06.07.2022

Identitätspolitik bringt Antisemitismus zurück

Von Daniel Ben-Ami

Titelbild

Foto: Baummapper via Wikicommons / CC BY-SA 3.0 DE

Wie der Skandal um ein Kunstwerk auf der documenta zeigt, ebnet das Aufkommen der Identitätspolitik einer neuen Form des Antisemitismus in Deutschland den Weg.

Wie konnte ein Land, das sich dazu entschlossen hat, seine Nazi-Vergangenheit aufzuarbeiten, Millionen von Euro ausgeben, um eine Ausstellung zu sponsern, die unverhohlen antisemitische Bilder enthielt? Um die Peinlichkeit noch zu vergrößern, eröffnete der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Ausstellung, und der Besuch des Bundeskanzlers Olaf Scholz war geplant.

Dieses Dilemma plagt die deutschen Politiker seit der Eröffnung der 15. internationalen Kunstausstellung documenta. An der hochkarätigen Veranstaltung für zeitgenössische Kunst, die seit 1955 alle fünf Jahre stattfindet, nahmen in diesem Jahr über 1500 Künstler teil. Die Kuration wurde an ruangrupa, ein indonesisches Kollektiv, ausgelagert und beteiligt waren viele Gruppen aus dem, heutzutage üblicherweise genannten „globalen Süden".

Über den Charakter der antisemitischen Bilder sollte niemand einen Zweifel hegen. Viele von ihnen würden gut zu Nazi-Deutschland passen – und das ist nicht als Übertreibung gemeint. Dazu gehört ein Großgemälde mit dem Titel „People's Justice“ von Taring Padi, einem anderen indonesischen Kollektiv, die ursprünglich im Jahr 2002 produziert wurde. Es enthält zwei besonders abscheuliche Bilder. Das eine zeigt einen Mann mit Schläfenlocken und Reißzähnen, der einen Hut mit einem Nazi-SS-Emblem trägt. Das andere zeigt einen Soldaten mit einem Schweinskopf und einem Helm, auf dem „Mossad" (Israels Auslandsgeheimdienst) steht. Nach der Empörung über die Bilder wurde das Exponat zunächst verdeckt und dann entfernt.

Halbherzige Entschuldigungen

Offizielle Entschuldigungen für den Fehler gab es zwar, aber sie waren ausgesprochen halbherzig. So verweist Sabine Schormann, die Generaldirektorin der documenta, in einem Interview auf die Schwierigkeiten, welche die Corona-Pandemie mit ihren vielen Einschränkungen für die künstlerische Vorbereitung der documenta mit sich gebracht habe. Angesichts der Tatsache, dass das Kunstwerk bereits vor 20 Jahren geschaffen wurde und es schon in den sechs Monaten vor der Eröffnung zu Kontroversen gekommen war, ist dies jedoch kaum plausibel. Zu allem Überfluss deutete sie an, das Hauptproblem seien die verletzten Gefühle von Juden und Deutschen und nicht der objektive Antisemitismus der Ausstellung. Konkret sprach sie von einem Missverständnis und sagte über das Kollektiv: „Sie haben ihre Aufgabe aus ihrer Perspektive wahrgenommen, und es ist ihnen aufgrund unserer unterschiedlichen kulturellen Erfahrungsräume zu spät aufgefallen, dass ein solches Motiv in Deutschland absolut inakzeptabel ist“.

„Unter den mehr als 1500 ausstellenden Künstlern auf der documenta befindet sich kein einziger Israeli, obwohl an zeitgenössischen israelischen Künstlern kein Mangel herrscht.“

Einen ähnlichen Standpunkt vertrat das Kollektiv Taring Padi. In einer von der documenta veröffentlichten Erklärung hieß es: „Wir bedauern zutiefst, in welchem Ausmaß die Bildsprache unserer Arbeit People's Justice so viele Menschen beleidigt hat. Wir entschuldigen uns bei allen Zuschauer*innen und Mitarbeiter*innen der documenta fifteen, der Öffentlichkeit in Deutschland und insbesondere der jüdischen Gemeinde. Wir haben aus unserem Fehler gelernt und erkennen jetzt, dass unsere Bildsprache im historischen Kontext Deutschlands eine spezifische Bedeutung bekommen hat'.  Mit anderen Worten: Nicht die mörderische Gesinnung des Antisemitismus an sich wurde als Problem gesehen, sondern die Empfindlichkeiten der Deutschen und insbesondere der Juden.

