01.05.2007

Inkarnieren zum Klavier

Essay von Nicole Glocke

Nicole Glocke über ihre Erfahrungen am Seminar für Waldorfpädagogik in Berlin

Ich wollte raus. Raus aus der Politik, aus befristeten Arbeitsverträgen und uninteressanten Aufgabenstellungen. Raus aus staatlichen Reglements und hinein in die freie Schule. Ich wollte Waldorflehrerin werden. Und eine zweijährige Ausbildung im „Seminar für Waldorfpädagogik Berlin“ beginnen. Um anschließend Geschichte, Sozialkunde sowie Deutsch für die Oberstufenklassen neun bis zwölf zu unterrichten. Die monatlichen Kosten von 240 Euro war ich bereit zu schlucken.

Ein Artikel aus der Zeitschrift Arbeitsmarkt Bildung/ Kultur/ Sozialwesen (hrsg. vom Wissenschaftsladen Bonn e.V.). hatte mich auf diese berufliche Alternative aufmerksam gemacht und über die guten Einstellungschancen berichtet. Sofort schrieb ich meine Bewerbung an das Berliner Lehrerseminar. Prompt kam die Aufforderung zum Vorstellungsgespräch. Super. Ich freute mich wie Pinocchio, als er sich aufmachte ins Spielzeugland.


Mit Rudolf Steiner, dem Gründer der Waldorfschulen, hatte ich mich bislang nicht beschäftigt und las deshalb erst einmal seine Philosophie der Freiheit. Eine schwere Lektüre: Steiners Sätze sind verschachtelt und in sich widersprüchlich. Eine besondere Formulierungsgabe schien er nicht zu besitzen. Mich wunderte es, dass er überhaupt einen Verlag gefunden hatte. Nur ein Absatz gefiel mir: seine Forderung nach Freiheit des Individuums gegenüber einer normierten Kollektivmoral. Das klang schon besser. Danach beschäftigte ich mich mit der Waldorfpädagogik, die laut Selbstdarstellung dem Erüben sozialer Kompetenzen in der Klassengemeinschaft höchsten Wert beimisst. Vor allem gefiel mir Steiners Kritik an der staatlichen Ausbildung, die, so Steiner, keinerlei Rücksicht nehme auf die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten der jeweiligen Schüler und sich an Vorgaben des Staates und der Wirtschaft orientiere. Ganz aktuell also. Nur eines machte mich stutzig: In einem Buch über Steiner las ich, dass es mehrere Erzengel gebe, die unsere Zeitepochen leiten würden. Der letzte „Erzengelwechsel“ habe 1879 stattgefunden. Und Steiner glaubte an zwei Jesusknaben: an den nathanischen und an den salomonischen Jesus. Naja, und mit der Einteilung der Leiber in „physischen Leib“, „Äther“- und „Astralleib“ konnte ich auch nichts anfangen.


Beim Vorstellungsgespräch mit dem Seminarleiter und Ausbilder der Oberstufenlehrer, Herrn Fuchs*, sprach ich diese Fragen an. „Lesen Sie einfach Steiner im Original. Da werden sich automatisch viele Fragen klären“, riet er mir. „Wir erwarten nicht, dass Sie alles übernehmen, nur, dass Sie sich mit der Anthroposophie befassen.“ Danach schrieb er auf seinen Anmeldebogen „aufnehmbar“. Das hieß, ich war aufgenommen. Und erleichtert, dass ich nicht an zwei Jesuskinder und an die Herrschaft der Erzengel glauben musste.
Der Tageskurs begann im September 2006. Mit Begeisterung spielte ich bei der Einführungsfeier Klavier. Mir gelang das Spiel nicht wirklich, das Klavier war alt, schlecht und verstimmt. Wie kann das sein, dachte ich, in einer Institution, in der doch so viel Wert auf Kunst und Musik gelegt wird? Oder liegt es daran, dass der zuständige Dozent für Musik und Co-Seminarleiter, Herr Klein, dieses Instrument nicht beherrscht? Nicht weiß, dass Klaviere ab und zu gestimmt werden sollten? Ich wagte nicht zu fragen.
Wir bekamen unseren Stundenplan ausgehändigt. Er bestand aus Plastizieren, Malen, Singen, Eurythmie und Sprachgestaltung. Und aus Anthroposophie. Weniger aus Methodik. Die fiel häufig aus. Oft wegen Gastdozenten, die die Methodikstunden für sich in Anspruch nahmen. Die Kunstfächer liefen dagegen kontinuierlich durch.


