15.07.2024
Hyper-Liberalismus: der woke Sargnagel
Von Kolja Zydatiss und Mark Feldon
Die Zeit des westlichen Liberalismus scheint vorbei zu sein: Eine hyper-liberale Kulturrevolution frisst ihn von innen auf. Zugleich zerfällt nationalstaatliche Demokratie, etwa in der EU.
Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.
Das berühmte Diktum des Juristen und Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde spricht eine Sorge aus, die Kritiker der liberalen Demokratie, von seinem Lehrer Carl Schmitt bis zu den Kommunitaristen unserer Zeit, seit ihrer Entstehung umtreibt: Was hält die liberale Demokratie zusammen? Anders als zur Zeit von Hobbes binden die Bürger keine gemeinsame Religion oder Königstreue mehr.
Es gibt auch keinen kollektiven Mythos oder auch nur nationale Erzählungen, die westliche Individuen aufeinander beziehen. Auf der von Bassam Tibi angeratenen Leitkultur lastet ein Tabu – man sagt, sie sei zu exklusiv – und selbst von dem ideologisch dünnen Verfassungspatriotismus Dolf Sternbergers ist längst keine Rede mehr. Noch 1996 hatte Habermas fabuliert, ein „vorgängiger, durch kulturelle Homogenität gesicherter Hintergrundkonsens“ sei „nicht nötig, weil die demokratisch strukturierte Meinungs- und Willensbildung ein vernünftiges normatives Einverständnis auch unter Fremden ermöglicht“. Hier war der liberale Wunsch Vater des Gedankens.
„Während die Elite vergangener Zeiten sich als Hüter der nationalen Tradition und tugendhaftes Vorbild verstand, steht jeder positive Bezug auf die Nation heute gleich unter Faschismusverdacht.“
Wo Grundgesetz war, soll Diversität werden – aber Diversität ist die Abwesenheit von Gemeinsinn, den es nun mal braucht, wenn der Zusammenhalt aus den Individuen und nicht aus der Gewalt des Souveräns kommen soll. Während die Elite vergangener Zeiten sich als Hüter der nationalen Tradition und tugendhaftes Vorbild verstand, steht jeder positive Bezug auf die Nation heute gleich unter Faschismusverdacht. Was George Orwell vor knapp hundert Jahren über die gebildeten Kreise schrieb, gilt heute mehr denn je: „Es ist eine seltsame Tatsache, aber zweifellos wahr, dass der englische Intellektuelle sich mehr davor schämen würde, bei der Nationalhymne aufzustehen, als aus einem Klingelbeutel zu stehlen.“ […] Patriotismus ist der üble Geruch der unteren Schichten.
Woke Kulturrevolution
Laut dem Politikwissenschaftler Patrick Deneen, einem der einflussreichsten Vertreter der amerikanischen Postliberalen, konnte der liberale Staat zunächst ein hohes Maß an gesellschaftlicher Kohäsion garantieren, weil er auf präliberale Fundamente zählen konnte, die aus dem Christentum und der Klassik stammten. Diese schufen die erwähnten Voraussetzungen, die der Liberalismus „selbst nicht garantieren kann“. Als Philosophie, die nur sich selbst zum Inhalt hat, gelingt es dem Liberalismus nicht, die Quellen „moralischer Substanz“ zu füllen oder gar eigene zu schaffen, denn diese stehen in letzter Konsequenz der Freiheit des Individuums im Wege.
