14.06.2021

Ja zur kulturellen Aneignung

Von Promise Frank Ejiofor

Titelbild

Foto: Infrogmation via WikiCommons / CC BY 2.5

Kulturelle Aneignung ist von zentraler Bedeutung für den menschlichen Fortschritt und die Verbundenheit der Menschen untereinander.

Als sie entdeckten, dass die Sängerin Rita Ora, die manchmal Afro- und Boxer-Braids trägt, albanischer und nicht afrikanischer Abstammung ist, machten sich wütende Kritiker auf Twitter daran, sie für ihre „Aneignung der schwarzen Kultur“ zu beschimpfen. 1 Einer schrieb: „Rita Ora ist nicht schwarz. Also hat sie die ganze Zeit Blackfishing betrieben und sich die Kultur angeeignet.“ Vor kurzem hat ein Instagram-Foto der Sängerin Adele, das sie mit Bantu-Knoten zeigt, die Kritiker so wütend gemacht, dass ein Instagram-Benutzer sagte: „Bantu-Knoten dürfen von Weißen keinesfalls in irgendeinem Zusammenhang getragen werden, Punkt.“

Ora und Adele sind nicht die einzigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die der Aneignung schwarzer und anderer Kulturen beschuldigt werden. Kim Kardashian, Ariana Grande, Beyoncé, Bruno Mars, Madonna, Nicki Minaj und Awkwafina sind alle heftig kritisiert worden, weil sie sich bei Kulturen bedient haben, die scheinbar „außerhalb“ ihrer eigenen liegen. Diese Vorwürfe der „kulturellen Aneignung“ (cultural appropriation) sind falsch; sie sind Teil eines größeren, „woken“ Projekts, das Menschen eher trennt als vereint.

Kulturelle Aneignung bedeutet im Allgemeinen die Verwendung oder Darstellung der Praktiken und künstlerischen Stile einer anderen Kultur ohne Zustimmung oder Genehmigung derer, denen diese Kultur wichtig ist. Ursprünglich bezog sich der Begriff auf den Gebrauch der Kultur von Randgruppen durch Angehörige der dominanten Kultur, doch heute wird er auf jeden – ob weiß, schwarz oder braun – angewandt, der etwas aus einer anderen Kultur übernimmt. 2

„Kim Kardashian, Ariana Grande, Beyoncé, Bruno Mars, Madonna, Nicki Minaj und Awkwafina sind alle heftig kritisiert worden, weil sie sich bei Kulturen bedient haben, die scheinbar ‚außerhalb‘ ihrer eigenen liegen.“

Im 18. Jahrhundert war für den deutschen Philosophen Johann Gottfried Herder Kultur eine Lebensweise, die das natürliche Produkt eines durchweg homogenen Volkes war. Daher war es notwendig, Kontaminationen zu verhindern, um sicherzustellen, dass die Kultur nicht von Außenstehenden infiziert oder übernommen wurde. Herder vertrat die Ansicht, dass Kulturen im Wesentlichen durch spirituelle Essenzen – den Volksgeist – abgegrenzt werden, die in der Sprache des Volkes verankert sind.

Obwohl Herder seine Sichtweise nicht als anti-kosmopolitisch verstanden hat, inspirierte sie doch eine Haltung des kulturellen Essentialismus. Und ein solcher Essentialismus ist nun von „woken“ Aktivisten des 21. Jahrhunderts verinnerlicht worden. Auch sie betrachten Unterschiede als essentiell. Sie haben sich eine Herdersche Sichtweise zu Eigen gemacht, die jede Kultur als undurchdringlich, einzigartig, authentisch und als vor Verunreinigung zu bewahren betrachtet.

Eine Gegenposition nahm Anfang des 20. Jahrhunderts der deutsch-amerikanische Anthropologe Franz Boas ein. Er betrachtete Kultur nicht als stabil, sondern als sich ständig verändernd. Für ihn ging es bei kulturellen Merkmalen um Diffusion und Modifikation. Eine Volkskultur, so glaubte er, sei die kumulative Errungenschaft unzähliger loser Fäden fremder Herkunft, die miteinander verwoben und modifiziert wurden, um einem neuen kulturellen Kontext zu entsprechen. Die „Authentizität“ jeder Kultur ergibt sich aus dieser Diffusion und Modifikation. So ist das Entlehnen Teil aller bekannten menschlichen Kulturen gewesen; keine Kultur ist im Inneren homogen.

