23.02.2014
Man kann nie genug Wahlfreiheit haben
Von Matt Ridley
Der britische Bestsellerautor Matt Ridley widerlegt die populäre Klage, wonach zu viel Konsum- und Wahlfreiheit bei den Menschen Beklemmungen und Angst verursacht. Tatsächlich gibt es keinerlei Nachweise für einen signifikanten Zusammenhang in dieser Richtung
Diesen Sommer fand beim TED Global, einer Konferenz für Technik, Entertainment und Design, eine Diskussion über die wahre Geißel der Menschheit statt. So ein Thema wird auf der TED natürlich nicht kleingeredet. Mutig und kompromisslos trat man dieser Geißel bereits vor drei Jahren in Oxford und vor neun Jahren beim ersten TED in Kalifornien entgegen. Dank des trendigen Publikums der TED-Events verliefen die drei Diskussionen reibungslos. Die Anwesenden wurden sich in allgemeinem Kopfnicken einig, dass es mit dieser Geißel ein Ende haben muss, und zwar bald.
Worum aber geht es hier? Pest und Cholera? Aber nein – zu viel Wahlfreiheit. Ja, wer kennt sie nicht, die beklemmende Situation im Supermarkt? In den Regalen finden wir plötzlich dutzende Cerealien-Marken und das macht uns – Angst. Oh, welche Not.
Die TED-Website fasst das Lamento von Renata Salecls auf dem diesjährigen Event wie folgt zusammen: „In unserem post-industriellen, kapitalistischen Zeitalter sind Auswahl, Freiheit und das Selbst zu Idealen erhoben worden – zu den Idealen schlechthin. Die Kehrseite dieser Entwicklung sind zunehmende Angst- und Schuldgefühle, zudem glauben wir, dass wir der Möglichkeit, ‚es nicht zu schaffen‘, nicht mehr gewachsen sind – d.h., dass wir die Ideale nicht mehr erreichen.“ Und das hat uns „letztlich unfähig gemacht, auf einen sozialen Fortschritt hinzuarbeiten; durch den Überfluss an Wahlfreiheit sind wir politisch passiv geworden.“
Vor drei Jahren sang Sheena Iyengar ihr Klagelied ebenfalls auf der Website des TED: „Statt eine bessere Auswahl zu treffen, werden wir von der Auswahl selbst überwältigt, manchmal haben wir sogar Angst vor ihr. Die Wahl eröffnet uns keine Möglichkeiten mehr, sondern zwingt uns Einschränkungen auf. Heute ist sie nicht länger eine Bestimmung des Begriffs Freiheit, sondern symptomatisch dafür, dass wir an bedeutungslosen Details ersticken.“
Und Barry Schwartz jammerte 2004: „Unendliche Wahlfreiheit wirkt lähmend und erschöpfend auf die menschliche Psyche. Sie führt uns dazu, unvernünftig hohe Erwartungen zu setzen, unsere Entscheidung bereits in Frage zu stellen, bevor wir sie überhaupt treffen und die ganze Schuld für unsere Fehler uns selbst aufzubürden.“ Seine angeführten Beispiele, von Konsumprodukten (Jeans, Fernsehgeräte, Salatdressing) bis hin zu Lifestyle-Fragen (wo man leben und arbeiten soll, wen man wann heiratet) unterstreichen die zentrale These: Zu viel Wahlfreiheit macht unglücklich.
„Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich – als man mir das letzte Mal Roquefort-, French- oder Thousand-Island-Dressing zu meinem Salat anbot – in Panik ausgebrochen wäre.“
Ich weiß ja nicht wie es Ihnen geht, aber ich kann mich nicht entsinnen, dass ich – als man mir das letzte Mal Roquefort-, French- oder Thousand-Island-Dressing zu meinem Salat anbot – in Panik ausgebrochen wäre. Und eine Therapie hatte ich merkwürdigerweise auch nicht nötig. Seltsam, dass ich kein Herzrasen und schweißnasse Hände bekam angesichts endloser Zahnpasta-Regale. Und ich bin eher froh, dass man mir zumutet selbst zu entscheiden, wen ich heiraten möchte. In Indien gibt es bemitleidenswerte junge Menschen, denen diese Wahlfreiheit verschlossen ist – und ich beneide sie nicht.
Welche Beispiele führen aber die Kritiker der Wahlfreiheit an, um ihre krude Hypothese – Wahlfreiheit bringe Elend – zu belegen? Kurz nachdem der Kommunismus zusammenbrach, hat Iyengar eine Gruppe russischer Probanden zu einem Experiment eingeladen, das darin bestand, ihnen sieben unterschiedliche Sorten Softdrinks anzubieten. Sie reagierten unbeeindruckt: „Immer wieder reduzierte sich die Entscheidung zwischen sieben Getränken für sie auf nur eine einzige Wahl: Die zwischen Softdrink oder kein Softdrink.“ Wie gut für sie.
Aber Iyengar zieht daraus folgenden Schluss: „Für Osteuropäer waren all die plötzlich vorhandenen Konsumprodukte wie eine Sintflut. Sie wurden mit Wahlfreiheit überschwemmt, bevor sie protestieren konnten, dass sie eigentlich noch gar nicht schwimmen können.“ Noch einmal, ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber ich finde, post-sowjetische Korruption und Umweltverschmutzung in Kombination mit kleptokratischen Tyrannen sind durchaus größere Probleme als das Kopfzerbrechen über den Unterschied zwischen Pepsi und Coca Cola.
Iyengar führt ein anderes Beispiel an: Wenn die Entscheidung getroffen werden muss, die lebenserhaltenden Maßnahmen für ein Kind abzustellen, gehen US-amerikanische Eltern – denen man im Allgemeinen diese Entscheidung zumutet – leicht unglücklicher aus der Sache hervor als französische Eltern, für welche der Arzt diese Entscheidung übernimmt. Es tut mir leid, aber ich finde es grenzt an Beleidigung, ein solch auswegloses, unglückliches und zum Glück seltenes Dilemma zur Stützung eines politischen Arguments anzuführen.
Aber es gibt auch fundiertere Untersuchungen. Vor einigen Jahren veröffentlichten Benjamin Scheibehenne und seine Kollegen einen Aufsatz mit dem Titel: „Kann es zu viele Optionen geben? Eine meta-analytische Betrachtung zur Überlast an Wahlfreiheit.“ Als meta-analytische (also als Studie über Studien) angelegte Studie untersuchte der Aufsatz, ob Einzelstudien typisch oder kontingent ausfielen. Das Ergebnis nach 50 ausgewerteten Experimenten war, dass die Auswirkung von Wahlfreiheit auf die Motivation oder die Zufriedenheit im „gewichteten Mittel gegen null“ geht. Kurz gesagt, Wahlfreiheit verursacht also doch keine Angst.
Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#116 - II/2013) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.