12.04.2017

König Draghi und die Wohlstandsblase

Essay von Alexander Horn

Titelbild

Foto: Kiefer via Flickr / CC BY 2.0

Die finanzpolitische Dominanz der EZB gilt in weiten Teilen der deutschen Politik als anmaßende Mandatsüberschreitung. Die Wurzel ökonomischer Fehlentwicklungen liegt aber woanders.

Seit der Amtsübernahme von Mario Draghi im November 2011 gehört ein kritisches oder mindestens distanziertes Verhältnis gegenüber der Europäischen Zentralbank (EZB) zum guten Ton in der deutschen Politik. Die Bundesregierung kommentiert die Geldpolitik der EZB mit dem Verweis auf deren Unabhängigkeit üblicherweise nicht, selbst wenn Finanzminister Wolfgang Schäuble auch mal die Geldpolitik für das Erstarken der AfD verantwortlich macht. Anders halten es viele Hinterbänkler und Funktionsträger der Regierungskoalition, die politische Opposition, Wirtschaftswissenschaftler und zunehmend auch Wirtschaftsvertreter. Meist mit dem Verweis auf die Konsequenzen der Niedrigzinspolitik für Sparer, Renten- und Lebensversicherte halten sie ihre Kritik am EZB-Präsidenten kaum mehr zurück.

Das Mandat der EZB und dessen Interpretation ist seit vielen Jahren heftig umstritten.Formal ist die EZB nur für die Geldwertstabilität verantwortlich und damit berechtigt, geldpolitische Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus soll sie jedoch, soweit dies „ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist […], die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union“ (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 127 Abs.1, ehemals Art. 105 EGV) unterstützen, die neben anderen Zielen wiederum beabsichtigt, „das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“ (EU Vertrag, Art. 3). 1 Vielen geht die Auslegung des Mandats durch Mario Draghi dennoch zu weit. Sie sehen eine „Überdehnung“ oder sogar eine Überschreitung des Mandats. Zu diesen Kritikern gehört auch Ottmar Issing, der über seine Rolle als einer der ersten Direktoriumsmitglieder und ehemaliger Chef-Volkswirt der EZB sowie der Deutschen Bundesbank maßgeblich die geldpolitische Strategie der EZB entwickelt hat. Mit dem OMT-Programm, also der Entscheidung, „whatever it takes“ einzusetzen, um die Eurozone zusammenzuhalten, habe „die Notenbank eine Rolle übernommen, die einer der für die Durchführung der Geldpolitik zuständigen Institution grundsätzlich nicht zusteht“. 2

„Das Mandat der EZB ist seit vielen Jahren heftig umstritten.“

Andere, wie der Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU, Carsten Linnemann, formulieren im Kern ebenfalls den Vorwurf, die EZB überschreite ihr Mandat. Linnemann unterstellt ihren Entscheidungen nicht geldpolitische, sondern „wirtschaftspolitische Beweggründe“. Zudem stellte er ihre Unabhängigkeit in Frage, denn sie verfolge bewusst Partikularinteressen. Gegenüber der Kieler Zeitung sagte Linnemann „spätestens seit der Zuspitzung der Euro-Krise im Jahr 2011 schiebt die EZB […] das Inflationsziel von knapp zwei Prozent vor, um mit ihrer Niedrigzinspolitik den EU-Südländern unter die Arme zu greifen.“

Wirtschafts- und Ordnungspolitik der EZB

Es ist in der Tat kaum zu übersehen, dass die EZB trotz der andauernden Beteuerung ihres Präsidenten, der jede seiner formal geldpolitischen Entscheidungen als „innerhalb des Mandats“ begründet, sich tief in die Wirtschafts- und sogar in der Ordnungspolitik – eine Domäne der nationalen Politik – hineingefressen hat.

Mit der Einführung des Euro haben die Europäer im Vertrag von Maastricht eine wichtige ordnungspolitische Entscheidung getroffen. Als deren Hüter haben sich seitdem aber weniger deren Regierungen als vielmehr die EZB verdient gemacht. Schon bevor das von Issing als Mandatsüberschreitung kritisierte OMT-Programm ins Leben gerufen wurde, hatte sich die EZB bereits 2010 im Rahmen der zweiten Euro-Krisenwelle entschieden, Staatsanleihen von Krisenländern zu kaufen. Damit gelang es ihr, den Wertverfall der von den Geschäftsbanken als Pfand bei ihr hinterlegten Staatsanleihen zu vermeiden. Dieser ordnungspolitische Eingriff der EZB sicherte die Bonität der Staatsanleihen der Krisenländer ab, denen kaum mehr zugetraut wurde, für ihre Schulden gerade stehen zu können. Im Zuge der Einführung dieses sogenannten Securities Markets Programme (SMP) der EZB nahm der damalige Bundesbankpräsident Axel Weber seinen Hut. Er sah im SMP einen Bruch mit dem Verbot der monetären Staatsfinanzierung, einem ordnungspolitischen Grundsatz der Währungsunion.

