17.02.2016

Jagd auf potenzielle Vergewaltiger

Kommentar von Brendan O’Neill

Großbritannien bestraft unschuldige Männer. Sie könnten eines Tages jemanden vergewaltigen, so die Begründung. Die Betroffenen müssen es nun einen Tag im Voraus der Polizei melden, wenn sie Sex haben möchten. Der britische Rechtsstaat schafft sich ab.

Wer sich fragt, wie man sich eine Tyrannei vorzustellen hat, muss nur einen Blick nach Yorkshire werfen. 1 24 Stunden bevor er Geschlechtsverkehr hat, muss ein Mann bei den Behörden eine entsprechende Ankündigung einreichen. Der Mann – sein Name kann aus rechtlichen Gründen nicht genannt werden – soll jemanden vergewaltigt haben. Er wurde allerdings in einem Gerichtsverfahren freigesprochen. Nichtsdestotrotz befand das zuständige Amtsgericht, er sei eine Gefahr, und verhängte die sogenannte „Sexual Risk Order“. Nicht verurteilte Menschen, die den Behörden als sexuelle Gefahr erscheinen, müssen demnach spezielle Auflagen erfüllen.

Der Mann muss nun der Polizei den Namen, die Adresse und das Geburtsdatum derjenigen Person mitteilen, mit der ins Bett gehen will. „Mindestens 24 Stunden vor dem sexuellen Kontakt“ müssen die Angaben den Behörden vorliegen. Er wird nun, obwohl er freigesprochen wurde, wie ein Krimineller behandelt. Der Fall sollte jeden alarmieren, dem an ordnungsgemäßen Gerichtsverfahren liegt, der frei leben möchte und der es ablehnt, dass der Staat seine Nase in die sexuellen Beziehungen von einvernehmlich handelnden Erwachsenen steckt.

In den Medien wurde das Urteil vor allem als seltsam oder lustig dargestellt. Allein der Gedanke, dass ein armer Kerl, der in einer Bar kurz davor ist, eine Dame zu verführen, nun erst um die Erlaubnis der Polizei betteln muss, bevor er den nächsten Schritt gehen kann, sorgte bei den Menschen für Gelächter. Der Fall ist allerdings alles andere als komisch. Vielmehr offenbart das Urteil, wie die Werte der Gerechtigkeit und der Freiheit zunehmend schwanken. Das Ganze klingt nach einer irrwitzigen Kombination aus der Sexpolizei in Orwells 1984 und der Idee des „Precrime“ aus Philip K. Dicks Minority Report. Dabei werden die düsteren Zukunftsvisionen einer in das intime Beziehungsleben eingreifenden Gesellschaft und die Behandlung des Individuums als „Krimineller in der Mache“ Wirklichkeit.

„Er könnte also dafür eingesperrt werden, dass er Geschlechtsverkehr hatte“

Die „Sexual Risk Order“ gegen den Mann 2 ist nur eine vorläufige Maßnahme. Eine weitere Verhandlung findet im Mai statt. Dann wird über die Verhängung der gesamten „Sexual Risk Order“ entschieden, deren Wirkungsdauer sich auf zwei Jahre bis zu lebenslänglich beläuft. Verstößt die Person gegen eine der erlassenen Auflagen, droht ihr eine Gefängnisstrafe von bis zu fünf Jahren. Hat der Mann – der kein Krimineller ist! – Geschlechtsverkehr, ohne vorher die Behörden zu benachrichtigen, kann er dafür inhaftiert werden. Er könnte also dafür eingesperrt werden, dass er Geschlechtsverkehr hatte. Das sollte jedem Sorgen bereiten, der an eine grundlegende Autonomie glaubt, an die Selbstbestimmung des Individuums über Geist und Körper: Einem offenbar unschuldigen Mann droht eine Gefängnisstrafe für das bloße Sex-Haben.

Mit den im Jahr 2013 eingeführten „Sexual Risk Orders“ wird das dystopische Konzept des „Precrimes“ zum Leben erweckt. Die Precrimes werden vor allem dann verfolgt, wenn es nicht genügend Beweise für einen sexuellen Übergriff gibt oder, wie ein führender Anwalt es ausdrückt, die Autoritäten der Überzeugung sind, dass jemand „ein Verbrechen begehen könnte“. Die Sexual Risk Orders sollen helfen, „Kriminalität vorherzusagen“. 3 Im Jahr 2016 möchte Großbritannien also Precrimes verfolgen. Die Regierung sieht bestimmte Individuen als Vorab-Kriminelle an, deren Rechte eingeschränkt werden können – nicht aufgrund ihrer Taten, sondern aufgrund dessen, was sie tun könnten. Auf der Grundlage der Fantasien von selbsternannten Sehern unter den Beamten, die nun die Strafverfolgung von der Gegenwart auf die Zukunft ausdehnen.