Herr Fuchs erklärte uns zunächst die „Dreigliederungsbewegung“, die von Steiner, der laut Dozent erst ein gesellschaftlicher Reformator war und erst spät zur Pädagogik fand, entwickelt wurde und in der Anthroposophie als „soziales Kunstwerk“ bezeichnet wird. Sie fordert Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, Gleichheit im Rechtsleben und, wie der Dozent ausdrücklich betonte, „totale Freiheit und Rücksichtslosigkeit im Geistesleben“. Daher sei es nur folgerichtig, dass in der neunten Klasse der Waldorfschulen die „Geschichte der Freiheit“ unterrichtet werde.
Auch Herr Klein unterstrich, dass das Geistesleben frei sein müsse, dass Lehrer niemals Beamte sein dürften. Begeistert stimmte ich zu. Dann hielt ich ein Referat über die Pubertät. Begann jeden Satz mit „Steiner sagte“. Herr Klein lächelte dann jedesmal.
Ich erzählte freimütig, dass ich als Kind unheimlich gerne Fernsehen geguckt hätte. Mir etwas fehlen würde, wenn ich diese Möglichkeit nicht gehabt hätte. Der Protest von Herrn Klein war scharf. Ich verstand nicht so ganz, warum er derart zornig reagierte, aber gut. Beim Singen fragte ich Herrn Klein, ob wir „Dona nobis pacem“ erlernen könnten. Er lehnte ab. Wieder sehr aggressiv. Von einem Gastdozenten wollte ich wissen, warum an den Waldorfschulen Russisch unterrichtet werde. „Haben Sie damit Probleme?“, herrschte er mich an. „Nein“, antwortete ich, „natürlich nicht. Ich wollte es einfach nur wissen.“ Der Dozent ging nicht mehr auf mich ein, fuhr fort mit seinem Unterricht.
In der Eurythmie gab es Fragen an uns. Frau Driller, die Eurythmistin, sprach jeden einzeln an, wollte wissen, ob wir den Himmel in uns spürten. „Nein“, antwortete ich ehrlich, „ich spüre gar nichts.“ Die anderen Seminaristen hingegen spürten gleich den ganzen Kosmos in sich.


Zweieinhalb Wochen nach Beginn der Ausbildung baten mich Herr Klein und Frau Driller zu einem Einzelgespräch. Mein Gott, dachte ich, was wollen die von mir? Ich habe doch gar nichts getan, nur ab und zu Fragen gestellt. Mein Herz schlug sehr heftig, als ich in das Seminarbüro ging und mich setzte.
„Sie spielen Klavier und schreiben. Sie gehen also Tätigkeiten nach, die man alleine macht. Was wollen Sie hier im Lehrerseminar?“, fragte mich der Co-Seminarleiter. Mir fiel keine Antwort ein. Ich war zu eingeschüchtert, traurig, dass ich nach so kurzer Zeit derart unangenehm aufgefallen war. Schließlich gestand ich ein, dass ich ein spontaner Mensch sei, verstand aber nicht wirklich, was er von mir wollte, was ich vorsichtig andeutete. Daraufhin warf er mir unangemessene Fragen vor, die er als störend und nicht zum Thema zugehörig empfunden habe, und kritisierte mein unstrukturiertes Denken, „obwohl andererseits Ihr Referat sehr strukturiert gewesen ist. Verstehen Sie, was mein Anliegen ist?“ „Nein, nicht wirklich“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Aber ich werde mich bemühen, mich zukünftig zurückzuhalten. Wenn ich jedoch in der Eurythmie nun einmal den Himmel nicht in mir spüre, dann kann ich das auch nicht ändern.“
„Als zukünftige Lehrerin“, belehrte mich Herr Klein, „haben Sie die Aufgabe, den Himmel in den Klassenraum zu bringen. Alles andere ist zweitrangig. Auch die Wissensvermittlung.“ Ich wollte widersprechen, wagte dies aber nicht. Der Dozent beendete das Gespräch damit, dass er auf mein Klaviervorspiel beim Einführungsabend zu sprechen kam. Mit hasserfülltem Gesicht gab er mir zu verstehen, wie schlecht ich gespielt hätte, völlig überfordert mit dem Stück gewesen sei. Zustimmung fordernd, wandte er sich an Frau Driller. Da sie nicht dabei gewesen war, konnte sie dazu nichts sagen. Dann war ich entlassen.


