kulturkrieges inzwischen weithin anerkannt ist, wird sein tiefgreifender Einfluss auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens jedoch weitgehend ignoriert. Es besteht nach wie vor die Tendenz, den Kulturkampf als einen eigenständigen, isolierten Diskurs oder Ansatz zu betrachten, der sich vom öffentlichen Leben abgrenzt. So spricht z.B. ein Kommentator vom „Kulturkrieg", als handele es sich um eine Politik, die die britischen Konservativen (Torys) bewusst förderten. Andere behaupten, der Kulturkampf sei ein eindeutig amerikanisches Phänomen, das in europäischen Gesellschaften keinen Platz habe. Oder, wie Madeline Grant es in der Zeitung The Telegraph formulierte: „Unsere Freiheit ist bedroht durch einen aus den USA exportierten Kulturkampf“.

In gewisser Weise trifft es zu, dass viele der Themen, Redewendungen und Symbole, die die heutige Kultur so stark politisieren, aus den USA kommen. Doch während der Kulturkrieg in den USA besonders intensiv geführt wird, ist er auch in Großbritannien und vielen anderen Teilen der Welt stark ausgeprägt.

Das liegt daran, dass der Kulturkampf nicht einfach nur ein politisches Phänomen unter vielen ist. Er kommt und geht nicht – auch, wenn bestimmte Themen wie die Homo-Ehe oder der Brexit in den Schlagzeilen auftauchen und dann wieder verschwinden. Vielmehr bestimmt der Kulturkrieg die heutige Politik ganz generell. Tatsächlich ist es der Politisierung der Kultur seit den 1970er Jahren gelungen, alle mächtigen Ideologien der Moderne zu marginalisieren oder grundlegend zu verändern. Konservative und klassisch-liberale Ideen – wie die Toleranz oder die Demokratie – wurden in den Schulen oder Universitäten zunehmend an den Rand gedrängt. Die Politisierung der Kultur hat auch dafür gesorgt, dass sich viele Kultureinrichtungen, von den Künsten bis zu den Medien, gegen humanistische Stimmungen und Ideale wenden – Ideale, die mit der westlichen Tradition verbunden sind und die von der klassischen griechischen Philosophie über die Renaissance bis hin zur Aufklärung reichen. Selbst die klassischen sozialistischen Ideale der Solidarität und des Internationalismus sind durch die Politisierung von Kultur und Identität zerrissen worden.

„Diejenigen, die sich prinzipientreu zu den zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit bekennen, haben in den letzten Jahrzehnten mehrere Niederlagen erlitten.“

Diese Entwicklungen nehmen im Allgemeinen die Form eines einseitigen Krieges gegen die Vergangenheit und gegen das Erbe des Westens im Besonderen an. Diejenigen, die die Bedeutung von Tradition und historischer Kontinuität hochhalten, sind permanent in der Defensive. In der Tat scheinen sie sich damit abzufinden, den Kampf um die Seele der Gesellschaft zu verlieren.

Dieser Hauch von Resignation ist verständlich. Diejenigen, die sich prinzipientreu zu den zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit bekennen, haben in den letzten Jahrzehnten mehrere Niederlagen erlitten. In ihren Vorlesungen zur Moralphilosophie von 1965 reflektierte Hannah Arendt über das Verschwinden von Werten, die einst dauerhaft zu sein schienen. Die moralischen Werte, sagte sie, die den Menschen halfen, Recht von Unrecht zu unterscheiden, seien fast über Nacht, ohne große Ankündigung, zusammengebrochen. 25 Jahre später haben diese moralischen Werte tatsächlich aufgehört, die Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beeinflussen. So wird die Sprache der Moral an den Universitäten häufig als Scheinargument angeprangert oder als Diskurs, der dekonstruiert und entlarvt werden muss.