Ordnungspolitische Relevanz erhält die Geldpolitik der EZB auch durch die von ihr ausgehenden Verteilungseffekte zugunsten der Vermögenden. Nicht erst die im März 2015 eingeleitete Quantitative Lockerung (QE), sondern die schon lange von den großen Zentralbanken wie der EZB betriebene „asymmetrische Geldpolitik“ habe diese Effekte, kritisiert Gunter Schnabl, Wirtschaftsprofessor an der Universität Leipzig. Dabei öffnen die Zentralbanken die Liquiditätsschleusen, um die Finanzmärkte zu stabilisieren und straffen die geldpolitischen Zügel in Erholungsphasen nur zögerlich. Während die Vermögenspreise explodieren, sorge das wirtschaftspolitische Umfeld dafür, dass die Konsumentenpreise stabil bleiben. Dies wirkt sich auch auf die Löhne und Gehälter aus, die zudem infolge niedriger Investitionen und ausbleibender Produktivitätssteigerungen kaum ansteigen – mit den entsprechenden Umverteilungseffekten. So würden die allgegenwärtigen Blasen also nicht nur wirtschaftliche, sondern durch die Umverteilung auch gravierende politische Auswirkungen haben, da sie „einen Keil in die Gesellschaften treiben. Während die älteren Immobilienbesitzer aufgeblähte Preise zufrieden zur Kenntnis nehmen, müssen die Jungen kräftig löhnen. Wenn das Einkommen nicht mehr für ein Eigenheim reicht, sind hohe Mieten fällig.“ 3

„Die enorme Dominanz der EZB speist sich aus der Passivität der nationalen Politik.“

Der ehemalige Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn erklärt in seinem aktuellen Buch über den Euro, dass die EZB durch die von ihr getroffenen Entscheidungen immer wieder präjudizierend wirke, also durch geschaffene Fakten spätere Entscheidungen der Politik vorwegnehme. So sieht er im OMT-Programm nicht nur ordnungspolitisch relevante Umverteilungseffekte, sondern auch eine einschneidende ordnungspolitische Weichenstellung. Mit diesem Programm nehme die EZB faktisch die Schuldenvergemeinschaftung in der Eurozone voraus. Den Schweizer Notenbankpräsidenten zitierend argumentiert Sinn: „Das OMT-Programm der EZB verändert die Spielregeln. Die beruhigende Kraft des OMT resultiert aus der Tatsache, dass die Marktteilnehmer dieses Programm als Verpflichtungserklärung für eine Vergemeinschaftung der Schulden innerhalb der Eurozone interpretieren: Die Länder stehen zusammen ein für die Schulden der Angeschlagenen.“ 4

Die enorme Dominanz der EZB als ordnungspolitischer Akteur, die Sinn als „wahren Hegemon in der Eurozone“ beschreibt, dem gegenüber die Parlamente „zu bloßen Erfüllungsgehilfen“ 5 geworden seien, speist sich jedoch weniger aus der Agilität der EZB, sondern aus der Passivität der nationalen Politik. Faktisch besetzt der EZB-Rat mit seinen Entscheidungen ein ordnungspolitisches Vakuum, denn weder während der vielen Eskalationswellen der Euro-Krise noch in Phasen relativer Beruhigung – wie heute –, waren die Euro-Staaten in der Lage, kollektiv oder individuell in ordnungs- und wirtschaftspolitischer Hinsicht die Führung zu übernehmen.