Von staatlicher Seite heißt es, „Sexual Risk Orders“ 4 würden dann verhängt, wenn eine „sexuelle Handlung vorliegt, bei der es begründet erscheint, eine Verordnung zu erlassen“, selbst, „wenn die Person niemals straffällig geworden ist“. Diese Menschen sind keine Kriminellen. Sie hatten nur Sex auf eine Weise, die den Behörden nicht gefällt. Vom strafrechtlichen Verfolgen sexueller Übergriffe sind die Behörden nun dazu übergegangen, Sex an sich strafrechtlich zu verfolgen. Die Betroffenen haben vielleicht etwas eigenartige, möglicherweise perverse sexuellen Präferenzen, aber sie sind nicht kriminell. Durch diese „Orders“ haben sich unsere Herrscher Zugriff auf das Sexleben der Bürger verschafft – auf das, was zwischen nicht-kriminellen, zustimmungsfähigen Erwachsenen geschieht. Auch in den intimsten Bereich des Privatlebens haben die Behörden nun Einblick erlangt.

Das Ideal des rechtsstaatlichen und fairen Verfahrens wird durch die „Sexual Risk Orders“, wie es der Fall in Yorkshire zeigt, aufgehoben. Falls jemand wie ein Krimineller oder Vorab-Krimineller behandelt werden kann, obwohl er nicht eines Verbrechens überführt wurde, so untergräbt dies die Grundlage jeder zivilisierten Gesetzgebung, die sich aus der Magna Carta 5 entwickelt hat. Erst im letzten Jahr feierte Großbritannien das 800-jährige Jubiläum der Magna Carta. In jenem Dokument der britischen Rechtsgeschichte heißt es: „Kein Mensch soll verhaftet oder inhaftiert oder seiner Rechte oder seines Besitzes beraubt werden“, sofern er nicht „eines Verbrechens für schuldig befunden“ und „rechtmäßig verurteilt“ wurde. Diese Sätze sind der Grundstein demokratischer Gesellschaften: Die Bürger sind frei, bis sie nachvollziehbar und offen eines Verbrechens überführt wurden. Die Regel wurde nun umgekehrt. Ein Mann wurde seiner Rechte beraubt, welche die Übrigen von uns genießen, obwohl er keines Verbrechens überführt wurde. Er wurde einfach zu einem Vorab-Vergewaltiger erklärt.

„Ein Mann wurde seiner Rechte beraubt, obwohl er keines Verbrechens überführt wurde“

Es handelt sich hierbei um keinen Einzelfall. Das britische Justizsystem geht zunehmend dazu über, nicht mehr nur Verbrechen zu bestrafen, sondern Verhalten. Und dazu, Verbrechen zu verhindern, bevor sie geschehen. „Sexual Risk Orders“ rücken das sexuelle Privatleben der Menschen in den Zuständigkeitsbereich der Gesetzgebung. „Anti-Social Behaviour Orders“ und ihre zahlreichen Entsprechungen regulieren die für manche irritierenden Gewohnheiten von Menschen, die sich keines Vergehens schuldig gemacht haben. Mit „Extremism Disruption Orders“ möchte die Regierung „Vorab-Terrorismus“ überwachen und bestrafen, indem die Redefreiheit von nicht-gewalttätigen Radikalen eingeschränkt wird.

Das Prinzip, Menschen in Ruhe zu lassen, sofern sie nicht verurteilt wurden – sie Sex haben zu lassen, mit wem sie möchten und sie sagen zu lassen, was sie möchten –, wurde auseinandergerissen. Wir bekunden unsere Treue zur Magna Carta und zerstören ihren Geist. Eine Gesellschaft, in der ein unschuldiger Mann der Polizei Informationen über alle seine sexuellen Eroberungen liefern muss, ist nicht frei. Im Gegenteil: Es ist eine Gesellschaft, in der kein von den Behörden unabhängiger Lebensbereich existiert und in der immer mehr von uns als Vorab-Kriminelle angesehen werden und wo Sex als Vorab-Vergewaltigung gilt.

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