Der offensichtliche Verlust der moralischen Vorstellungskraft, der Arendt so beunruhigte, hat das heutige Leben zutiefst beeinträchtigt. Wie ich in meinem neuen Buch „Why Borders Matter" feststelle, ist die Fähigkeit, Recht von Unrecht zu unterscheiden, durch die kulturelle Abwertung von Grenzen kompromittiert worden. Infrage gestellt werden z.B. die symbolischen Grenzen zwischen Gut und Böse, Erwachsenen und Kindern, Mann und Frau, Mensch und Tier, privat und öffentlich. Die binäre Unterscheidung zwischen Mann und Frau wird heute als transphobisch angeprangert. Sogar der Begriff des Binären selbst wird als ausschließend und diskriminierend gegeißelt.

Hauptopfer dieses Krieges gegen traditionelle Ideale ist der hohe moralische Wert der Urteilsfähigkeit. Heute gilt das moralische Urteilsvermögen – der Versuch, Recht von Unrecht zu unterscheiden – als verdächtig, diskriminierend und wertend. Auf dem Vormarsch ist stattdessen das Ethos des Nicht-Urteilens. Es ist dieser Vertrauensverlust in das moralische Urteilsvermögen, der am deutlichsten zeigt, in welchem Maße die kostbaren Errungenschaften der Zivilisation als Folge des Kulturkampfes verloren gehen.

Die kulturelle Wende

Die gegenwärtige Phase des Kulturkrieges begann in den 1970er Jahren. Während dieses Jahrzehnts gaben die traditionellen westlichen Eliten den Kampf gegen die gegenkulturellen Bewegungen der 1960er Jahre stillschweigend auf. Am Ende der Dekade (also Ende der 70er Jahre) befanden sich die Werte der Gegenkultur in der Vormacht. Sie wurden institutionalisiert – zunächst im Bildungswesen sowie in der Kulturindustrie – und später auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Einige Wissenschaftler und Beobachter bezeichnen diese Entwicklung als „cultural turn" (Kulturwende).

In den späten 1970er Jahren wurde die Kulturwende einer neuen Elite zugeschrieben. Diese neue „Klasse" war den nicht- oder postmateriellen Werten verpflichtet. Dem Politikwissenschaftler Ronald Inglehart zufolge beschäftigte sie sich mit postmateriellen Bedürfnissen, wie dem Bedürfnis nach ästhetischer Befriedigung und dem, was Psychologen als „Selbstverwirklichung" bezeichnen.2 Ihre Mitglieder interessierten sich für den Umweltschutz und suchten therapeutische Selbsthilfegruppen auf. Im weiteren Sinne beschäftigten sie sich zunehmend mit der Frage der Identität.

„Die kulturelle Wende hat traditionellere Werte marginalisiert.“

Die sich herausbildenden postmateriellen Werte wurden von Anfang an nicht neutral als eine Reihe von Werten unter anderen dargestellt. Vielmehr wurden sie von ihren Befürwortern als den traditionellen Werten wie Patriotismus, Nationalismus und Autoritätsbekenntnis überlegen betrachtet. Inglehart selbst fand den Übergang von traditionellen zu postmateriellen Werten positiv, da er den Einfluss des gierigen Materialismus in der Gesellschaft untergraben würde. Die Bedeutung der Kulturwende lag aber weniger in den so genannten postmateriellen Werten, die er förderte, als vielmehr in seiner Wirkung: nämlich in der weiteren Politisierung von Kultur und Identität. Für die Gegner der alten Gesellschaft nahm dies die Form eines Krieges gegen ehemals dominierende (hegemoniale) Werte an.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich die Befürworter der kulturellen Wende konsequent weigern, ihre Rolle bei der Politisierung der Kultur anzuerkennen. Stattdessen sprechen sie immer wieder ihren Gegnern die alleinige Schuld an dem Konflikt zu. Man kann dies in der gegenwärtigen Phase des Kulturkrieges beobachten. In ihrem Buch „Cultural Backlash. Trump, Brexit and Authoritarian Populism“ (2019), machen Inglehart und seine Mitautorin, Pippa Norris, den Populismus für den Angriff auf die postmateriellen Werte verantwortlich. Der Rolle ihrer eigenen Seite bei der Politisierung der Kultur sind sie sich nicht bewusst. Sie erkennen nicht, in welchem Maße Personen, die andere Werte hochhalten, in die Defensive gedrängt wurden.

