05.11.2014

Kohle gegen Armut

Analyse von Heinz Horeis

Statt Kohle zu verteufeln, sollte man ihr lieber ein Denkmal setzen. Sie beseitigt dauerhaft menschenunwürdige Armut in großen Teilen der Welt. Kohle ist immer noch unersetzlich. Und das ist gut so. Würdigen wir den weltweiten Energieträger Nummer eins

„Eine Wiederauferstehung der Kohle im großen Maßstab ist unwahrscheinlich.“ So schrieb der kanadische Professor für Geographie Vaclav Smil 1998 [1]. Smil hat zahlreiche Bücher zum Thema Energie verfasst und gilt als einer der besten Energieexperten weltweit. Damals irrte Smil allerdings gewaltig; die Kohle ist wieder da, und zwar „im großen Maßstab“. Weltweit ist sie heute der größte Stromlieferant – Tendenz steigend.

Ihr Aufstieg begann vor etwa 250 Jahren mit der Erfindung von Dampfmaschine und Eisenbahn. Diese industrielle Revolution, angetrieben durch Kohle, hat die Länder der entwickelten Welt reich gemacht. Ihr verdanken wir das angenehme Leben, das wir heute führen können. Von diesen satten Höhen aus fällt es den Ökobürgern leicht, die Kohle zu verteufeln. Sie sollten dankbar sein. Ohne das schwarze Gold würden sie heute nicht existieren.

Die Nutzung der Kohle als Energiequelle brachte den größten Einschnitt in der menschlichen Geschichte. Zehntausende von Jahren lebte der Mensch im Vorkohlezeitalter. Er lebte kurz und meistens schlecht. Er hungerte, er fror. Er starb an Seuchen. Die Ressourcen, die man hatte, waren „erneuerbar“ – unzuverlässig, wetter- und klimaabhängig. Es gab Fortschritte. Die Nutzung des Feuers, Ackerbau und Viehzucht, Siedlungen und Städte entstanden, Bergbau, Erzförderung und -verarbeitung. Im Großen und Ganzen aber ging es mit der Menschheit in der vorindustriellen Zeit quälend langsam voran, wie in Abbildung 1 [2] zu sehen ist.



Abbildung 1: Soziale Entwicklung und Bevölkerungswachstum


Das änderte sich erst mit dem Aufkommen der Kohle als Energiequelle. Der englische Historiker E. A. Wrigley hat diese Energierevolution detailliert beschrieben. [3] Beginnend in England, löste sie die vorindustrielle „organische Ökonomie“ (Wrigley) ab, die den Menschen nur ein kümmerliches Dasein ermöglicht hatte. Organisch waren Energiequellen (fast ausschließlich Holz sowie tierische und menschliche Muskelkraft) und die meisten Rohstoffe. Alles beruhte auf der Photosynthese, die mit Hilfe von Sonnenlicht organisches Material herstellte. Wachstum und ein besseres Leben waren damit nicht möglich. Jeder Aufschwung von Handwerk und Industrie, jede Zunahme der Bevölkerung führten letztlich dazu, dass sich die Nahrungsmittel verknappten. Mehr Holzkohle und mehr Pferdekraft für mehr Industrie gingen auf Kosten von Ackerflächen für die Lebensmittel. Die Welt steckte in der malthusianischen Falle; jedes dauerhafte Wachstum scheiterte an der Beschränktheit der organischen (erneuerbaren) Energien.

Erst die Kohle zerbrach diesen Teufelskreis. Dieser Prozess begann schon, bevor die von James Watt weiterentwickelte Dampfmaschine (1759) [4] den Bergbau revolutionierte und eine professionelle Kohleförderung unter Tage ermöglichte. Bereits um 1700, so Wrigley, lieferte Kohle die Hälfte der in englischen Manufakturen und Haushalten genutzten Energie, die andere Hälfte stammte noch aus den traditionellen erneuerbaren Quellen (Muskelkraft und Holz). Kohle war der wichtigste Brennstoff in nahezu allen Gewerben – beim Brauen von Bier, Brennen von Glas und Kalk, bei der Salz- und Zuckererzeugung, in Ziegeleien, Färbereien und Erzhütten.