„Der Vorwurf der kulturellen Aneignung ist bedeutungslos, da jede Kultur das Produkt anderer Kulturen ist.“

In der heutigen Diskussion um kulturelle Aneignung kommt die Kluft zwischen der Herder’schen und der auf Boas zurückgehenden Auffassung von Kultur zum Ausdruck. Die Kritiker der kulturellen Aneignung sind meist Herderianer, während die Befürworter der kulturellen Aneignung eher Boas’ Sichtweise vertreten. Die Herdersche Sichtweise setzt einen kulturellen Essentialismus voraus: dass Kultur etwas ist, das eine Gruppe besitzt, eine Art geistiges Eigentum, weshalb erst die Erlaubnis eines „kulturellen Insiders“ erteilt werden muss, bevor ein „kultureller Außenseiter“ es nutzen kann.

In ihrem Buch „Who Owns Culture?“ argumentiert die amerikanische Anwältin Susan Scafidi, dass das Tragen eines Kleides, das zu einer anderen Kultur gehört, ohne die Erlaubnis eines Mitglieds dieser Gruppe eine „Aneignung“ darstellt, aber dasselbe mit Erlaubnis zu tun – zum Beispiel, wenn eine indische Familie zum Diwali-Fest einlädt und einen bittet, einen Sari anzuziehen –, eine Wertschätzung bedeute.

Im Gegensatz dazu argumentiert der Kulturtheoretiker Kwame Anthony Appiah in „The Lies That Bind: Rethinking Identity“, dass die Idee des kulturellen Essentialismus reif für den Abfalleimer ist. Nicht zuletzt deshalb, weil „alle kulturellen Praktiken und Objekte beweglich sind“. Sie verbreiten sich gerne, „und fast alle sind selbst Ergebnisse der Vermischung“. Von kulturellem Eigentum zu sprechen, bedeutet daher, Kultur so zu betrachten wie die großen Konzerne ihre Patente, die sie auch als „geistiges Eigentum“ bezeichnen; es behindert die kulturelle Interaktion zwischen den Völkern.

Meiner Ansicht ist die Sichtweise Boas’ die richtige: Der Vorwurf der kulturellen Aneignung ist bedeutungslos, da jede Kultur das Produkt anderer Kulturen ist. Denken Sie an die Sprache, eine der Hauptkomponenten der Kultur. Jede Sprache hat Anleihen bei anderen Sprachen gemacht. Was wären Spanisch, Portugiesisch, Rumänisch, Französisch und Italienisch ohne das Vulgärlatein, aus dem sie sich entwickelt haben? Als westgermanische Sprachen haben Englisch, Deutsch, Niederländisch, Afrikaans, Jiddisch und Luxemburgisch in unterschiedlichem Maße gemeinsame Begriffe, Syntax und Semantik.

„Kulturelle Authentizität zu beanspruchen und damit Kultur zu geistigem Eigentum zu machen, bedeutet, die Menschheit daran zu hindern, die besten Praktiken und Ideen aus der ganzen Welt zu übernehmen.“

Umgekehrt sind auch Pidgins, Kreolsprachen und Patois, die es in vielen ehemaligen europäischen Kolonien gibt, Derivate ihrer europäischen Pendants. Diese Sprachen sind das kumulative Ergebnis von Diffusion und Modifikation; sie alle entspringen Prozessen der kulturellen Entlehnung.

Problematisch ist auch die Abgrenzung zwischen „kulturellen Insidern“ und „kulturellen Outsidern“. Die Bestimmung der „kulturellen Zugehörigkeit“ birgt die Gefahr rassischer Spaltungen. Menschen würden von der Teilnahme an einer bestimmten kulturellen Praxis ausgeschlossen, nur weil sie einem starren Verständnis von kultureller Gruppenzugehörigkeit nicht entsprechen.

Kulturelle Authentizität zu beanspruchen und damit Kultur zu geistigem Eigentum zu machen, bedeutet, die Menschheit daran zu hindern, die besten Praktiken und Ideen aus der ganzen Welt zu übernehmen. Yoga ist indischen Ursprungs, hat aber eine weite Verbreitung gefunden. Es wäre unsinnig, wenn die Menschen Yoga nur wegen seines indischen Ursprungs aufgeben würden.

Um es ganz deutlich zu sagen: Wir brauchen mehr und nicht weniger kulturelle Aneignung, um das globale Verständnis zu fördern und die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Wir müssen uns weigern, uns einer Auffassung von Kultur anzuschließen, die das Entleihen als Antithese zum menschlichen Fortschritt darstellt. Der persische Dichter Rumi riet dazu, dass wir „zur Wurzel der Wurzel unserer selbst kommen“ sollten. Gewiss, aber sind es nicht unsere kulturellen Entlehnungen, die unsere Wurzeln ausmachen? Dass Adele einen Bantu-Knoten trägt, sollte als ein Zeichen unserer Verbundenheit gefeiert und nicht als sündhafte „Aneignung“ verteufelt werden.

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