Kontrolle über die Sprache

Die kulturelle Wende hat traditionellere Werte marginalisiert. In der Hauptsache geschah dies durch die Vereinnahmung von Institutionen, in denen die neue Generation sozialisiert wird. Wie der Soziologe Alvin Gouldner erklärt, erlangte eine neue Klasse von Intellektuellen und Wissensarbeitern das Monopol über Bildungs- und Fachinstitutionen, förderte die Kulturwende und setzte Kräfte frei, die auf die Entmachtung traditioneller kultureller Werte hinwirkten.

Gouldner behauptet, dass diese Entwicklung durch Veränderungen innerhalb der Familie begünstigt wurde. Die Zwillingskräfte der Emanzipation der Frau und die Ausweitung der Bildung im Kontext des wachsenden Wohlstands hätten die väterliche Autorität geschwächt. Dies wiederum hat die Fähigkeit des vorherrschenden, auf die Familie konzentrierten Sozialisationssystems beeinträchtigt, das Erbe und die Werte der Vergangenheit zu vermitteln.

Gouldners Analyse liefert faszinierende Einblicke in den Zusammenhang zwischen der gestörten Sozialisation innerhalb der Familieneinheit und der Verschärfung kultureller Konflikte. Er behauptet, dass Schulen und Universitäten die „institutionelle Basis für die Massenproduktion der neuen Klasse" bilden. In diesen Institutionen beanspruchen die Lehrer, die Gesellschaft als Ganzes zu repräsentieren. Ihre Aufgabe wird nicht dahingehend definiert, dass sie die Pflicht haben, elterliche Werte zu reproduzieren. Die Ausweitung des Bildungswesens wirkt darauf hin, Kinder vom kulturellen Einfluss ihrer Eltern zu isolieren. Gouldner dazu wörtlich: „Das neue, strukturell differenzierte Bildungssystem ist zunehmend vom Familiensystem isoliert und wird zu einer wichtigen Quelle für Werte unter den Schülern, die sich von denen ihrer Familien unterscheiden. Die Sozialisierung der Jugendlichen durch ihre Familien verläuft nun vermittels einer halbautonomen Gruppe von Lehrern.“3

„Mit der sprachlichen Bekehrung der Jugendlichen ging eine kulturelle Distanzierung von den Werten ihrer Eltern und Großeltern einher.“

Infolge dieser Entwicklung üben die „öffentlichen Bildungssysteme" einen großen „kosmopolitisierenden Einfluss“ auf ihre Schüler und Studenten aus. Dies führt zu einer „entsprechenden Distanzierung von lokalistischen Interessen und Werten“. Gouldner stellt fest, dass „die elterliche, insbesondere die väterliche, Autorität immer schwächer wird und daher weniger in der Lage ist, darauf zu bestehen, dass Kinder eine gesellschaftliche oder politische Autorität außerhalb des Elternhauses respektieren.“4

Eine der Formen, durch die sich Kinder über die Bildung kulturell von den Werten ihrer Eltern distanzieren, ist die sprachliche Umstellung. Die Sprache nimmt eine Form an, die die Werte der neuen Klasse widerspiegelt. Was Gouldner als „Kultur des kritischen Sprechens" der neuen Klassen charakterisiert, „de-autorisiert alles auf traditioneller gesellschaftlicher Autorität beruhende Sprechen. Zugleich erhebt es sich selbst, die festgeschriebene Sprachweise der Kultur der kritischen Diskurses, zum Maßstab jedes ‚ernsthaften‘ Sprechens.“5 Obwohl sie von 1979 stammt, nahm Gouldners Analyse die spätere Verankerung von Sprachcodes und die Kontrolle der Sprache vorweg. Sie liefert auch wichtige Erkenntnisse über den erbitterten Streit, der oft bei Auseinandersetzungen über Wortwahl und „beleidigende“ Äußerungen ausgefochten wird.