Die EZB ist jedoch nicht allein zu einem entscheidenden ordnungspolitischen Akteur geworden, indem sie das von den Nationalstaaten geschaffene Vakuum besetzt. Vielmehr wird ihr aktiv immer mehr ordnungspolitische Verantwortung übertragen. In dieser Richtung wirkt die Ansiedlung der neu geschaffenen europäischen Bankenaufsicht bei der EZB. Auch der deutschen Politik, die ansonsten gerne über die Rolle der EZB lamentiert, ist es nicht besonders schwergefallen, diese Verantwortung an eine technokratische Institution zu übertragen. Bis 2015 war die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als Aufsichtsbehörde für die deutschen Großbanken zuständig. Da die BaFin wiederum dem Bundesfinanzministerium unterstellt ist, verantworteten Bundesregierung und Bundestag letztlich mit ihren Entscheidungen bei Bankenschließungen auch die Konsequenzen für den Steuerzahler. Mit der Übernahme der Bankenaufsicht durch die EZB gelten nun deren Bewertungsmaßstäbe für die Bankenüberwachung, und ihre Entscheidungen haben zudem fiskalische Bedeutung, also Auswirkungen für den deutschen Steuerzahler. Dies wird gegenwärtig am Beispiel der Krise um die italienische Großbank Monte dei Passchi deutlich, in der die EZB darüber verhandelt, unter welchen Bedingungen die Rekapitalisierung der Bank mit italienischen Steuergeldern erlaubt wird.

Durchwursteln ist Trumpf

Durch die quantitative Lockerung (QE), die die EZB durch den massiven Kauf von Staats- und Unternehmensanleihen betreibt, ist sie auch zum entscheidenden wirtschaftspolitischen Akteur im Euroraum avanciert. Dies hat – wie auch die Niedrigzinspolitik der Jahre davor – keine wirtschaftliche Belebung der europäischen Wirtschaft bewirkt. Seine wirtschaftspolitische Wirkung entfaltet das Programm vor allem, indem sich die Refinanzierungskosten der Eurostaaten und der Unternehmen enorm abgesenkt haben. So geht eine Studie der DZ Bank davon aus, dass der italienische Staat bis Anfang 2016 bereits etwa 53 Milliarden Euro Zinsersparnis durch den „Draghi-Effekt“ hatte. Bis zum Jahr 2022 könnten dies sogar bis zu 670 Milliarden Euro werden, sofern das durchschnittliche Renditeniveau für Staatsanleihen auf dem gegenwärtig günstigen Niveau bleibt. Die EZB ermöglicht es so, den angeschlagenen Staaten und Unternehmen sich weiter durchzuwursteln und vereitelt zusätzliche negative Effekte für die angeschlagene Wirtschaft im Euroraum. Nicht ohne Grund wehrte sich Draghi bei seinem Besuch des Europa-Ausschusses des Deutschen Bundestages im Herbst letzten Jahres daher gegen die üblichen Vorwürfe der deutschen Politik mit dem Hinweis, die EZB sei die einzige Institution, die in den letzten Jahren für Wirtschaftswachstum gesorgt habe.

„In Deutschland wirken sich die Negativzinsen wie Doping aus.“

Dieses Statement hätte Draghi nirgends besser als in Deutschland platzieren können. Anders als in den wirtschaftlich angeschlagenen Ländern der Eurozone sorgt das QE-Programm nicht in erster Linie dafür, die Staatsfinanzen und die Unternehmen über Wasser zu halten. In Deutschland wirken sich die Negativzinsen vor allem über den dadurch gedrückten Wechselkurs des Euro wie Doping aus. Im Unterschied zum Rest der Eurozone tätigt Deutschland wirtschaftlich bedeutsame Exporte in Länder außerhalb der Eurozone und profitiert in dieser Hinsicht extrem von einem niedrigen Eurokurs. Der niedrige Eurokurs hat diese herausgehobene Stellung weiter beflügelt. Noch vor dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2007 ging mit gut 55 Prozent nur etwas mehr als die Hälfte des deutschen Exports in Länder außerhalb der Eurozone. Inzwischen sind dies, getrieben durch den günstigen Wechselkurs, knapp zwei Drittel des deutschen Exports. Dieses Doping hat zwar keine Wachstumsrakete gezündet. Dennoch aber kann die Bundesregierung infolgedessen seit Jahren auf eine stabile Beschäftigungsentwicklung und ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von immerhin gut einem Prozent verweisen.