Ich brauchte mehrere Tage, um mich ein wenig von diesem Gespräch zu erholen. Ich fragte mich, warum es mich innerlich so hart getroffen hatte. Irgendetwas lag da in der Luft zwischen mir und den Dozenten. Ganz fein, im Unbewussten. Mit Worten nur schwer beschreibbar. Ich spürte eine radikale Ablehnung meiner Person. „Person“? War ich für Herrn Klein noch ein Mensch? Tagelang quälte mich diese Frage. Trotzdem beschloss ich, nicht gleich das Handtuch zu werfen, sondern weiterzumachen. Ich muss, dachte ich, ich will doch Lehrerin werden! Ich kann doch nicht einfach abbrechen, auch wenn die mich ablehnen.


Ich gab also nicht auf, folgte weiter dem Stundenplan. Jeden Tag hörte ich von der Aufgliederung des Menschen. Steiner vervielfältigt Leib, Geist und Seele. Ich lernte zu unterscheiden: Zwischen „physischem Leib“, „Ätherleib“, „Astralleib“ und schließlich dem „Ich“ als „Seelenlenker“. Ich sagte kein Wort mehr. Ich lernte zu unterscheiden: Zwischen „Geistselbst als verwandeltem Astralleib“, „Lebensgeist als verwandeltem Lebensleib“ und dem „Geistesmenschen als verwandeltem physischem Leib“. Ich nahm es hin. Ich lernte die „Empfindungsseele“, die „Verstandesseele“, die „Bewusstseinsseele“ und die „Seele in der Seele“ kennen. Ich schwieg weiter. Und erschrak über meine Seele. Sie war dabei, eine Knechtseele zu werden.


Im Musikunterricht herrschte Chaos. Meistens sangen wir viel zu viele und viel zu schwere Lieder. Herr Klein erklärte mal ein paar Intervalle, dann ein paar Dreiklänge und zwischendurch die Unterschiede zwischen Dur und Moll. Die anderen Seminaristen, die zum größten Teil keine Noten lesen konnten, waren hoffnungslos überfordert. Mir war es egal, ich kenne mich aus mit Noten und Musiktheorie. Und sagte daher weiterhin nichts.
In der Eurythmie ging es um Sternzeichen. Und um die Zuordnung der vier Evangelisten zu den vier Temperamenten. An ihren Textanfängen sei erkennbar, welches Temperament sie hätten. „Lukas ist der Phlegmatiker, weil der so schön erzählt“, so die Eurythmistin. „Johannes ist der Melancholiker, weil der so schön philosophisch schreibt.“ Ich wollte Engagement zeigen. Brachte die Bibel mit, damit wir die Anfänge der Evangelien lesen. Doch wir lasen sie nicht. Die Eurythmistin wollte nicht. Stattdessen sollten wir einen bestimmten Stern tanzen. Nur eine Richtung war erlaubt. Eine Seminaristin gab zu, dass sie den Grund dafür nicht verstehe. Das Gesicht der Dozentin veränderte sich. Ihr Lächeln verschwand, ihr Ton wurde hart. „Steiner hat das so gesagt, alles andere ist Teufelszeug.“ Niemand widersprach. Ich schwieg weiter. Und fing an, mich zu schämen. Für mich und für die anderen Seminaristen. Weiter ging es mit dem „Gesang der Geister über den Wassern“ von Goethe. Die Eurythmistin zitierte die erste Strophe, und wir bewegten uns nach ihren Vorgaben. Sie forderte uns auf, uns mit den Tönen des uns begleitenden Klaviers zu inkarnieren. Danach sprachen wir wieder über unsere Gefühle und Empfindungen. Die anderen fühlten und empfanden so viel. Ich dachte an mein Butterbrot. Und an Pinocchio, der mit seinen Kameraden im Spielzeugland eines Morgens entsetzt feststellt, dass sie zu willenlosen Eseln mutiert sind.