Mit der sprachlichen Bekehrung der Jugendlichen ging eine kulturelle Distanzierung von den Werten ihrer Eltern und Großeltern einher. Als sie ihren Abschluss machten, hatten viele junge Menschen eine Reihe von Werten verinnerlicht, die ganz anders als diejenigen ihrer Eltern waren. Als aufeinanderfolgende Kohorten junger Menschen in Übereinstimmung mit den Wertesystemen ihrer Institutionen „erzogen" wurden, entfernten sie sich zunehmend von dem, was Gouldner als „lokalistische Interessen und Werte" bezeichnet.

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert waren die Bildungseinrichtungen, insbesondere die Universitäten, nicht mehr nur in das Bildungsgeschäft involviert. Sie befassten sich auch mit Umerziehung und Resozialisierung. Vor allem in den USA wurde von Studenten erwartet, dass sie an zahlreichen Workshops teilnahmen, um „ihr Bewusstsein für bestimmte Themen zu schärfen" (awareness building). Diese Bewusstseinsbildung versteht sich als Euphemismus: Der Einzelne sollte zu den Werten der Bewusstseinsbilder bekehrt werden.

„Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben die Werte der Vergangenheit zunehmend an Bedeutung verloren.“

Campus-Initiativen zur Bewusstseinsbildung vermitteln den Teilnehmern Tugenden und moralische Qualitäten, die sie von den vermeintlich Unreflektierten und Unaufgeklärten unterscheiden. Die Ermahnung, das „Privileg, weiß zu sein anzuerkennen" („white privilege“), ist ein sehr klares Modell der Bewusstseinsbildung. Diejenigen, die ihre Schuld bekennen und eingestehen, können sich von dem angeblich engstirnigen, voreingenommenen Rest, der dies nicht getan hat, absetzen. Das Bewusstsein ist daher ein Marker für den eigenen Überlegenheitsstatus und sein Fehlen ein Ausdruck für Minderwertigkeit. Deshalb ruft die Weigerung, sein Bewusstsein zu schärfen, moralische Verurteilung durch andere hervor.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben die Werte der Vergangenheit zunehmend an Bedeutung verloren. Dies geschah durch die kulturelle Distanzierung aufeinanderfolgender Generationen junger Menschen von den Moralvorstellungen ihrer Eltern. Das Mittel der sprachlichen Bekehrung hat dazu entscheidend beigetragen. Ziel ist es, eine Vereinbarung darüber zu treffen, was gesagt und gedacht werden kann, und was nicht.

Zurzeit wird der Wunsch, die Sprache zu reformieren, am Systematischsten von Befürwortern der Transkultur geäußert. Fast über Nacht gewannen sie Unterstützung von offizieller Seite, um neue Gesetze und Richtlinien zur Sprachregelung bei Geschlecht und Gender einzuführen. Die Abschaffung der binären Ausdrucksweise beim Geschlecht und die Bekanntmachung einer ganzen Palette von Pronomen zeugen vom Einfluss der neuen Sprachbereinigung. Die Gesellschaft reagiert zunehmend sensibel und zögerlich bei der Frage, welche Wörter angemessen sind und welche nicht. Von der Fähigkeit, die Sprache zu beherrschen, ist es nur ein kurzer Schritt hin zur Einflussnahme auf die Denkweise der Menschen.

Die Politisierung der Kultur

In seiner gegenwärtigen Phase umfasst der Kulturkampf praktisch alle Bereiche des täglichen Lebens. Er hat ein noch nie dagewesenes Maß an Polarisierung über Angelegenheiten befördert, die früher nicht als politische Fragen wahrgenommen worden wären. Deshalb kann heute so gut wie alles, von der Ernährung bis zur Kleidung, zum Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen werden.

