22.08.2022

Juristen in kritischem Zustand

Von Christian Zeller

Titelbild

Foto: Morgan4uall via Pixabay / CC0

Dass der Vortrag der Biologin Vollbrecht über Zweigeschlechtlichkeit von der Berliner Humboldt-Uni abgesagt wurde, lag am „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“. Dieser argumentiert bedenklich.

Eine Ausladung sorgte jüngst für bundesweite Schlagzeilen. Am 2. Juli 2022 sollte die Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht anlässlich der Langen Nacht der Wissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Vortrag halten. Der Titel: „Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“. Der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ vermutete transfeindliche Tendenzen und rief zum Protest auf. Dies geschah nicht gänzlich ohne Grund, hatte Vollbrecht doch an einem Dossier mitgewirkt, das dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen unterstellte, es würde Kinder zugunsten einer, so ist dort zu lesen, „Transgender-Ideologie“ indoktrinieren. Zudem wirkte Vollbrecht an einem mittlerweile von rund 1600 Menschen unterzeichneten Aufruf mit, der eine Beendigung dieser Praxis fordert. Eine Zusammenfassung des Dossiers schaffte es Anfang Juni in die „Welt“. Springer-Vorstandschef Matthias Döpfner distanzierte sich später von dem Artikel. Er wirke „oberflächlich, herablassend und ressentimentgeladen. Nicht weit entfernt von der reaktionären Haltung: Homosexualität ist eine Krankheit.“

Unabhängig davon, wie man zu dem Dossier und dem Aufruf steht – es geht Vollbrecht und ihren Mitstreitern gewiss nicht ausschließlich um reine Wissenschaft, sondern vielmehr um eine auch politisch motivierte Intervention, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufruhen mag, aber nicht aus diesen ableitbar ist. Vollbrechts Ausführungen selbst jedoch drehten sich um Zusammenhänge, die man an einer Universität darstellen und diskutieren können muss und die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch richtig sind. In dem Vortrag, der wenige Stunden nach der Absage ihres Vortrages auf YouTube zu sehen war, wird erläutert, dass es bei Säugetieren nur zwei Keimzellen gibt: Samen und Eizellen. Auch alle geschlechtlichen Mischformen oder sexuelle Transformationen – der Geschlechtswechsel bei Fischen etwa – vollzögen sich in diesem biologisch vorgegebenen binären Rahmen. Beim Säugetier Mensch ist das nicht anders.

Transfeindlich sind derartige Aussagen nicht. Und so ist es höchst bedenklich, dass sich die Humboldt-Universität dazu hinreißen ließ, die Veranstaltung wegen „Sicherheitsbedenken“ abzusagen, anstatt die Wissenschaftsfreiheit aktiv zu verteidigen. Am 14. Juli konnte Vollbrecht ihren Vortrag schließlich nachholen. Nachfragen ließ sie nicht zu. Man kann das, wie die Historikerin Gabriele Metzler, für ein monologisches Verständnis von Wissenschaft halten. Warum aber versetzt der Streit um „Gender“ vs. „Sex“ westliche Industrienationen in den letzten Jahren immer wieder in die allergrößten Wallungen? Dies hat, wie im Folgenden am Beispiel der Intervention der „Kritischen Jurist*innen“ gezeigt werden soll, nichts mit dem Streben nach Gleichberechtigung aller Lebensweisen als solchem zu tun, sondern vielmehr mit dem freiheitsgefährdenden Weltbild, auf dessen Grundlage dieser Kampf von den Verfechtern einer postmodernen Identitätspolitik ausgetragen wird.

Gender und Zweigeschlechtlichkeit

Normativ betrachtet ist die „Gender“-Frage in liberalen Gesellschaften – im Prinzip jedenfalls – sehr einfach: Es gilt der Grundsatz, dass jeder nach seiner Façon glücklich werden können soll. Wer seine Identität daran bindet, weder Frau noch Mann zu sein, kann das gerne tun, und für genau diese Fälle hat bereits im Jahr 2017 das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber verlangt, das Personenstandsrecht so zu ändern, dass auch Menschen, die sich weder als Mann noch Frau begreifen, eine Möglichkeit erhalten, ihre vom (biologisch vorgeprägten, aber sozial nicht determinierten) binären Geschlechter-Schema abweichende geschlechtliche Identität zum Ausdruck zu bringen. Dies folge, so das Bundesverfassungsgericht, aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Diskriminierungsverbot.