Um 1800 bestritt Kohle in England bereits 79 Prozent der Energieversorgung. Der Brennstoff aus der Erde befeuerte da schon die erste industrielle Revolution mit Dampfmaschine, Eisenbahn und Dampfschiff und Mechanisierung der Textilindustrie. Fünfzig Jahre später förderten englische Bergleute bereits die fünffache Menge an Kohle – Treibstoff für die zweite industrielle Revolution zwischen 1870 und 1900. Sie veränderte im Laufe des folgenden Jahrhunderts Lebensweise und Lebensstandard in den Industrieländern von Grund auf. Alles, was heute selbstverständlich ist, war damals neu und unvorstellbar. Strom – aus Kohlekraftwerken – brachte sauberes Licht in Wohnungen und Arbeitsstätten. Strom trieb Maschinen an und immer mehr Haushaltsgeräte: Elektroherde, Waschmaschinen, Kühlschränke, die Grundlage für die Befreiung der Frau. In den Städten lieferten Wasserwerke sauberes „Leitungswasser“ in jeden Haushalt. Einmal in Gang gesetzt, brachte die industrielle Revolution immer mehr nützliche, lebensverlängernde und lebenserleichternde Güter und Dienste hervor.

Triebkraft all dieser Entwicklungen war die Kohle. Ihre zivilisierende Wirkung war beispiellos. Auch in Deutschland. Ohne die Bergleute an Ruhr und Saar wäre das Land nicht zu einer führenden Industrienation geworden. Und heute? Kein Verbraucher würde es merken, wenn man die installierten 70 Gigawatt an Wind- und Solarkapazität abschaltete. Nähme man allerdings die 40 Gigawatt an Kohlekraftwerken vom Netz, wäre das eine Katastrophe.

Kohle als Energiequelle beherrschte das 19. Jahrhundert. Über das gesamte 20. Jahrhundert gesehen lieferte sie mehr Energie als das Erdöl. Heute, zu Beginn des 21. Millenniums, ist ihre Bedeutung ungebrochen. Um 2020 wird Kohle das Erdöl als größten globalen Energielieferanten wieder vom ersten Platz verdrängen [5]. Vor allem die noch relativ armen, aufstrebenden Länder benötigen immer von dem schwarzen Stoff. Ihr ohnehin schon immenser Bedarf wächst stetig; die Menschen dort erstreben verständlicherweise eine angenehme Lebensumwelt, wie sie in den modernen Industrieländern herrscht. Kohle ist dort, wie zuvor in England oder Deutschland, die „Brücke zum Fortschritt“.

Revolution durch Kohle

Kohle ist Bioenergie, und zwar die effizienteste Form, die der Mensch nutzen kann; Sonnenenergie, gespeichert in Biomasse, gesammelt im Erdaltertum. Damals, im Karbon, das vor etwa 360 Millionen Jahren begann und 60 Millionen dauerte, bildete sich Kohle in riesigen Mengen. Pflanzen hatten das Land erobert und entwickelten sich stürmisch. Mächtige Sumpfwälder breiteten sich aus. Abgestorbene Bäume versanken im Sumpf oder wurden unter Erdreich begraben. Hier zersetzten sich die Pflanzenreste nicht. Sie vertorften, und aus dem weichen Torf wurde im Laufe von Millionen von Jahren feste schwarze Kohle. Dafür legte sich der Planet Erde mächtig ins Zeug: Er verschob Kontinente, er faltete Berge auf und drückte den Torf in die Tiefe. Neue Meere überfluteten absinkende Landmassen und lagerten mächtige Sedimentschichten über den Torf. Hitze und Druck der tieferen Erdschichten verwandelten den Torf so allmählich in Kohle.

Ein – nach menschlichen Maßstäben – immenser Aufwand an Zeit und Energie. Und wohl ein einzigartiges Ereignis, denn im Karbon gab es noch keine Bakterien, die Holz zersetzen konnten. Heute bauen diese Organismen totes Holz rasch ab, sodass die langsame Kohlebildung keine Chance mehr hätte. Mit der einzigartigen Kohle legte die Natur (oder, für religionsaffine Leser, der Schöpfer) dem Menschen das Mittel in die Wiege, mit dem er sich aus der bedrückenden Armut einer „erneuerbaren“ Lebensweise befreien konnte. Nur Kohle konnte das leisten.