Ich schob diesen Gedanken beiseite. Auf dem Stundenplan stand jetzt Steiners „Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik“: „Sie kommen nicht anders zu einem wirklichen Begreifen des Vorstellens, als wenn Sie sich darüber klar sind, dass Sie ein Leben vor der Geburt, vor der Empfängnis durchlebt haben. Und so wie die gewöhnlichen Spiegelbilder räumlich als Spiegelbilder entstehen, so spiegelt sich Ihr Leben zwischen Tod und neuer Geburt in dem jetzigen Leben drinnen, und diese Spiegelung ist das Vorstellen.“ Soweit Steiner.
„Könnten Sie sich vorstellen, dass dies so ist?“, fragte Herr Klein. „Sicher, wie Steiner es sagt, wirkt es befremdlich, aber so ist das nun einmal: Solange es die Erde gibt, wird der Mensch immer wiedergeboren, dafür ist die Erde ja da, ihre Existenz hätte sonst keinen Sinn.“ Mutig meldete ich mich. Fragte, wie Steiner zum Gottesgedanken gestanden, wo er den Anfang allen Seins gesehen, wie er sein Verhältnis zum Christentum definiert habe. „Jetzt ist wirklich keine Zeit dazu, das zu diskutieren. Vielleicht später einmal“, so Herr Klein. Ich wollte widersprechen. Sagen, dass ich das nicht irgendwann besprechen will, sondern jetzt in der Gemeinschaft diskutieren möchte, weil ich dieses Thema für zentral halte. Ich sagte es nicht. Weil ich mich wieder nicht traute. Was soll’s, dachte ich, ich kläre es mit mir selbst.


Privat fing ich an, möglichst viel zu lesen. Vor allem gesellschaftskritische Bücher. Damit hielt ich mein inneres Gleichgewicht. Ließ Cyankali von Friedrich Wolf im Seminar herumgehen. Kaum Interesse. Ich kam nicht an gegen die Gespräche mit Ungeborenen. Weiß nicht mehr, von wem die sind. Auf jeden Fall fanden sie unter den Seminaristen reißenden Absatz.
Die Kunstgeschichtsepoche versprach endlich interessanter zu werden. „Die Perspektive der alten Ägypter gleicht einem Draufblick“, dozierte der Dozent Eismann. „Das heißt: Man schaut von oben auf das Bild. Kleine Kinder malen genauso wie die alten Ägypter. Deshalb entspricht diese Epoche der Empfindungsseele.“ Und so weiter. Herr Eismann forderte uns auf, das Gelernte niederzuschreiben. „Das mit den Seelen“ bräuchten wir nicht zu berücksichtigen, wenn wir damit nichts anfangen könnten. Glück gehabt. Ich schrieb daher, dass ich die Kunst als ein Spiegelbild der politischen Verhältnisse verstünde und die Zuordnung zu irgendwelchen Seelen als nicht zulässig empfände.