„An der biologischen Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit ändert die rechtliche Einführung der Kategorie ‚divers‘ freilich nichts.“

Dieser rechtlich-politische Wandel ist freilich nicht vom Himmel gefallen, sondern die Folge langer Kämpfe von Menschen, die sich gegen den stereotypen Binärfetischismus des 19. Jahrhunderts zur Wehr gesetzt haben. Wurde „der Mann“ im Gefolge der Industrialisierung und Verbürgerlichung der Gesellschaft als rein „sachlich“ und „rational“ angesehen, so galt „die Frau“ als „emotional“, wie Karin Hausen in ihrem klassischen Aufsatz zur „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ von 1976 aufzeigte. Zwar mögen die psychologischen Unterschiede der Geschlechter auf evolutionsbiologischen Differenzen basieren, allerdings können diese durch die Einrichtung der Gesellschaft in hohem Maße verstärkt werden. Die Freiheitsspielräume, die liberale Verfassungen ermöglichen, können so auf der Ebene der von stereotypem Denken und Handeln durchzogenen Verfassungswirklichkeit fast gänzlich zunichtegemacht werden. Am meisten Leid erfuhren diejenigen, die außerhalb des sozio-kulturellen Geschlechterschemas verortet wurden, nämlich Homo-, Trans- und Intersexuelle: Massive soziale Abwertungen, strafrechtliche Verfolgungen und Zwangsheilungsversuche waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gang und gäbe. Diskriminierung gibt es auch heute noch. Dass der starre, soziale Geschlechterdualismus seit einigen Jahrzehnten immer weiter aufbricht, muss man deshalb, gemessen an den Maßstäben liberaler Gesellschaften, als großen Fortschritt ansehen.

Nur: An der biologischen Tatsache der Zweigeschlechtlichkeit ändert die rechtliche Einführung der Kategorie „divers“ freilich nichts. Und die im postmodernen Gestus sich vollziehende „Dekonstruktion“ dieser Tatsache ist auch gar nicht notwendig, um Geschlechterstereotypen und die damit auch verbundenen Diskriminierungen von Menschen zu beseitigen. Aus der biologischen Zweigeschlechtlichkeit folgt nämlich nicht, dass diese auch in sozialer Hinsicht zur Norm zu erheben ist. Aus einem Sein folgt kein Sollen („naturalistischer Fehlschluss“). Umgekehrt würde auch der naturwissenschaftliche Nachweis, dass ein drittes oder viertes Geschlecht existiert, nicht die Diskriminierungsfreiheit „non-binärer" Personengruppen sicherstellen. Hierfür muss stets die Gesellschaft und nicht die „Biologie“ adressiert werden.

Ebenso wenig müssen vorhandene psychologische Geschlechterdifferenzen abgestritten werden, um eine Gleichberechtigung der Geschlechter zu erreichen. In Lehrbüchern der Entwicklungspsychologie ist nachzulesen, dass die psychologischen Eigenschaften von Männern und Frauen im Durchschnitt variieren und sich in Gestalt „überlappender Kurven“ darstellen lassen. Das heißt: Wenn Frauen im Durchschnitt einfühlsamer sind, dann bedeutet dies nicht, dass es nicht auch viele Frauen gibt, die wesentlich unempathischer als viele Männer sind. Aus den über eine hohe Zahl an Messwerten nachweisbaren psychologischen Differenzen der Geschlechter folgt nicht, dass ein Mann, der hohe Werte auf der Empathie-Skala einnimmt, kein „echter Mann“ ist. Gleichberechtigung bezeichnet ja gerade die Tatsache, dass ein jeder so sein können soll, wie er sich selbst empfindet, ohne Druck und identitäre Zuordnungen von außen, und genau darin allen anderen gleichgestellt zu sein. Das gilt freilich auch für Personen, die – wie Intersexuelle – männliche und weibliche Geschlechtsmerkmale aufweisen, oder – wie Transsexuelle ­– sich mit dem Geschlecht identifizieren, das nicht ihren körperlichen Geschlechtsmerkmalen entspricht. Das urliberale Anliegen der gleichen Freiheit für alle Lebensweisen kann deshalb völlig ohne das Abstreiten des Offensichtlichen, nämlich der biologischen Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, erreicht werden.