Kohle ist energiedichter als Holz. Ein Kilogramm trockenen Holzes liefert etwa vier Kilowattstunden (kWh), ein kg Kohle mehr als das Doppelte. Doch Kohle hat dem Holz noch mehr voraus: Sie ist reichlich vorhanden und, da sie nicht nachwachsen muss, stets verfügbar – fleißige Bergleute vorausgesetzt. Die alte organische Wirtschaft hingegen war begrenzt durch das verfügbare Land, von dem sich Holz und Tierfutter ernten ließen, und das nur zu bestimmten Zeiten. Der wichtigste Treibstoff für den Transportsektor – Hafer für Pferde – konnte nur jährlich geerntet werden, Bäume brauchten Jahre und Jahrzehnte, um nachzuwachsen. Bereits um 1800, so schreibt Wrigley, hätte England ein Drittel seiner Landfläche für Brennholz bereitstellen müssen, um die Energie zu ersetzen, die damals schon die Kohle lieferte. Und noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts lieferten 27 Prozent der amerikanischen landwirtschaftlichen Nutzfläche Pferdefutter! [6]

Holz musste weiträumig geschlagen und gesammelt werden. Und je größer der Bedarf in den Städten, in Manufakturen und Haushalten, umso weiter die Wege. Man karrte es über ein dichtes Wegenetz zur Stadt, vergleichbar dem Einzugsbereich eines Stromes, der von zahlreichen Bächen und Flüssen gespeist wird. [7] Kohleförderung hingegen, so schreibt Wrigley, erfolgt quasi punktförmig. Jedes Bergwerk lässt sich als Punkt betrachten; es benötigt nur wenig Fläche, liefert dafür aber zehn- oder hunderttausende von Tonnen Kohle pro Jahr. Städte oder Kraftwerke lassen sich wirtschaftlich über eine einzige Bahnlinie versorgen.

Damit war Schluss mit dem mühseligen Sammeln von verstreuten Energie-„Brosamen“; in den Kohlevorkommen ist die Energie ganzer Wälder konzentriert. Sie bilden einen Speicher an Energie, der mit technischen Mitteln stets verfügbar ist, der jederzeit und an jedem Ort die Gigawatt an Leistung bereitstellen kann, die das Leben in einer modernen Gesellschaft benötigt.

Damals wie heute gewinnt im subventionsfreien Umfeld die Energietechnologie mit der höheren Leistungsdichte. Dieses Maß, zusammen mit der Energiedichte, liefert den wichtigsten Maßstab, um Energiequellen zu vergleichen. In dem Gebrummel der Energiewende spielt der Begriff keine Rolle. Kein Wunder. Die Erneuerbaren haben es nicht so mit der Leistung.

Energiedichte ist einfach die Menge an Energie pro Massen- bzw. Volumeneinheit, gemessen in Joules (oder kWh) pro Kilogramm bzw. Kubikmeter. Kohle ist doppelt so energiedicht wie Holz. Und Uran lässt alle anderen Brennstoffe weiter hinter sich (s. Abbildung 2).



Abbildung 2: Energiedichte von Brennstoffen [8] (Übersetzung: Tipp des Zeichners: Die logarithmische Darstellung ist etwas für Versager, die nicht genügend Papier finden können, um ihr Argument deutlich zu machen.)


Komplizierter ist die Leistungsdichte. Die Leistung von Batterien lässt sich damit vergleichen ebenso wie der Energiefluss durch Turbinen. Vaclav Smil fasst den Begriff erheblich weiter, um damit unterschiedliche Energiequellen vergleichen zu können: Leistungsdichte – in Watt/m2 – bezogen auf Land bzw. Wasserfläche. So gesehen, sei Leistungsdichte das „universellste Maß für Energiefluss“. Damit lasse sich eine „enorme Vielfalt an Energieflüssen vergleichen, angefangen von natürlichen Energieflüssen bis hin zu Ausnutzungsraten aller Energiequellen.“ [9]


Tabelle 1: Leistung fossiler und grüner Energiequellen nach Smil

Energiequelle Leistungsdichte (W/m2)
Niedrig Hoch
Erdgas 200 2000
Kohle 100 1000
Solar (PV) 4 9
Solar (CSP) 4 10
Wind 0,5 1,5
Biomasse 0,5 0,6