Wertkonflikte haben im politischen Leben eine enorme Bedeutung erlangt. Jüngste Debatten über Abtreibung, Euthanasie, Einwanderung, Homo-Ehe, Transpronomen, weiße Hautfarbe und Familienleben deuten darauf hin, dass über einige der grundlegendsten Fragen der Gesellschaft kein Konsens besteht. Die Anfechtung von Normen und Werten hat die Kultur in hohem Maße politisiert. Sogar ganz persönliche Entscheidungen wie z.B. die Frage, mit wem man Sex haben möchte, erhalten den Status einer politischen Aussage.

Die Personifizierung der Politik kann als ein Beispiel dessen interpretiert werden, was der deutsche Soziologe Max Weber die „Stilisierung des Lebens" nannte. Durch die Auswahl von Stilen heben sich Menschen ab und stärken ihren gesellschaftlichen Status. Wie Pierre Bourdieu in seinem einflussreichen Essay über Distinktion feststellte, kann ästhetische Intoleranz furchtbar bösartig sein. Kämpfe um die persönliche Lebensführung dienen dazu, Verhaltensweisen und Einstellungen, die als legitim angesehen werden, von denen abzugrenzen, die man als moralisch verwerflich betrachtet. Die Aggressivität, mit der der Kulturkampf in den sozialen Medien über triviale Fragen wie die eigene Frisur oder den Modegeschmack ausgetragen wird, spricht Bände darüber, wie sehr heutzutage eine hemmungslose Emotionalität befördert wird.“

„Nichts ist zu banal oder zu persönlich, um auf einem politischen Schlachtfeld ausgetragen zu werden.“

Im 21. Jahrhundert wird der Kulturkampf um die persönliche Lebensgestaltung geführt. An den Universitäten zeigt sich dieser Trend an den vielen Konflikten, die sich an der kulturellen Identität aufhängen. So brechen Streitigkeiten über einen unsensiblen Lebensmittelkonsum oder unethische Kleidungsstücke aus. Nichts ist zu banal oder zu persönlich, um auf einem politischen Schlachtfeld ausgetragen zu werden.

Zunehmend richtet sich die Feindseligkeit im Kulturkampf weniger gegen die Überzeugungen von Menschen als gegen ihre kulturelle Identität. Dies zeigt sich in dem Projekt der Pathologisierung der männlichen Identität, die als toxische Maskulinität bezeichnet wird. Oder in der Stigmatisierung weißer Menschen durch eigennützige Begriffe wie Weißsein (whiteness) oder weiße Fragilität (white fragility), die beide davon ausgehen, dass weiße Menschen von Natur aus rassistisch sind. Eine solche Politisierung der Identität auf spaltet und verleiht allen Auseinandersetzungen eine intensive emotionale Kraft.

Den Befürworten der Politisierung von Identität und Kultur ist es weitgehend gelungen, ihre Gegner in die Defensive zu drängen. Durch ihre Kontrolle über Sprache und Kulturinstitutionen sind sie ganz bestimmt zu den Hauptnutznießern des Kulturkrieges geworden. Doch obwohl sie den Einfluss traditioneller Normen und Werte untergraben haben, haben sie es nicht vermocht, eine positive Vision zu entwickeln, die die Gesellschaft als Ganzes inspirieren könnte.

Der Krieg ist verloren

Dass Identitätspolitik heute zur dominierenden Kraft im westlichen Leben geworden ist, zeigt, welchen dominierenden Einfluss die kulturelle Wende hatte. Die Befürworter der Identitätspolitik sehen dies positiv. Daher stellen sie die Politisierung der Kultur als einen Triumph der Vielfalt über Diskriminierung und Unterdrückung dar. Aber das führt in die Irre. Die Politisierung der Kultur hat keinen befreienden Charakter. Sie hat selten vermocht, starke Bande zwischen verschiedenen Gruppen zu knüpfen. Dies zeigt sich z.B. an dem erbitterten Streit zwischen Feministinnen und Transaktivisten. Ganz im Gegenteil: Die zutiefst persönliche Dimension der Identitätspolitik behindert aktiv die Entstehung menschlicher Solidarität. Und der beispiellose Grad der Polarisierung des öffentlichen Lebens wird sich nur noch verstärken, wenn die Politisierung der Identität ungebremst weitergeht.

