01.09.2001

Kapitalismus der Feiglinge

Analyse von Daniel Ben-Ami und Phil Mullan

Statt Aufbruchstimmung und Freiheitsdrang prägen Risikovermeidungs- und Regulationsstrategien die Wirtschaft. Phil Mullan über die New Economy und Daniel Ben-Amis Buch "Cowardly Capitalism".

„Weg vom reinen Denken über Essen und Trinken, hin zum Essen und Trinken als individuelle Erlebnisreise“ – so beschreibt Jocelyne Reich-Soufflet ihre berufliche Entwicklung und ihre heutige Auffassung von sinnvoller Ernährungsberatung. Als sie 1976 die staatliche Prüfung zur Diätassistentin ablegte, klangen die Ansätze der Diätberater noch anders. „Auch ich“, erinnert sie sich, „ging damals davon aus, dass man einem übergewichtigen Menschen nur einen Diätplan mit geringerer Kalorienaufnahme verordnen und dies dann automatisch zu einer Gewichtsabnahme führen müsse. Man hatte das Gefühl, die Lösung sei eindeutig und einfach, da Übergewichtigkeit in der Tat in vielen Fällen eine Frage der Nährstoffauswertung sowie der kalorischen Bilanz ist. Das Problem ist jedoch, dass solche Diäten immer nur eine begrenzte Zeit lang funktionieren.“

Reich-Soufflet hat sich von ernährungswissenschaftlichen Pflichtempfehlungen à la „Zu viele Kalorien machen dick“ oder „Butter und Eier verursachen Herztod“ freigeschwommen. Beeinflusst wurde sie dabei von dem 1978 erschienenen „Anti-Diät-Buch“ über die Ursachen von Esssucht, verfasst von der feministischen Psychotherapeutin Susie Orbach: „Mir leuchtete ein, dass physiologische Erkenntnisse zwar eine bestimmte Logik haben, aber bei der Behandlung von Essstörungen nicht die ganze Wahrheit sind.“

„Ein übergewichtiger Mensch“, sagt Reich-Soufflet heute, „verspürt eine persönliche Desorientierung, er findet sich häufig unattraktiv und kann sich nur schwerfällig bewegen. Sein Körperbild entfernt sich von seinem Körperschemata. In einem solchen Dilemma wird ihm dann oft einfach eine Diät verordnet. Die funktioniert vielleicht, so lange er sich an den vorgegebenen Plan hält. Aber irgendwann versucht dieser Mensch, auch wieder ohne Plan zu leben, und das Gewicht kommt zurück – oftmals sogar noch mehr als vorher. Hierdurch können leicht neue Selbstzweifel und Frustrationen entstehen, weil Übergewichtigkeit sowie das Scheitern von Diätprogrammen häufig als persönliches Versagen der Betroffenen empfunden werden. Zu Unrecht, denn dem enormen Widerstand des Körpers gegen den Gewichtsverlust ist mit kurzfristigen Diät-Plänen nicht beizukommen. Viele meiner Klienten haben deshalb schon einen Diätmarathon hinter sich, der aber nicht dazu geführt hat, dass sie schlanker wurden.“

Für Reich-Soufflet, die in ihrer 25-jährigen Beraterlaufbahn auch Krebspatienten, Diabetiker und Patienten mit Essstörungen betreute, ist Essen und Trinken „eine der stabilsten Gewohnheiten, die wir überhaupt haben“. Um die eigene Ernährung erfolgreich umzustellen, bedürfe es daher einer ausgefeilten und umfassenden Ernährungsstrategie. Die Erarbeitung solcher Strategien im Einvernehmen mit ihren Patienten betrachtet sie als ihre zentrale Aufgabe: „Menschen mit Essstörungen müssen ihren eigenen Rhythmus von Hunger und Essen herausfinden.“ Dieser von ihr als „Kennen lernen der eigenen Ernährungssprache“ bezeichnete Prozess setzt an den Wurzeln des Problems an. Nach Ansicht von Reich-Soufflet gibt es zwei Merkmale für die Entwicklung krankhafter Essstörungen: „Das ist zum einen das Unvermögen, Hunger, Sättigung und andere Empfindungen zu erkennen. Zum anderen ist es ein fehlendes Bewusstsein darüber, dass es das eigene Leben zu leben gilt.“

Vor drei Jahren begann Jocelyne Reich-Soufflet in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Zentrum für Essstörungen mit der Entwicklung des so genannten „Anti-Diät-Konzepts“, eines Ausbildungsprogrammes für Berater. Im Gegensatz zur traditionellen Ernährungsberatung geht es hierbei nicht um die Erstellung von Diätplänen, Tabellen und Übersichten von guten und schlechten, richtigen und falschen Lebensmitteln. „Wir wollen Menschen mit Essstörungen helfen, die eigene Ernährungssprache zu erkennen. Ich bin der Überzeugung, dass nur so eine positive Ernährungsumstellung erfolgen kann.“

Von den neuesten Diäten aus den Frauenzeitschriften hält sie ebenso wenig wie von den Glaubenssätzen der strikt ökologischen Ernährung, die den Menschen Körner verschreibt, um Verdauungsstörungen zu vermeiden. „Wenn dies richtig wäre,“ sagt Reich-Soufflet schmunzelnd, „müsste ganz Südeuropa mit Verdauungsproblemen kämpfen, was nicht der Fall ist. Die meisten Menschen mit Verdauungsproblemen finden wir in Deutschland.“

Die Diskussionen über Ernährung und die gewachsene Bedeutung des Themas in den Medien sind für sie eine zweischneidige Sache: „Zwar ist es gut, dass wir uns über Lebensmittel umfassend informieren können. Auf der anderen Seite kann man aber bei den Betroffenen ohnehin eine Überbeschäftigung mit dem Essen oder Nicht-Essen feststellen. Die Ausbreitung des Themas bringt sie der Lösung ihres Problems nicht näher. Zudem steigert die Informationsflut die persönliche Verwirrung, weil man ständig aufs Neue suggeriert bekommt, welche Nahrungsmittel für einen gut oder schlecht sind. Für schlanke und gesunde Menschen mag die Lektüre über Pro und Contra diverser Kost interessant sein. Viele lesen entsprechende Artikel wie einen Comic und lächeln dabei. Aber Betroffene – und um die geht es – können über die ständigen Warnungen und Empfehlungen nicht lachen. Sie fühlen sich zutiefst verunsichert. Dies führt letztlich auch dazu, dass sie sich immer leichter manipulieren und ihr Leben von unsinnigen Ernährungs- und Diätplänen bestimmen lassen, anstatt auf sich selbst zu hören.“

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