Mit der zunehmenden Dekonstruktion der klassischen und christlichen Quellen schafft der Liberalismus den Hobbes‘schen Urzustand, das Ensemble bindungsloser Individuen, dem er eigentlich entkommen wollte. Und in einer letzten bitteren Ironie muss der Mensch im Liberalismus erkennen, dass immer mehr Gesetze, Behörden und Repression nötig sind, um ein System zu steuern, das ursprünglich antrat, die Macht des Staates zu begrenzen, ihn durch Gewaltenteilung und Verfassung zu binden. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um eine Abweichung, sondern um das Wesen des Liberalismus. Deneen: „Der Liberalismus ist gescheitert – nicht weil er versagt hat, sondern weil er sich treu geblieben ist. Er ist gescheitert, weil er gesiegt hat.“
In den letzten Jahrzehnten fand, über lange Zeit unbemerkt, eine echte Kulturrevolution in den Nationen des Westens statt. Was heute als Hyper-Liberalismus oder „Wokeismus“ bekannt ist – die Dekonstruktion von Geschichte, Tradition, Nation, Sprache und Geschlecht zum Zwecke der Demoralisierung des Westens, der feindlichen Übernahme von Institutionen und des Transfers von Macht an eine neue progressive Elite –, hat die Kommandohöhen der Kultur erklommen und schließlich folglich auch diejenigen der Ökonomie und der Politik.
„Die Politik wird feministisch und sozialökologisch ‚neu imaginiert‘, während es dem Staat zunehmend schwerfällt, seine elementaren Kapazitäten zu wahren – etwa Straftäter zu verfolgen und illegale Migration zu unterbinden.“
Die Klasse, die auf vollkommen unironische Weise behauptet, für „die Wissenschaft“, „die Verfolgten“ oder „die Menschenrechte“ zu sprechen, entscheidet heute maßgeblich, was auf Bühnen gezeigt, in Museen ausgestellt, in Universitäten und Schulen unterrichtet und in den Parlamenten diskutiert wird. Es gibt kein Fortune-500-Unternehmen (aus der jährlichen Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der USA) mehr, das ohne eigene Personalabteilungen zur Durchsetzung progressiver Ziele – „Klimagerechtigkeit“, „Repräsentanz von queeren Menschen“, „rassische Egalität“ – auskommt. […]
Das Vertrauen in die Institutionen, die dem laut Arnold Gehlen „institutionsbedürftigen“ Menschen Sicherheit geben sollen – „Kontingenz reduzieren“, wie Soziologen sagen –, schwindet nicht nur, weil sie immer weniger leisten, sondern auch, weil sich ihre Ziele fundamental gewandelt haben. Universitäten und Schulen werden zusehends zu „Safe Spaces“ und Agenturen für „soziale Gerechtigkeit“ und „Dekolonialismus“, während die Förderung von Wissen und Leistungsbereitschaft rapide abnimmt. Medien informieren nicht neutral über Hintergründe und Tagesgeschehen, sondern agieren als Avantgarde im „Kampf gegen rechts“ oder für „Klimagerechtigkeit“. Soldaten betreiben humanitäre Hilfeleistung in der Dritten Welt, während die Landesverteidigung als anachronistisch angesehen wird. Die Politik wird feministisch und sozialökologisch „neu imaginiert“, während es dem Staat zunehmend schwerfällt, seine elementaren Kapazitäten zu wahren – etwa Straftäter zu verfolgen und illegale Migration zu unterbinden.
Entdemokratisierung
Nichtregierungsorganisationen treten nicht mehr als Korrektiv des Staates auf, sondern als Vorfeldorganisationen und Einflüsterer progressiver Parteien. Die Wissenschaft erklärt dem Bürger, worauf er verzichten muss, damit die Apokalypse abgewendet werden kann. Die durch Antidiskriminierungsgesetze und Neubesetzungen auf progressiven Kurs gebrachte Polizei vernachlässigt den Kampf gegen die steigende Straßenkriminalität, um mehr Kräfte für Kampagnen gegen Gedankenverbrechen in den Sozialen Medien freizumachen. Der Grünen-Politiker Benedikt Lux verkündete stolz:
Wir haben die gesamte Führung fast aller Berliner Sicherheitsbehörden ausgetauscht und dort ziemlich gute Leute reingebracht. Bei der Feuerwehr, der Polizei, der Generalstaatsanwaltschaft und auch beim Verfassungsschutz. Ich hoffe sehr, dass sich das in Zukunft bemerkbar macht.