Auf jeden Fall war „People’s Justice“ nicht das einzige antisemitische Exponat. Ein Werk des palästinensischen Künstlers Mohammed al-Hawajri stellte ebenfalls eine Gleichsetzung von Nazis und Juden her. Gaza-Guernica stellt die israelischen Operationen gegen den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen als vergleichbar mit der gezielten Zerstörung der spanischen Stadt durch die deutsche Luftwaffe während des spanischen Bürgerkriegs dar.

Hinzu kommt, dass viele der Ruangrupa-Organisatoren öffentlich die Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS) gegen Israel unterstützt haben. Diese Bewegung gibt zwar vor, sich für die Beendigung der „Unterdrückung der Palästinenser durch Israel" einzusetzen, doch endet sie regelmäßig mit Boykottaufrufen gegen einzelne israelische Künstler. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass sich unter den mehr als 1500 ausstellenden Künstlern kein einziger Israeli befindet, obwohl an zeitgenössischen israelischen Künstlern kein Mangel herrscht.

Trotz der Geschichte

Dies alles wirft die Frage auf, wie der Antisemitismus in einer hochkarätigen und öffentlich finanzierten Kunstausstellung eine solche, signifikante Präsenz haben konnte. Dies ist im heutigen Deutschland, das sich ausdrücklich im Gegensatz zu seiner Nazi-Vergangenheit definiert, besonders brisant.

Es ist sicherlich nicht der Fall, dass die aktuelle Generation deutscher Politiker Nazi-Sympathien entwickelt. Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hat in seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung mehrfach auf die Schrecken des Antisemitismus hingewiesen. Und Bundeskanzler Scholz hat einen geplanten Besuch abgesagt, nachdem das Ausmaß des Skandals bekannt wurde.

„Irgendwie scheint sich die deutsche politische Klasse im Versuch, eine solche Ausstellung zu ermöglichen, verrannt zu haben, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein.“

Aber wenn überhaupt, dann vertiefen diese Reaktionen das Dilemma eher, als dass sie es lösten. Auf offizieller Ebene lehnt Deutschland den Antisemitismus nach wie vor entschieden ab, was in den meisten Fällen zweifelsohne richtig ist, und doch hat es ihm am Ende irgendwie Vorschub geleistet.

Das deutsche Vorgehen lässt sich auch nicht durch ein prinzipielles Festhalten an der künstlerischen Freiheit erklären. Man könnte argumentieren, dass der antisemitische Charakter der Darstellungen zwar anerkannt, die Bilder aber aus Gründen der freien Meinungsäußerung dennoch ausgestellt werden sollten. Aber auch das war hier nicht der Fall. Als der antisemitische Charakter von „People’s Justice“ mit Verspätung erkannt wurde, wurde er schnell vertuscht und die Bilder dann abgehängt. Irgendwie scheint sich die deutsche politische Klasse im Versuch, eine solche Ausstellung zu ermöglichen, verrannt zu haben, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein.

Der Skandal ist im Wesentlichen das Ergebnis eines Zusammenpralls zwischen Deutschlands Verpflichtung, seine Nazi-Vergangenheit zu verbannen – und einer aufkommenden Neigung zur Identitätspolitik. Obwohl beide Standpunkte problematisch sind, ist es die neue Sichtweise, die den Weg frei gemacht hat für das Wiederauftauchen des Antisemitismus in abgewandelter Form.

Als die Bundesrepublik Deutschland 1949 im Schatten des Zweiten Weltkriegs gegründet wurde, definierte sie sich als Gegenpol zu ihrem nationalsozialistischen Vorgänger. Sie sollte, im Gegensatz zu ihrem mörderischen und diktatorischen Vorgänger, ein freier Staat sein. Ihre Gründer verstanden, dass sie dem Antisemitismus entgegentreten müssen, während das Nazi Regime ihn bis zu seinem bestialischen Endpunkt befördert hatte.