Smil berücksichtigt alle Flächen, die direkt und indirekt zu einem Kraftwerk gehören: z.B. bei der Kohle Flächen für Förderung, Transport, Lagerung und Aufbereitung, für Kraftwerk und Aschendeponie. Bei Erdgas und Kohle variieren die Leistungsdichten stark, abhängig etwa von der Ergiebigkeit der Vorkommen, der Art des Brennstoffes, von Transportwegen und mehr. Solar ist ergiebiger, je näher man dem Äquator kommt; Wind bringt mehr an Küsten und über weiten Ebenen. Die Ausbeute an Biomasse ist überall nahezu gleich gering. Grund ist der extrem niedrige Wirkungsgrad der Photosynthese. Sie wandelt nur etwa 0,3 Prozent der Sonnenstrahlung in Biomasse um.

Beim Vergleich der Leistungsdichten versteht man, warum die Kohle Holz als Energiequelle so rasch und so vollständig ersetzen konnte. Ihr Brennwert (die Energiedichte) ist zwar nur doppelt so hoch wie der von Holz, aber ihre Leistungsdichte ist, aufgrund der räumlichen Konzentration, bis zu 2000 Mal höher. Tabelle 1 und Abbildung 3 machen auch deutlich, warum heute die Kohle auf dem Vormarsch ist: Die neuen ineffizienten Energien sind nicht besser. Sonne, Wind und Bioenergie heute spielen letztlich in der gleichen Regionalliga wie Holz, Dung und Muskelkraft der vergangenen Jahrtausende. Ihre Leistungsdichte liegt um Größenordnungen unter denen von fossilen Brennstoffen.

Kohle hingegen lässt sich inzwischen maschinell in den gewaltigen Mengen abbauen, die moderne Industriegesellschaften benötigen. Zudem arbeiten Kohlekraftwerke rund um die Uhr. Windräder und Solarzellen hingegen liegen, übers Jahr gesehen, meisten auf der faulen Haut. Besonders im Land der Energiewende: Windräder haben hier einen Lastfaktor von unter 20 Prozent, Solarzellen unter 10 Prozent.



Abbildung 3: Leistungsdichte von Energiequellen

Genau betrachtet, gibt es in Deutschland keine Energiewende, sondern nur ein paralleles „grünes“ Stromerzeugungssystem, das teuer und überflüssig ist. Das reiche Deutschland kann sich diesen Luxusstrom vielleicht leisten, nicht jedoch die sich entwickelnden Länder. Sie setzen auf Kohle.

Kohle für die Welt

Im vergangenen Jahr holten Bergleute weltweit nahezu acht Milliarden Tonnen Kohle aus der Erde. Zur Jahrtausendwende waren es 3,6 Milliarden Tonnen; soviel liefern heute allein die chinesischen Kohlegruben. Zweitgrößter Produzent sind die Vereinigten Staaten mit einer Milliarde Tonnen, gefolgt von Indien, Indonesien und Australien. Zwei Drittel der Weltförderung kommen damit aus dem asiatisch-pazifischen Raum. Dort wird nicht nur die meiste Kohle gefördert, sondern auch verbraucht, denn dort lebt die Mehrzahl der Menschen unseres Planeten. Ein Glücksfall – die Kohle ist, im Gegensatz zum Erdöl, vor allem da, wo zahlreiche Menschen, zum großen Teil noch in Armut, leben. Dort wird sie gebraucht. Und der Bedarf ist immens: 1,3 Milliarden Menschen weltweit leben ohne Strom, und weitere Milliarden haben nur unzureichend Zugang zu Elektrizität. Etwa sechs Milliarden Menschen haben weit weniger als die 6.500 kWh pro Jahr, über die ein Bürger der EU im Durchschnitt verfügt.

Drei Viertel der geförderten Steinkohle werden zur Stromerzeugung verfeuert. Der Rest verteilt sich zu annähernd gleichen Teilen auf die Stahlindustrie sowie andere Industriebranchen wie die Zementherstellung. Elektrizität ist der Lebenssaft moderner Gesellschaften, Kohle der größte Erzeuger. Weltweit stammen über vierzig Prozent des Stroms aus Kohlekraftwerken; von 1990 bis 2010 hat sich ihr Anteil verdoppelt. König Kohle herrscht.