Der fast heiligen Status, den die Identität erhalten hat, ist umso bemerkenswerter, da ihr nur wenige moralische und intellektuelle Ressourcen zur Verfügung stehen. Sie braucht allerdings auch aufgrund des Fehlens von Widerstand kaum Unterstützung. Gerade das Fehlen von Widerstand hat es z.B. der Autorin Robin DiAngelo ermöglicht, mit ihren Thesen über weiße Fragilität (white fragility) – und den damit einhergehenden oberflächlichen und billigen Schuldzuweisungen – zu einem festen Bestandteil der schulischen bzw. universitären Lehre in den USA zu werden.

Das Bemerkenswerteste an den Erfahrungen der letzten 50 Jahre ist das historische Versagen, die kulturpolitisierenden Kräfte in Frage zu stellen. Mit wenigen Ausnahmen haben Vertreter der wichtigsten Strömungen der Moderne – seien es konservative, liberale oder sozialistische – so getan, als bemerkten sie nicht, was vor sich ging. In vielen Fällen zogen sie sich ganz und gar vom Schlachtfeld zurück. Dies ermöglichte es ihren Gegnern, die Institutionen zu monopolisieren und die Jugend zu beeinflussen.

„Der Ausgang des Kulturkampfes bestimmt sich durch die Ideale, mit denen wir unsere Kinder inspirieren können.“

Es besteht kaum ein Zweifel: Die Kreuzritter der neuen Kultur nach den 1970er Jahren gewinnen. Ihr Einfluss beschränkt sich nicht mehr nur auf die Kultur- und Bildungseinrichtungen. Mit jedem Generationswechsel ist es ihnen gelungen, einen immer größeren Teil der Gesellschaft zu beeinflussen, von der Wirtschaft bis hin zum Sport.

Sogar die Justiz konnte für die im Westen vorherrschende identitätsbesessene Weltanschauung gewonnen werden. So entschied kürzlich der angeblich konservativ dominierte Oberster Gerichtshof der USA, LGBT-Rechte am Arbeitsplatz auszuweiten. Dabei fiel auf, dass der von Trump ernannte Richter Neil Gorsuch die Stellungnahme für die Mehrheit in dem Sechs-zu-drei-Urteil verfasste. Dies zeigt, dass es Donald Trump, genauso wie den anderen gewählten konservativen Führern vor ihm – Reagan und Thatcher – an hinreichenden intellektuellen und moralischen Ressourcen mangelt, um es mit seinen Gegnern im Kulturkampf aufzunehmen.

Der Krieg gegen das engstirnige Ethos, das von den Identitätsanhängern vertreten wird, wird verloren sein, wenn nicht diejenigen von uns, die sich der Verteidigung des Erbes der menschlichen Zivilisation verpflichtet fühlen, dem entgegentreten. Die Auseinandersetzung muss auf das von den Gegnern bevorzugten Gebiet – die Sphäre der Bildung – verlagert werden. Gegenwärtig werden Kinder dazu erzogen, sich selbst als verletzliche und zerbrechliche Individuen zu betrachten und von ihrer Identität besessen zu sein. Wir müssen einen anderen Ansatz wählen – einen Ansatz, der Kinder zur Freiheit erzieht und ihr Streben nach Unabhängigkeit kultiviert. Dies mag als bescheidenes Ziel erscheinen. Aber der Ausgang des Kulturkampfes bestimmt sich durch die Ideale, mit denen wir unsere Kinder inspirieren können.

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