„Nun soll ein fiktives ‚drittes Geschlecht‘ zu einem neuen naturalistischen Maßstab erhoben werden, vor dessen Hintergrund die größte Mehrzahl der Menschen ihre Geschlechtlichkeit neu verstehen lernen soll.“

In der auch mit biologischen Argumenten angereicherten „Dekonstruktion“ von Geschlecht steckt zudem eine Anmaßung, die genau jenen Widerstand gegen „Gender“ produziert, der eigentlich vermieden werden sollte. Denn nun soll ein (nach allem, was wir naturwissenschaftlich wissen) fiktives „drittes Geschlecht“ zu einem neuen naturalistischen Maßstab erhoben werden, vor dessen Hintergrund die größte Mehrzahl der Menschen ihre Geschlechtlichkeit neu verstehen lernen soll. Dass eine solche volkspädagogisch motivierte Re-Naturalisierung der nur auf der sozialen Ebene zu lösenden Geschlechterfrage zu irritierten Gegenreaktionen führt, gehört zur Tragödie der postmodernen Kämpfe im Namen geschlechtlicher Beliebigkeit. Der Kampf für die Gleichberechtigung aller Lebensweisen wird dadurch fatalerweise in das Licht eines postmodernen, anti-aufklärerischen Obskurantismus gerückt, dem man zurecht höchst kritisch gegenüberstehen sollte, wenn einem die Grundprinzipien liberaler Demokratien etwas wert sind. Rechte und erzkonservative Bewegungen, die mit „Gender-Gaga“ oder „Genderismus“ auch gleich das Prinzip der Gleichberechtigung hinter sich lassen möchten, gehören zu den großen Profiteuren dieses akademischen Irrationalismus.

Statement des „akj“

Wie freiheits- und wissenschaftsfeindlich die Auffassungen derjenigen Akteure bisweilen sind, die bereits bei der Thematisierung von Zweigeschlechtlichkeit als biologischer Tatsache „Transphobie“ vermuten, wird deutlich, wenn man sich die Stellungnahme des „Arbeitskreises kritischer Jurist*innen“ zur Absage des Vollbrecht-Vortrages ansieht. In ihrem „Statement zum Protest des akj gegen Transfeindlichkeit“ vom 4. Juli 2022 ist zu lesen:

Im Nachgang unserer Kundgebung wurde in vielfältigen Medien über den Vorfall berichtet. Vorgeworfen wurde unter anderem, dass der akj das Prinzip des freien Diskurses im universitären Raum nicht verstanden hätte. Dabei verwechselten die Verfasser*innen Meinungsfreiheit mit Widerspruchsfreiheit. Marie-Luise Vollbrecht hat das Recht, ihre Thesen mit jedwedem Publikum zu teilen, das sich diese anhören will. Sie hat allerdings keinen Anspruch darauf, dies unwidersprochen und im Senatssaal der HU zu tun. Des Weiteren verwechseln sie Meinungen mit Tatsachen. Vollbrecht plante keine Meinungsdarstellung ihrer Anschauungen zum Thema Geschlecht, sondern vielmehr eine Darstellung von (angeblichen) Tatsachen. Tatsachen sind allerdings nur soweit von der Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG gedeckt, wie sie einer gewissen faktischen Grundlage nicht entbehren. Das kann von Vollbrechts Thesen nicht behauptet werden.