Ja, das tut es. Eine der wichtigsten und fragwürdigsten Entwicklungen im Hyper-Liberalismus ist die Beschleunigung der [(…]) Governance-Revolution, die gewählte, zumindest ansatzweise „repräsentative“ Institutionen zunehmend entmachtet hat zugunsten dessen, was die Politikwissenschaft „non-majoritarian institutions“ nennt. Immer mehr politische Entscheidungsgewalt ist in den letzten Jahrzehnten an bürgerferne, intransparente, oft überstaatliche Gremien und deren ungewählte Bevollmächtigte übertragen worden, von den Brüsseler Kommissaren über die „unabhängigen“ Zentralbankräte, die Richter am Europäischen Gerichtshof, die Bürokraten der amerikanischen Environmental Protection Agency bis zu den handverlesenen Mitgliedern der deutschen „Kohlekommission“.
„In der EU ist der Prozess der Entdemokratisierung auf die Spitze getrieben worden.“
Um zu verhindern, dass diese Entwicklung als fundamentaler Angriff auf die Demokratie erkannt wird, wurde sie als Begriff neu definiert. Der mit linkspopulistischen Politikansätzen sympathisierende deutsche Soziologe Wolfgang Streeck bemerkt, die Demokratie sei „unter bemerkenswert enthusiastischer Beihilfe eines Teils der akademischen ‚Demokratietheorie‘ umdefiniert worden, „von einer plebejischen Institution in eine moralische Haltung“. Man gelte heute als „Demokrat“ oder eben nicht, je nachdem, ob man bereit sei, die „Werte“ der Demokratie anzunehmen, welche von „deliberierenden Rechtsexperten erkannt statt von streitenden Bürgern beschlossen“ würden (mit „demokratischen Werten“ meint der Autor in Anlehnung an die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe vor allem einen „allumfassenden Universalismus“, welcher „zusammen mit dem nationalen auch jeden sozialen Partikularismus aus der Welt schafft“).
In der EU mit ihrem selbst für Insider kaum durchschaubaren Wirrwarr an Gremien und Behörden, die, wenn überhaupt, nur indirekt von gewählten Parlamenten beeinflusst oder zur Rechenschaft gezogen werden können, ist dieser Prozess der Entdemokratisierung auf die Spitze getrieben worden. In den letzten Jahren ist zunehmend offensichtlich geworden, dass die Politik in diesem Kosmos, der hauptsächlich von „progressiven“ Bürokraten [(…)] besetzt ist, quasi dauerhaft auf den spezifisch hyper-liberalen Mix aus Multikulturalismus, Identitätspolitik, Klima-Austerität, neoliberaler Wirtschaftsordnung und immer tieferer europäischer und globaler Integration geeicht ist. Jede Abweichung davon kann, mit Verweis auf einen ewig expandierenden Katalog an „Menschenrechten“, faktisch für illegal erklärt werden, wie die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen „Brüssel“ und den rechten Regierungen in Ungarn, Polen und Italien um die Asylpolitik zeigen. Wenn nationale Verfassungen vorschreiben, dass bestimmte Schritte der europäischen Integration durch Referenden abgesegnet werden müssen, werden diese notfalls wiederholt, bis das erwünschte Ergebnis erzielt ist, so geschehen 2008–2009 in Irland, wo der Lissabon-Vertrag einfach ein weiteres Mal dem Volk vorgelegt wurde, nachdem die Reform im ersten Referendum gescheitert war.
Nicht nur die Wahlwiederholung, sondern auch der Lissabon-Vertrag selbst kann als eine Form undemokratischer Trickserei betrachtet werden. Er ist im Wesentlichen eine Umetikettierung des Vertrags über eine Verfassung für Europa, der bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden 2005 keine Mehrheit fand. Auf ein erneutes französisches oder niederländisches Referendum im Zuge des Rebrandings wurde verzichtet. Der bloße Gedanke an ein Referendum löst bei der Eurokratie sofort Panik aus, bemerkte Hans Magnus Enzensberger 2011 treffend in seiner EU-Kritik „Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas“.