Wenn ein Land sich entwickelt, wächst der Stromanteil am Energiemix stärker als andere Energieformen. Denn Strom ist praktisch, sauber und leicht zu handhaben. Man betätigt einen Schalter, und das Licht brennt. Selbstverständlich für uns, ein Wunder, wenn man es zum ersten Mal erlebt. Elektrisches Licht allein, so befand die Weltbank vor ein paar Jahren, ermögliche in den Entwicklungsländern „besseres und längeres Lernen, längere Arbeitszeiten in kleinen Betrieben und mehr Sicherheit.“ [10]

Und Strom rettet Leben, etwa durch Elektroherde. Denn drei Milliarden Menschen kochen immer noch mit Holz, Holzkohle oder Dung, die sie in offenen Herden verfeuern. Rauch und Ruß in der Wohnung sind die Folge. Über vier Millionen Menschen, so schätzt die WHO, sterben jährlich vorzeitig aufgrund verräucherter Wohnräume.

Stromverbrauch und Lebensstandard hängen eng zusammen. Der von der UNO eingeführte Human Development Index (HDI) ist eine Maßzahl für den Lebensstandard eines Landes, gemessen an durchschnittlicher Lebenserwartung, Bildungsmöglichkeiten und Einkommen seiner Bewohner. Wie Abbildung 4 zeigt, korreliert er mit dem Stromverbrauch pro Kopf. In Ländern mit niedrigem HDI wie Äthiopien oder Indien stehen den Bewohnern pro Kopf weit weniger als 1.000 kWh pro Jahr zur Verfügung. Im Durchschnitt wohlgemerkt – viele Menschen auf dem Land haben gar keinen Strom.



Abbildung 4: Stromverbrauch und Lebensstandard [11]


Etwa ab 4.000 kWh pro Kopf und Jahr beginnt das anständige Leben. Weltweit liegt der jährliche Durchschnitt bei rund 3.000 kWh [12] pro Jahr. China übertrifft diesen Wert bereits; Indien mit seiner Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen hat den Weg noch vor sich. Ein immenser Nachholbedarf, denn auf jeden Inder entfallen heute nur rund 700 kWh pro Jahr. Rund tausend Kohlekraftwerke zusätzlich müsste das riesige Land bauen, um die 4000er Marke zu erreichen. [13]

Eine Horrorvorstellung für Ökoverbände, NGOs und die globale Klimabürokratie. Sie plädieren für erneuerbare Energien und ignorieren damit vollkommen die Größenordnung, um die es bei einer modernen Stromversorgung geht. Immerhin kann der schon erwähnte Klimaforscher James Hansen, Berater des Klimagurus Al Gore, rechnen. Er schreibt: „Die Annahme, dass die Vereinigten Staaten, China, Indien oder die ganze Welt mit erneuerbaren Energien rasch aus den fossilen Energien aussteigen könnten, entspricht dem Glauben an den Osterhasen oder die Zahnfee.“ [14]

China – Mittelpunkt der Kohlewelt

Die chinesische Führung glaubt nicht an Osterhasen. Dank Kohle steigerte das Land den Lebensstandard seiner riesigen Bevölkerung dramatisch. Seit 1990 hat sich die Erzeugung von Kohlestrom versiebenfacht – von 500 TWh auf 3.500 TWh. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf hat sich mehr als versechsfacht. 95 Prozent der Menschen verfügen jetzt über Stromanschluss. „Die Elektrifizierung Chinas“, so lobte die Internationale Energieagentur (IEA), „ist eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte … und ein Beispiel für die sich entwickelnde Welt.“ [15]

1980 förderten chinesische Bergleute (unter hohen Opfern) 600 Millionen Tonnen Kohle, heute ist es die sechsfache Menge. Die derzeit gewinnbaren Kohlereserven des Landes belaufen sich auf 189 Milliarden Tonnen. Das reicht, beim heutigen Verbrauch, für weitere 50 Jahre. Zusätzlich schlummern 5.500 Milliarden Tonnen an Kohleressourcen in Chinas Erde.



Abbildung 5: Kohleverbrauch China und der Rest der Welt [16]


China zeigt, warum Kohle erfolgreich ist. Der Rohstoff ist reichlich vorhanden, auch noch in absehbarer Zukunft. Mit bewährten (inzwischen auch sauberen) Technologien lässt er sich einfach verstromen. Vor allem: Kohlestrom ist am billigsten. Eine kWh aus einem modernen chinesischen Kohlekraftwerk kostet 3,3 US-Cent, Strom aus Erdgas, Wasser- und Kernkraft kostet ein bis zwei Cent mehr, Windstrom das Zwei- bis Dreifache, Solarstrom sechsmal so viel. [17] Kein Wunder, dass Wind- und Sonnenenergie im chinesischen Energiemix nur eine geringe Rolle spielen.