Betrachten wir diese Argumentation, die einer in diesen Kreisen verbreiteten Kultur des Meinungsausschlusses eine pseudo-juristische Note verleiht, etwas genauer. Der Arbeitskreis betont zunächst, dass Vollbrecht den legitimen Anspruch hat, ihre Thesen zu Gehör zu bringen. Der Umstand, dass dies nicht „unwidersprochen“ geschehen muss, liegt in der Natur der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, in der man nur dadurch Erkenntnisse generieren kann, dass man seine Thesen konkurrierenden Ansichten und methodisch angeleiteten Prüfverfahren aussetzt. Auch der Hinweis, dass Vollbrecht kein Recht hat, ihren Vortrag im „Senatssaal der HU“ zu halten, ist korrekt. Jeder Institution steht es frei, die Sprecher in ihren Räumen selbst zu bestimmen – dies schließt das Recht ein, einen Vortrag auch abzusagen, wenn es auch abseits der rechtlichen Bewertung eine potentiell reputationsschädigende gegenüber der Doktorandin Vollbrecht entfalten kann, die deshalb wohlbedacht werden sollte. Allerdings haben auch die „Kritischen Jurist*innen“ kein Recht zu entscheiden, wer im Senatssaal der HU auftritt.

Im nächsten Satz wird die Rechtsauffassung des Arbeitskreises geradezu verstörend. Die angehenden Juristen behaupten hier nämlich, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung um Tatsachen bereits dann nicht mehr geführt werden darf, wenn diese Frage einmal zugunsten einer bestimmten Position (vermeintlich) entschieden wurde. Die wissenschaftliche Streitfrage lautet hier: Gibt es zwei oder mehr Geschlechter in der Gattung Homo sapiens? Da sich der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ in dieser Frage offenbar, mit einer bloß angedeuteten Referenz auf vermeintliche naturwissenschaftliche Erkenntnisse, auf die Position festgelegt hat, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, sei die Gegenposition nicht mehr von der „Meinungsfreiheit“ gedeckt. Der „Arbeitskreis“ begeht hier allerdings noch unabhängig von seiner inhaltlichen Festlegung in der zur Debatte stehenden Streitfrage einen gravierenden Fehlschluss. Obwohl er schreibt, dass Vollbrecht „keine Meinungsdarstellung ihrer Anschauungen zum Thema Geschlecht, sondern vielmehr eine Darstellung von (angeblichen) Tatsachen“ beabsichtigte, ordnet er die Ausführungen, die Vollbrecht als Biologin zu einer wissenschaftlichen Sachfrage tätigt, unbesehen der Welt des Meinungsstreits nach Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zu. Dass die Äußerungen von Vollbrecht durch die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG gedeckt wären, ziehen jene Studierenden der Humboldt-Universität gar nicht erst in Betracht. Der Unterschied ist freilich entscheidend, denn es handelt sich um zwei verschiedene Grundrechte.

„Selbstverständlich dürfen in einer liberalen Demokratie Wissenschaftler ungehindert um die Wahrheit ringen. Wer nichts Falsches sagen darf, kann auch nichts Richtiges sagen.“

Während im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts für eine Meinung ein „Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens, des Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung“ konstitutiv ist, so bezieht sich Wissenschaft „auf alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist.“ Für eine Meinung ist der Bezug zu der Person, die sie äußert, wesentlich; sie muss weder begründet noch rational sein, und sie liegt typischerweise in Form eines Werturteils vor, das sich allerdings auf vielfältige Weise mit Tatsachenbehauptungen vermischen kann. Mit einer wissenschaftlichen Aussage ist hingegen der Anspruch verbunden, ein objektives Urteil abzugeben, das von anderen Wissenschaftlern auf der Grundlage bestimmter Methoden, Theorien und Verfahren kritisiert werden kann. Jede wissenschaftliche Erkenntnis unterliegt damit, ihrer „prinzipiellen Unabgeschlossenheit." Wissenschaftliche Wahrheit ist deshalb, wie das Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf Wilhelm von Humboldt hervorhebt, „‚etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes‘“.