Der dekadente Westen
Das liberale Weltsystem hat die Stabilität liberaler Nationen zur Voraussetzung. Wenn diese versagen, wenn interne Spaltungen zunehmen, die Unsicherheit im öffentlichen Raum neue Ausmaße annimmt, das Vertrauen in Institutionen beständig sinkt, der politische Apparat von großen Bevölkerungsteilen als unfähig oder feindlich angesehen wird und liberale Freiheitswerte mit hyper-liberalen Begründungen beschnitten werden, wird das auf ihnen ruhende internationale System untragbar. Das erkennen auch die Anhänger einer aufsteigenden Ordnung, die im geistig-kulturellen Bürgerkrieg des Westens eine Chance wittern.
Die von westlichen Journalisten und Interessengruppen gestrickte Lüge, es gäbe einen kanadischen Genozid an Indianern, wird von China aufgegriffen, um von der eigenen mörderischen Praxis gegen Minderheiten abzulenken. Der Unwille vieler westlicher Politiker, den Begriff „Frau“ zu definieren, lässt Wladimir Putin in den Augen der restlichen Welt als vernünftigen Staatsmann erscheinen. Und der so pathologische wie ubiquitäre „Postkolonialismus“ ist das Mittel der Wahl islamischer Despotien, von den eigenen Pathologien abzulenken und das „Schluchzen des weißen Mannes“, wie es Pascal Bruckner einst nannte, geschickt auszubeuten.
„Wem es nicht gelingt, sich mittels geeigneter finanzieller Mittel von den Kollateralschäden hyper-liberaler Politik fernzuhalten, der wird jeder weiteren angekündigten Wende, Transformation oder Strukturreform mit Feindschaft begegnen.“
Dass der Westen sich diese rhetorischen Machtmittel nicht nur gefallen lässt, sondern sie eifrig bejaht, wird außerhalb progressiver Zirkel keineswegs als Zeichen von Größe, sondern von Schwäche und Dekadenz wahrgenommen. „Wenn Menschen ein starkes und ein schwaches Pferd sehen, werden sie natürlich das starke Pferd vorziehen“, soll der frühere al-Qaida-Chef Osama Bin Laden einmal gesagt haben. Wir sollten daraus lernen, dass die Mimikry an die Schwäche in einer hyper-liberalen Welt zum Akt der Selbstaufgabe wird.
Dass das Wort „Liberalismus“ immer seltener Freiheit, Vernunft und Tugend evoziert, sondern Zwang, Widersinn und Amoral, liegt nicht am Wirken bösartiger Populisten, sondern an seinen beobachtbaren Folgen im 21. Jahrhundert. Wem es nicht gelingt, sich mittels geeigneter finanzieller Mittel von den Kollateralschäden hyper-liberaler Politik fernzuhalten, der wird jeder weiteren angekündigten Wende, Transformation oder Strukturreform mit Feindschaft begegnen.
Und diese Feindschaft hat längst den Sprung von den Kommentarspalten Facebooks und Twitters ins echte Leben geschafft. Populistische Bewegungen in Kanada, Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien und Amerika setzen sich nicht nur gegen „Maßnahmen“ zur Wehr, die zu ihrer Verarmung, zu Schließungen von Betrieben oder zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit führen, sondern auch gegen die von Medien, „Experten“ und Parteien betriebenen Diffamierungen – und die Überwachung und Stigmatisierung durch Inlandsgeheimdienste.
Der Liberalismus hat in seiner langen Geschichte immer wieder Wege gefunden, sich an neue Bedingungen anzupassen, sich durch Wandel zu erneuern. Wir hegen jedoch Zweifel daran, dass ihm das auch heute noch gelingen wird. Zu utopisch und zu unpopulär sind die von ihm verfolgten Ziele, zu häufig setzt er auf Propaganda (häufig in Form von Warnungen vor Propaganda) und Repression, immer verzweifelter klingen seine moralischen Appelle und Durchhalteparolen angesichts der Permakrise.
1930 betitelte Erich Kästner ein Gedicht mit der Frage „Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?“. Es endet mit der Zeile „Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt“. Wir wissen es auch nicht.