Ich meldete mich zu einem weiteren Referat. Meine Aufgabe bestand darin, den „Heilpädagogischen Kurs“ von Rudolf Steiner zusammenzufassen. „Die Art, wie der Mensch aus dem vorirdischen Dasein mit seinem Karma ankommt, entscheidet über seine physische Funktion“, referierte ich brav. „Kommt er beispielsweise so an, dass er seinem Karma gemäß das Stoffwechsel-Gliedmaßensystem nicht ordentlich durchdringen kann, so wird dieses in kümmerlicher Weise mit dem Ätherleib versorgt, und der Mensch hat dann seinen Ätherleib in der Kopfgegend ordentlich ausgebildet, in der Unterleibsgegend hingegen nicht. Steiner sagt, dass wir uns darüber im Klaren sein müssen, dass wir einen mangelhaft ausgebildeten Ätherleib bei zahlreichen seelisch minderwertigen Kindern vorliegen haben.“ Herr Fuchs griff ein. „Mit ‚seelisch minderwertig‘ meint Steiner die gehandicapten Kinder“, erklärte er.
Ich durfte fortfahren: „Es gibt laut Steiner ein pädagogisches Gesetz, dass dieses Problem löst. Das nächsthöhere Glied wirkt auf das untere. Das heißt, dass der ‚Ich-Leib‘ auf den ‚Astralleib‘ wirkt, der ‚Astralleib‘ auf den ‚Ätherleib‘, der ‚Ätherleib‘ auf den ‚physischen Leib‘.“
Der Dozent war zufrieden. Schrieb alles an die Tafel. Ich wiederholte nochmals, welcher Leib auf welchen wirkt. Beim Sprechen merkte ich, wie sich mein innerer Widerwille gegen diese Lehre verselbstständigte. Ich konnte ihn nicht mehr steuern. Rastete aus. Gab zu, dass ich keinen Zugang zu dieser Art von Lehre gewinnen könne. Bezeichnete die ständige Vervielfältigung von Geistern und Leibern als „schizophren“. Es wurde ganz still im Raum. „Was wollen Sie noch bei uns? Bei Schizophrenen?“, fragte Herr Fuchs. Eine Seminaristin riet mir, „bei dieser Meinung“ das Seminar zu verlassen. „Die Antwort habe ich erwartet. Wo bin ich hier eigentlich? In einer Sekte, in der ich nichts infrage stellen darf?“, hielt ich entgegen. Danach schwieg ich. Ging nach Hause und konnte die Nacht nicht schlafen. Ich wollte doch Lehrerin werden. Nach wie vor.


Am nächsten Tag nahm ich meine Äußerung zurück. Bat um Verständnis, weil die ständige Beschäftigung mit Vorgeburt und Tod mich zurzeit emotional überfordere. Der Dozent war sehr verständnisvoll. „Wenn es Ihnen zu viel wird, können Sie ruhig mal rausgehen. Oder innerlich emigrieren. Das macht überhaupt nichts.“ Puh. Noch mal Glück gehabt. Offenbar gibt es keine Konsequenzen. Danach plastizierte ich. Merkte, wie sich meine Spannung löste. Konzentrierte mich auf mein Fantasietier, das ich gestalten durfte. Freute mich auf eine ruhige Nacht. Plötzlich trat Herr Eismann, der Dozent für Plastizieren, zu mir und bat mich für einen Augenblick hinaus. Mein Herz rutschte wieder in die Hose. „Frau Glocke, wir haben entschieden, mit Ihnen ein Gespräch zu führen. Wir haben zwei Kommilitonen gebeten, an dem Gespräch teilzunehmen. Ihnen steht es frei, ebenfalls jemanden zu benennen. Sozusagen zu Ihrer Verteidigung.“ „Worum geht es denn?“, fragte ich. „Es geht um Ihre Zukunft im Seminar. Mehr darf ich nicht sagen.“ Danach war er weg.
Mir kamen die Tränen. Ich bat zwei mir nahestehende Seminaristen, mich zu „verteidigen“. Für das Plastizieren hatte ich keine Ruhe mehr. Auch zu Hause fand ich sie nicht. Wieder lag ich die ganze Nacht wach.