Es geht deshalb von vornherein fehl, wenn der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ Vollbrechts Äußerungen dadurch für illegitim erklären möchte, dass sie – aus der Sicht des Arbeitskreises – „Falsches“ von sich gibt. Selbst wenn dies der Fall wäre, befände sich die Äußerung immer noch als Teil der wissenschaftlichen Forschung und Lehre im Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit. Denn aus der Unabschließbarkeit des wissenschaftlichen Prozesses folgt eben, dass jede wissenschaftliche Äußerung wieder in Frage gestellt werden kann und sogar in Frage gestellt werden sollte, wenn sich der mit der Wissenschaft verbundene Telos, nämlich der Fortschritt von Erkenntnis, überhaupt realisieren soll. An dieser Stelle, wie der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ dies tut, eine Aussage prinzipiell aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausschließen zu wollen, verstößt gegen jenen Sinn von Wissenschaft, den das Bundesverfassungsgericht in seiner Auslegung des Grundgesetzes zugrunde legt.

Selbstverständlich dürfen in einer liberalen Demokratie Wissenschaftler ungehindert um die Wahrheit ringen. Wer nichts Falsches sagen darf, kann auch nichts Richtiges sagen, da sich das (vorübergehend) Richtige nur aus der fortwährenden Elimination von unzutreffenden Hypothesen ergibt. Und so bestätigt der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ ausgerechnet in jener Passage, in der er zu dem medial geäußerten Vorwurf, dass er „das Prinzip des freien Diskurses im universitären Raum nicht verstanden hätte“, Stellung bezieht, dass er diesen Grundsatz in der Tat fundamental missversteht. Dieses Missverständnis mag durch das in der sozialaktivistischen Wissenschaftsszene enorm verbreitete und geradezu zum Dogma geronnene sozialkonstruktivistische Weltbild bedingt sein.

Trägt eine Akademiker-Gruppe den Namen „kritisch“ vor sich her, so kann man sich nahezu sicher sein, dass in den von den jeweiligen Gruppierungen herangezogenen akademischen Referenztexten glaubenssatzartig vorgetragene Thesen formuliert werden, die darauf abstellen, dass es „die Wirklichkeit nicht gibt“, dass etwas nicht unabhängig von der „Perspektive“ des Sprechenden zu verstehen ist, dass Geschlecht eine „soziale Konstruktion ist“, dass Naturwissenschaften seit 200 Jahren daran mitgewirkt haben, das „Patriarchat“ zu festigen und insofern als reine Instrumente der „Deutungsmacht“ prinzipiell keine Objektivität für sich beanspruchen können usw. usf. Die Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse, wie auf ein „drittes Geschlecht“, das der Arbeitskreis hier insinuiert, bedeutet von der Warte des sozialaktivistischen Konstruktivismus aus häufig nur, über ein bestimmtes Thema, gut foucaultianisch, die „Deutungsmacht“ erringen zu wollen. Zu diesem Zweck werden dann auch die bei anderer Gelegenheit als bloße „Herrschaftsinstrumente“ diskreditierten Naturwissenschaften in Anspruch genommen, wenn es der für sakrosankt erklärten Sache dient. Vor dem Hintergrund eines solchen sozialkonstruktivistischen Weltbildes mag es plausibel scheinen, den Äußerungen von Vollbrecht einen Status, der über das bloße „Meinen“ hinausgeht, gar nicht erst zuzusprechen.

„Mittlerweile wird in den entsprechenden akademischen Kreisen weltanschaulich fixierte Juristerei betrieben, um das eigene Weltbild mit allen Mitteln abzusichern.“