Weil die entscheidenden wirtschafts- und ordnungspolitischen Impulse der letzten Jahre nicht von der nationalen Politik, sondern von der EZB ausgingen, fällt es der nationalen Politik leicht, in die Rolle des Kritikers zu verfallen. Die Politik gefällt sich im Lamentieren über die unschönen Effekte einer Krisenpolitik, die sie selbst nicht verantwortet und für die sie andererseits aber doch verantwortlich ist. Denn sie macht keine Anstalten, die wirtschaftliche Krise in Europa mit politischen Konzepten anzugreifen, und dadurch die Krisenintervention selbst zu übernehmen. Der Vorwurf der Mandatsüberschreitung von Seiten der Politik ist daher selbstgefällig. Andere verfehlen mit der Kritik an der EZB den richtigen Adressaten. Die Verweigerungshaltung der Politik zwingt die EZB und ihren Präsidenten gewollt oder ungewollt in die Rolle des machtvollen Dompteurs, der gerne schon mal als „König“ Draghi verspottet wird.

Der ehemalige PIMCO-Chef, Buchautor und ehemalige Vorsitzender des Global Development Council der Obama-Regierung, Mohamed A. El-Erian bemängelt, dass die Zentralbanken weltweit inzwischen bei der Bewältigung und Verwaltung der fortgesetzten Finanz- und Wirtschaftskrise als einzige handlungsfähige Option gesehen werden. Sie hätten sich von „einst biederen, langweiligen Institutionen zu den zentralen und oft einzigen politischen Entscheidungsträgern entwickelt.“ 6 Nach der unmittelbaren und heftigen Intervention der Zentralbanken beim Ausbruch der Finanzkrise, hätten die Zentralbanken realisiert, dass die politischen Entscheidungsträger durch dysfunktionale Politik gelähmt waren und die Zentralbanken dann „experimentelle Wege fanden, um die globale Wirtschaft auf einem, wenn auch etwas künstlichen, Wachstumspfad zu halten“. 7

„Wie weit sich die Politik von ihrer Verantwortung gelöst hat, reflektiert sich darin, dass keinerlei Erwartungen hinsichtlich ihrer Handlungsfähigkeit bestehen.“

Diese Analyse trifft den Kern des Problems, das in der Eurozone durch das Fehlen eines wirtschaftspolitischen Pendants zur EZB noch akzentuierter auftritt als etwa in den USA, Großbritannien oder Japan. Die Tatenlosigkeit der europäischen Politik in Anbetracht einer hartnäckigen Finanz- und Wirtschaftskrise, die die EZB mit ihren Mitteln offensichtlich nicht zu beheben im Stande ist, zwingt die EZB dazu, das Heft der Hand zu halten, um eine Eskalation der desolaten wirtschaftlichen Lage in der Eurozone zu verhindern.

Verdrehte Rollen

Die heute exponierte Stellung der EZB, wie auch anderer Zentralbanken, bei der Krisenbewältigung resultiert auch daraus, dass sich die künstliche Beatmung der Wirtschaft auf die Ebene der Finanzmärkte verlagert hat. Wirtschaftliche Stagnation, wie sie sich in den entwickelten westlichen Volkswirtschaften schon seit Jahrzehnten in notorisch niedrigen Investitionen, rückläufigem Produktivitätswachstum und langfristig folgenschweren Wohlstandsverlusten manifestiert, wird seit geraumer Zeit durch finanzpolitische Hebel, wie den weltweit enormen Verschuldungsanstieg, therapiert. Die Euro-Einführung war ein solcher Hebel, denn dieser bewirkte in den wirtschaftlich schwächeren Ländern der Eurozone ab Mitte der 1990er Jahre historisch niedrige langfristige Zinsen, was dort ein kreditgetriebenes Wachstum ermöglichte und Länder wie Griechenland zu Wachstumsraketen machte, obwohl die Wettbewerbsfähigkeit zurückging. Seit dem Zusammenbruch dieser Blase treibt die EZB mit ihrer Geldpolitik erneut die Verschuldung voran und kompensiert damit jedoch bestenfalls die wirtschaftliche Stagnation. Die politisch Verantwortlichen sind aber weit davon entfernt, in die Bresche zu springen und den Handlungsdruck auf die EZB zu mindern.