Seit 2000 wächst Chinas Kohlebedarf mit neun Prozent pro Jahr. Inzwischen verbraucht das Land nahezu so viel Kohle wie der Rest der Welt zusammen (Abbildung 5). Trotz eigener Vorkommen muss das Land Kohle importieren. Inzwischen betreibt es rund 650 Kohlekraftwerke, für die nächsten vier Jahre sind weitere 160 geplant.

Die Chinesen haben sich innerhalb von drei Jahrzehnten aus bitterer Armut befreit. Andere Länder sind dabei, diesen „Großen Sprung“ nachzuvollziehen. Das sind vor allem Südafrika, Indien und (außer China) die sich entwickelnden Staaten Südostasiens. Da leben noch einmal 2,5 Milliarden Menschen; zusammen mit den Chinesen steht hinter der „Kohlelobby“ die Hälfte der Menschheit.

Indien ist der größte Brocken. Die Bevölkerung wächst und wird in zehn Jahren Chinas 1,3 Milliarden Menschen überflügeln. 300 Millionen Inder haben heute überhaupt keinen Strom; 700 Millionen fehlt der Zugang zu modernen elektrischen Geräten, um zu kochen, Licht zu machen oder Wasser zu pumpen. Gegenüber China liegt das Land zwei bis drei Jahrzehnte zurück; ein Inder nutzt heute über 700 kWh an Strom im Jahr, etwa so viel wie ein Chinese 1985.

Der Rückstand hängt auch damit zusammen, dass man sich zu viel von Wind und Sonne versprochen hat. Das scheint nun ein Ende zu haben. So erklärte die prominente indische Umweltschützerin Sunita Narain, dass „Kohle die nachhaltigste und die einzige kostengünstige Option für Indien ist“. [18] Und die indische Regierung hat vor kurzem die ausländische Finanzierung von Greenpeace und anderen Umweltgruppen verboten. Sie seien eine „Bedrohung der nationalen wirtschaftlichen Sicherheit“. Sie blockierten die Erschließung neuer Kohlegruben, bekämpften Pläne für den Bau von Kohlekraftwerken und anderer Infrastrukturprojekte. [19]

Etwa zwei Drittel des indischen Stroms stammen heute aus Kohle. In zwanzig Jahren, so indische Planer, könnte sich der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch vervierfachen. Pläne für den Bau von 455 Kohlekraftwerken mit insgesamt 519 Gigawatt liegen auf dem Tisch (China 557 GW) [20]. Nach dem World Energy Outlook 2013 der IEA wird Indien im nächsten Jahrzehnt zum zweitgrößten Kohleverbraucher der Welt aufsteigen und die USA überholen.

Über Asiens Giganten sollte man die kleinen Länder nicht vergessen. Bangladesch will bis 2030 die Hälfte des Stroms mit Kohle zu erzeugen und dazu ein Dutzend neuer Kohlekraftwerke bauen. Bislang hat das Land erst ein einziges kleines Kraftwerk. Und laut BP-Statistik verzeichnet das vietnamesische 90-Millionen-Volk den im letzten Jahrzehnt stärksten Zuwachs bei Kohle und Strom. Die Stromerzeugung ist um sagenhafte 227 Prozent gestiegen, der Kohleverbrauch um 175 Prozent – stärker als in China.

Und Deutschland ist dabei. Wir sind mit 81 Millionen Tonnen pro Jahr – fünf Millionen Tonnen mehr als 2011 – in Europa (ohne Russland) der größte Kohleverbraucher. [21] Fast jede zweite Kilowattstunde Strom kommt inzwischen aus Kohlekraftwerken. Deutsche Energiewende? Nicht wirklich und so wichtig wie der Sack Reis, der in China umfällt. Die wichtigste Entwicklung in der heutigen Welt ist die Tatsache, dass China, Indien und andere Länder reich werden – dank Kohle: Sie ist die Brücke zum Fortschritt.

Das Kohlezeitalter ist noch lange nicht zu Ende.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#118 - II/2014) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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