Zudem kann der Bereich, in dem auch unwahre Tatsachenäußerungen durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sind, groß sein, und zwar insbesondere dann, wenn sie – was in der freien Wildbahn des politischen Diskurses oft der Fall ist – von subjektiven Wertungen durchdrungen sind. Man mag ja über die biologischen Grundlagen des Kulturwesens Mensch trefflich streiten – auf dem eigenen Terrain der Rechtswissenschaften begeben sich die „Kritischen Jurist*innen“ auf Abwege. Mittlerweile wird in den entsprechenden akademischen Kreisen weltanschaulich fixierte Juristerei betrieben, um das eigene Weltbild mit allen Mitteln abzusichern. Die in einem wissenschaftlichen Format getätigte Äußerung „Es gibt zwei Geschlechter“ müsste allerding schon auf das Niveau von formellen Beleidigungen gebracht werden, um ihre Legitimität im Bereich der Meinungsäußerung in Frage zu ziehen. Setzte sich diese Rechtsauffassung der „Kritischen Jurist*innen“ einmal durch, so sieht man förmlich schon die Meinungspolizei in der Wissenschaft anrücken, die „falschen“ Auffassungen zu Rassismus, Transphobie und Patriarchat zu Leibe rückt. Das ist der Stoff für eine veritable Dystopie.

Woke und kritisch

Wir sehen mit der Einlassung der „Kritischen Jurist*innen“ gewissermaßen dabei zu, wie die Kultur des Meinungsausschlusses, die mit der linksidentitären Weltanschauung der akademischen Woke Culture bisweilen verknüpft ist, in den formal-rechtlichen Bereich überzugreifen beginnt. Zu Ende gedacht dürften wir das Schutzgut der Wissenschaftsfreiheit wohl gleich gänzlich streichen, weil wissenschaftliche (und juristische) Rationalität ja ohnehin nur ein Unterdrückungsinstrument des weißen, heterosexuellen Cis-Mannes ist. Und über den weiten Bereich des Meinens und Glaubens – der bislang für eine funktionierende Demokratie, in der es um einen Streit um Werturteile und damit um einen Streit um die Regeln des Zusammenlebens geht –, verhängen die dann ‚herrschenden‘ Juristen einen so engen Spielraum, dass alles, was einmal vom Wahrheitsministerium als „unwahr“ klassifiziert wurde, nicht länger unter die Meinungsfreiheit fällt.

Blicken wir abschließend auf das, was das tieferliegende Motiv bildete, zum politischen Protest gegen Vollbrecht aufzurufen. Es geht, wie könnte es bei einem „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ anders sein, um das Motiv der Kritik. Zwei Begriffe von „Kritik“ treten hier in einen Gegensatz. Sozialkritik kritisiert im Gestus der „Kritischen Theorie“ der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno begründeten Frankfurter Schule die gesellschaftliche Wirklichkeit auf der Basis von Normen, die der Kritiker so klar zu erkennen glaubt, dass er sie deswegen gerade nicht mehr der öffentlich-diskursiven Prüfung aussetzen möchte. Diese intellektuelle Schule war stilbildend für Wortgeschöpfe wie „Kritische Pädagogik“, „Kritische Geographie“ oder „Kritische Rechtswissenschaften“.

Demgegenüber baut wissenschaftlich-diskursive Kritik darauf auf, dass eben jede Äußerung immer wieder der Prüfung auszusetzen ist. Wer im sozialkritischen Gestus, dem die „Kritischen Jurist*innen“ folgen, ein für alle Mal die richtigen Normen erkannt hat, der die Gesellschaft zu folgen hat, der muss dem Prinzip der Kritik innerhalb der Wissenschaft, nämlich „der freundlich-feindlichen Zusammenarbeit vieler Wissenschaftler“1 eine Absage erteilen. Auf diese Weise soll nun im Geiste einer auch rechtlich sanktionierten Kultur des Meinungsausschlusses die Gesellschaft in ihrer ‚ewigen Wahrheit‘, wie sie sich die „Kritischen Jurist*innen“ vorstellen, zementiert werden. Die Institution der modernen Wissenschaft und die freie politische Debatte, die beide vom Prinzip der wechselseitigen Kritik leben, kämen damit an ihr Ende. Der Umstand, dass Jura-Studenten, in deren Äußerungen solche Tendenzen aufzuspüren sind, in nicht allzu weiter Zukunft womöglich als Richter, Anwälte oder behördliche Rechtspfleger tätig sein werden, sollte einen tief beunruhigen.

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