Wie weit sich die Politik von der Wahrnehmung ihrer wirtschafts- und ordnungspolitischen Verantwortung inzwischen gelöst hat, reflektiert sich auch darin, dass keinerlei Erwartungen hinsichtlich ihrer Handlungsfähigkeit bestehen. So kritisiert der Chefökonom der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, dass die extrem lockere Geldpolitik und insbesondere ihr Versprechen, „zu tun ‚whatever it takes´, politische Untätigkeit zur kurzfristig attraktiveren Option gemacht haben.“ Folkerts-Landau zielt damit vor allem auf die italienische Politik und kommt zu einer bizarren – aber inzwischen gängigen – Interpretation des Verhältnisses von EZB und nationaler Politik. Er schiebt nämlich die Verantwortung für die Untätigkeit in die Schuhe der EZB, wenn er formuliert: „Ungeachtet ihrer guten Absichten hat die EZB die Disziplinierungsmechanismen steigender Anleihezinsen außer Kraft gesetzt und trägt damit die Verantwortung für das Ausbleiben der so dringend nötigen strukturellen Veränderungen. Dabei werden nur wachstumsfreundliche Reformen ein langsames Auseinanderbrechen der EU aufgrund wirtschaftlicher Stagnation verhindern.“ Die Dysfunktionalität der nationalen Politik im Hinblick auf die wirtschaftliche Krise zeigt sich in der Verdrehung der Kompetenzen, die Folkerts-Landau hier zum Ausdruck bringt. In Anbetracht einer Politik, die schon seit vielen Jahren nicht in der Lage ist, die wirtschaftliche Krise anzugehen, wünscht man sich zumindest eine handlungsfähige EZB, die die Politiker in der Nationalstaaten –  gewissermaßen als Marionetten der EZB – durch geeigneten Druck zum Handeln bringt. 

„Der für Deutschland zu niedrige Eurokurs beflügelt die Illusion einer sagenhaft starken Wirtschaft.“

Auch die politischen Parteien selbst artikulieren inzwischen sehr offen die politische Lähmung, nehmen ihre eigene Rolle dabei aber gerne aus. Anlässlich des letztjährigen Besuchs des EZB-Präsidenten im Deutschen Bundestag meinte der SPD-Politiker Joachim Poß, „selbst Herr Schäuble an Herrn Draghis Stelle als Chef der EZB“ hätte „in den letzten Jahren keine andere Geldpolitik verantworten können“. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) äußerte sich selbstkritisch und meinte, die EZB habe sich „handlungsfähiger als die Regierungschefs“ gezeigt. Bereits einige Monate früher appellierte der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) an die „Staats- und Regierungschefs […], endlich aktiver zu werden“ und meinte damit selbstverständlich die anderen Länder und wohl auch die Kanzlerin, seine Rolle als Wirtschaftsminister des wirtschaftlich stärksten Landes in Europa offenbar ausblendend. Völlig zutreffend formulierte er das Ergebnis auch seiner Politik: „Die EZB handelt als Ersatz-Wirtschaftsministerium. Dafür ist sie nicht gemacht.“

Mag sein, dass EZB-Präsident Draghi aus diesem Grund vor allem von Seiten der Bundesregierung gelegentlich auch Verständnis entgegengebracht wird. Vor langer Zeit sprach die Bundeskanzlerin immerhin schon bemitleidend davon, dass sich die EZB in einer „ganz schwierigen Situation“ befinde. Ausschlaggebend für die immer wieder sehr milden Töne aus dem Regierungslager dürfte eher sein, dass die Verdienste der EZB-Geldpolitik hinsichtlich der gefeierten deutschen Konjunktur gewürdigt werden. Die Negativzinspolitik der EZB sorgt nicht nur dafür, dass die Länder der Eurozone als wichtige Handelspartner Deutschlands keine harte Rezession durchleiden und dadurch für die deutsche Exportwirtschaft von Bedeutung bleiben. Auch der für Deutschland zu niedrige Eurokurs beflügelt die Illusion einer sagenhaft starken Wirtschaft.

Hausgemachte Probleme

Für die deutsche Politik gilt offenbar die gleiche Maxime, wie sie Folkerts-Landau bezogen auf die wirtschaftlich schwächeren Länder der Eurozone formuliert hat. Die politischen Parteien haben aus Angst vor dem Wähler auch hierzulande nicht die Kraft, die vorhandenen wirtschaftlichen Probleme und Risiken anzusprechen und ignorieren diese weitgehend. Draghi dient als innenpolitischer Blitzableiter. Die negativen Konsequenzen der EZB-Geldpolitik werden genüsslich vermarktet und die Politik entledigt sich der Verantwortung hierfür. Nach diesem Muster, nur glaubwürdig aufgrund ihrer Ablehnung des Euro, funktioniert auch die AfD, die in ihrem Wahlprogramm festhält, den Deutschen „fehlen rund 500 Milliarden Euro für die Altersvorsorge“ seit dem „Amtsantritt von Gouverneur Draghi“. Konsequenterweise fordert sie eine Einstellung aller „Maßnahmen der EZB zur Manipulation des freien Kapitalmarkts“. 8