Sicherlich gibt es Probleme mit der Art und Weise, wie die Bundesrepublik konstituiert ist. Ihr ausgeklügeltes System politischer Kontrollen und Gegengewichte, wirkt wie eine Kontrolle des demokratischen Entscheidungsprozesses und der Souveränität. Das offizielle Engagement im Kampf gegen den Antisemitismus ist weitgehend instrumentell: Es diente wesentlich dem Aufbau der Legitimität des deutschen Nachkriegsstaates und war weniger ein wirklich selbstloser Akt. Dennoch erschüttert und entsetzt das Schreckgespenstes des Antisemitismus im Allgemeinen die derzeitige Politikergeneration in Deutschland.

Antisemitismus und Antiimperialismus

Der Judenhass aber kommt nicht in erster Linie in seiner alten rechtsextremen Form zurück, sondern im neuen Gewand der Identitätspolitik. Der alte Antisemitismus konnte oft als „Sozialismus der dummen Kerle" (August Bebel) charakterisiert werden (wobei die Juden für die enormen Verwerfungen, die der Kapitalismus oft verursacht, verantwortlich gemacht werden). Im Gegensatz dazu erscheint der neue Antisemitismus häufiger als „Antiimperialismus der Narren" (wobei Israels vermeintlich immense Macht – und die der Juden im Allgemeinen – für viele Missstände in der Welt verantwortlich gemacht werden). Dabei gehen die Kampagnen gegen Israel weit über eine ausgewogene Kritik an Israel hinaus. Sie stellen stattdessen den jüdischen Staat als einen bösartigen Einfluss dar, der die ganze Welt gefährdet.

„Unter dem Vorwand, die Vielfalt zu feiern, wird eine neue Opferhierarchie aufgebaut, in der die Juden oft als Schuldige für die Probleme der Welt angesehen werden.“

Im heutigen Deutschland gibt es zweifellos eine gewisse Sympathie für die zuletzt genannte Form des Antisemitismus. Das erklärt auch, wieso die Kuratierung der documenta an das ruangrupa-Kollektiv vergeben wurde. Im Gegensatz zur allgemeinen Darstellung, ist dieses Kollektiv eher eine politische als eine künstlerische Organisation. In einem wohlwollenden Artikel in der New York Times, in dem die Gruppe vorgestellt wird, heißt es "Ruangrupa als ‚Künstlerkollektiv‘ zu bezeichnen, ist eine gängige, aber vielleicht irreführende, Vereinfachung. Nicht jeder ruangrupan ist ein konventioneller Künstler; einer arbeitete als Journalist, ein anderer ist ausgebildeter Ökologe, ein dritter ist Wissenschaftler.“ Wahrscheinlich ist es besser, sie als eine Agitprop-Truppe zu sehen, die die Gelegenheit ergriff, mittels der Großzügigkeit der deutschen Behörden ihre politischen Ansichten zu verbreiten.

Ruangrupas Ansatz stellt wahrscheinlich schlechte Kunst dar. Ganz sicher aber führt er zu einer miserablen Politik. Die Anhänger dieser Gruppe würden zweifellos argumentieren, dass sie sich auf die Seite der unterdrückten Völker der Welt – gegen die Übel des Kolonialismus und des Rassismus – stellen. Aber dieser plumpe Ansatz bringt die Sache der Freiheit für die Menschen in den ärmeren Ländern nicht voran. Stattdessen wird er, unbeabsichtigt, zu einem Beispiel für eine andere Form der Heuchelei und des Eiferertums. 

Die identitäre Sichtweise trägt dazu bei, die Grundlage für einen neuen Antisemitismus in Deutschland zu legen. Unter dem Vorwand, die Vielfalt zu feiern, wird eine neue Opferhierarchie aufgebaut, in der die Juden oft als Schuldige für die Probleme der Welt angesehen werden. Das aber ist wirklich der Antiimperialismus der dummen Kerle und hat nichts mit Selbstbestimmung oder Freiheit zu tun.

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