Am nächsten Tag nahm ich nicht mehr an den regulären Veranstaltungen teil. Kurz vor zwölf trafen wir uns dann: Herr Fuchs, Herr Eismann und vier Seminaristen. Sie saßen mir gegenüber oder seitlich von mir. Bei mir saß niemand. Eine eigentümliche Kälte lag in der Luft, gleich einer eisgrauen Gespensterstunde. Sie gab mir einen noch nie dagewesenen Einblick in eine andere Welt. In eine Welt, in der die Freiheit des Denkens nichts mehr gilt. So muss es bei den Schauprozessen in den kommunistischen Staaten gewesen sein, dachte ich.
Herr Fuchs begann. Leitete das Gespräch mit den Worten ein, dass die Dozentenschaft zu dem Schluss gekommen sei, dass ich nicht geeignet sei, das Ausbildungsziel „Waldorflehrer“ zu erreichen. „Wir erkennen bei Ihnen keine Entwicklung. Mag sein, dass Ihr Mentor Ihres Schulpraktikums einen anderen Standpunkt vertritt, aber seine Ansicht ist nur eine singuläre Meinung. Abgesehen davon ist seine schriftliche Beurteilung mäßig bis schlecht gewesen.“ Der Dozent hob seinen Daumen. Wie der römische Kaiser im Kolosseum. Und senkte ihn. Mit unbeweglicher Miene und ausdruckslosem Gesicht schaute er mich an.


Gut, das Spiel ist aus, dachte ich, dann brauche ich endlich keine Rücksichten mehr zu nehmen. „Abgesehen davon“, sagte ich, „dass die Beurteilung meines Mentors, die mir schriftlich vorliegt, sehr gut war, frage ich mich, welche Erziehung, welche ‚Philosophie der Freiheit‘ Sie hier eigentlich praktizieren? Der gesamte Kurs wagt nicht, offene Fragen zu stellen. Es geht also nur um Freiheit für Sie selber. Obwohl Sie von der ‚totalen Rücksichtslosigkeit im Geistesleben‘ gesprochen haben. Kennen Sie eigentlich das Buch Die Revolution entlässt Ihre Kinder von Wolfgang Leonhardt?“
Schweigen im Raum. „Ja, natürlich“, antwortete Herr Eismann. „Umso besser“, entgegnete ich, „dann kennen Sie ja die Szene, in der Wolfgang Leonhardt in seinem kommunistischen Lehrerseminar ebenfalls zu derartigen Gesprächen, wie wir sie heute führen, gezwungen wurde. Weil er sich die Freiheit genommen hat, andere Gedanken auszusprechen. Eigenständiges Denken gewagt hat. Derartige Gespräche sind als Kritik und Selbstkritik in die Geschichte eingegangen.“


Ich packte meine Sachen. Beim Verlassen des Raums sah ich, dass die Seminaristin, die mich eigentlich hätte verteidigen sollen, den Tränen nahe war. Später versuchte sie, mich zu trösten. Sie erzählte mir, dass Herr Eismann zu ihr gesagt habe, dass man mir tatsächlich keine Chance gegeben hätte. Und dass Herr Fuchs in meiner Abwesenheit das Angebot gemacht hätte, dass ich bleiben könne – allerdings, ohne mir die für eine Einstellung als Waldorflehrerin notwendige Empfehlung des Seminars zu geben. Dann machte sie eine kleine Pause. „Nicole“, setzte sie wieder an, „du bist kein schlechterer Mensch, nur weil die Anthroposophen dich ablehnen.“
Nein, deshalb bin ich kein schlechterer Mensch. Aber ich bin während meiner Zeit im Waldorfseminar ein schlechterer Mensch geworden. Weil ich mich vier Monate widerspruchslos und freiwillig einem Gewissens- und Denkzwang unterworfen und meine innere Freiheit aufgegeben habe.

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