Es liegt auf der Hand, dass es wirtschaftlich nicht ganz so rund laufen kann, wenn die deutsche Wirtschaft trotz Niedrigzinsen, schwachem Euro und niedrigen Rohstoffpreisen in den letzten Jahren im Durchschnitt kaum mehr als ein Prozent jährlich wächst. Seit Jahren bemängeln Ökonomen die schon seit Jahrzehnten notorisch niedrigen privaten Investitionen in Deutschland. Auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung liegen für ein Land, das zur Wohlstandssicherung auf die Industrie angewiesen ist, auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau und konzentrieren sich zudem völlig einseitig auf die Automobilindustrie.

„Draghi dient als innenpolitischer Blitzableiter.“

Dazu passt, dass in Deutschland wenig Kapital in Start-Ups fließt, obwohl diese Unternehmen volkswirtschaftlich betrachtet langfristig wichtig sind. Junge Menschen interessieren sich in Deutschland kaum für Start-Ups und sehen stattdessen ihre Berufsperspektiven im sicheren öffentlichen Dienst und bei Großkonzernen. Kein Wunder, dass auch in Deutschland – wie in den anderen entwickelten westlichen Volkswirtschaften – das jährliche Produktivitätswachstum kontinuierlich zurückgeht. Die langfristige Auswirkung dieses Trends ist stagnierender Wohlstand, eine Entwicklung, die sich schon seit geraumer Zeit auch in Deutschland bemerkbar macht. Mehr oder weniger stagnierende Reallöhne sind für die Masse der Beschäftigten auch in Deutschland mindestens seit Anfang der 1990er Jahre die Realität.  

All diesen Problemen muss sich die Bundesregierung einerseits dank der EZB-Geldpolitik nicht stellen. Andererseits hat sich auch die Opposition im Bundestag die wirtschaftlich problematische Lage nicht auf die Fahnen geschrieben, weswegen die Bundesregierung innenpolitisch nicht unter Druck steht. Dies ändern auch Statements wie etwa des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, der kürzlich anprangerte, wir lebten „in einer Zeit der Wohlstands-Halluzination“ (und der Regierung zufolge sei der Wohlstand sicher, obwohl wir auf „brüchigem Grund leben“), nicht wirklich. Aus Angst vor dem Wähler haben die politischen Parteien, wie auch in anderen Eurostaaten, nicht die Kraft, die vorhandenen wirtschaftlichen Probleme und Risiken anzusprechen und ignorieren diese weitgehend.

In dieser Wohlstandsblase ergibt es sich, dass die Bundesregierung die gute wirtschaftliche Lage kritiklos feiern kann. Da es ja vermeintlich erstklassig läuft, kann es nur noch darum gehen, die letzten Mängel sozialer Ungerechtigkeit durch weitere Umverteilung zu beheben. Anstatt aber die Wurzeln einer in Deutschland relativ dürftigen Lohn- und Gehaltsentwicklung anzusprechen und möglichst an dieser Stelle anzusetzen, verschiebt sich die Diskussion auf Umverteilung, obwohl Deutschland weltweit einzigartig viel umverteilt und damit die Verdienstunterschiede ausgleicht.

Die wirtschaftlichen Probleme werden sich indessen aber nicht von selbst lösen. Sie würden ähnlich der Agenda-Reformen des damaligen Bundeskanzlers Schröder entschlossenes Handeln erfordern. Vermutlich ist sogar eine noch entschlossenere Politik erforderlich, denn Schröder vermochte zwar die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, nicht jedoch den Trend sinkender Produktivitätssteigerungen zu brechen und die Wohlstandsstagnation aufzuheben. Stattdessen werden die wirtschaftlichen Probleme seit den 1990er Jahren auf der Ebene der Finanzmärkte mit finanzpolitischen Drogen behandelt. Die Geldpolitik wird trotz der tiefen Eingriffe in die wirtschafts- und ordnungspolitischen Kompetenzen der nationalen Politik die zugrundeliegenden wirtschaftlichen Probleme nicht lösen können, sondern nur verschleppen. Außerdem hat die EZB dafür – wie jedermann in Deutschland inzwischen weiß – kein Mandat!

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