10.05.2016

Hütet euch vor Grünen im progressiven Gewand

Analyse von Daniel Ben-Ami

Titelbild

Foto: Simon Wijers (CC0)

Die Umweltbewegung hat ein düsteres Menschenbild. Sie bevorzugt die unberührte Natur gegenüber dem menschlichen Leben. Kein Versuch, die Tatsachen zu verdrehen, wird davon ablenken können.

Man kann das Verhältnis zwischen Mensch und Natur auf zwei grundsätzlich verschiedene Weisen verstehen. Entweder sollten Menschen die Natur zu ihrem eigenen Vorteil umgestalten oder sie sollten natürliche Grenzen respektieren.

Die erste Sichtweise ist auf den brillanten englischen Philosophen, Staatsmann und Wissenschaftler Francis Bacon (1561–1626) zurückführen. Bacon führte die Position der Aufklärung ein, wonach der Mensch die Natur beherrschen sollte. Hiermit ist nicht gemeint – wie es Grüne manchmal unterstellen –, die Natur zu zerstören, sondern sie für die Zwecke des Menschen nutzbar zu machen.

Viele Schlüsselfiguren der Aufklärung, darunter die französischen Enzyklopädisten Jean-Baptiste le Rond d’Alembert und Denis Diderot, erkannten den entscheidenden Beitrag, den Bacon für die Moderne geleistet hatte. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant bejubelte Bacon im Vorwort zu seiner „Kritik der reinen Vernunft“.

Es lässt sich überzeugend argumentieren, dass es Bacon war, der die Weichen für den Fortschrittsgedanken stellte. In seiner Studie „The Idea of Progress“ von 1920 vertrat der irische Historiker John Bagnell Bury die Position: „Bei Bacon ist der eigentliche Zweck der Naturerforschung nicht die Befriedigung der spekulativen Neugier, wie es für die alten Griechen der Fall war. Es geht ihm vielmehr um die Herrschaft des Menschen über die Natur und dass diese möglich sei, vorausgesetzt, der Mensch findet neue Methoden, die Probleme anzugehen.“

„Es lässt sich überzeugend argumentieren, dass es Bacon war, der die Weichen für den Fortschrittsgedanken stellte.“

Rückblickend hatten Bacons Unterstützer die Bedeutung seiner Erkenntnisse richtig erkannt. Mit der Neugestaltung und Nutzbarmachung der Natur zu unserem eigenen Vorteil haben wir eine viel wohlhabendere Gesellschaft geschaffen. Das ganze Spektrum von Flugzeugen, Autos, Computern, Elektrizitätsleitungen, Krankenhäusern, Schulen, Eisenbahnen, Straßen, Telefonen, Universitäten etc. wäre anders kaum denkbar. Trotzdem ist der Name Francis Bacon weitgehend in Vergessenheit geraten. Mit Ausnahme grüner und feministischer Autoren, die ihn als Verfechter einer Vergewaltigung der Natur verhöhnen.

Tatsächlich gingen mit Massenwohlstand und wirtschaftlichem Fortschritt enorme Vorteile für die Menschheit einher. Diese Verbesserung ließe sich an vielen Beispielen belegen, das auffälligste ist sicher die durchschnittliche Lebenserwartung. Lag sie im Jahr 1800 noch bei 30 Jahren, so steht sie heute bei weit über 70 Jahren. Allein diese Steigerung – wir sprechen von einem globalen Durchschnitt – entlarvt die Behauptung, nur Wohlhabende hätten von dieser Entwicklung profitiert, als Lüge. Ein Durchschnitt von rund 40 zusätzlichen Jahren ist eine erhebliche Errungenschaft, ein Grund zum Feiern.

Und doch ist die Auffassung, der Mensch solle die Vorherrschaft über die Natur anstreben, aus der Mode gekommen. Seit den 1970er-Jahren hat sich ein alternatives Verständnis der Beziehung zwischen Mensch und Natur durchgesetzt. Dieser Idee zufolge soll der Mensch durch natürliche Grenzen umzäunt werden, und wird er dies nicht, werden wir alle möglichen schrecklichen Folgen zu spüren bekommen.

Dieser Gedanke wird meistens auf den britischen Ökonom Thomas Malthus (1766–1834) zurückgeführt. Laut Malthus äußern sich die natürlichen Grenzen in Form der Überbevölkerung. In seinem Essay „On the Principle of Population“ von 1798 verteidigte er die These, dass wir entweder die menschliche Bevölkerung kontrollieren müssten oder Hungersnöte und Krieg die Folgen wären. Malthus’ Werk hat seit jeher Konservative, Pessimisten und Misanthropen beeinflusst.

Dabei war seine Argumentation nicht sonderlich originell. Schon vor ihm war die Idee, der Mensch sei an natürliche Grenzen gebunden, durchaus populär. Prominenz erreichte Malthus jedoch dadurch, dass seine Schriften eine direkte Antithese zum Optimismus von Aufklärern wie Nicolas de Condorcet, William Godwin und Adam Smith darstellten. Malthus versuchte den Glauben an die Vernunft zu untergraben sowie den Pessimismus zu verteidigen, als sich dieser in der Defensive befand.

Malthus’ Vorhersagen haben sich in den letzten zwei Jahrhunderten als bemerkenswert falsch herausgestellt. Die Weltbevölkerung ist um das Siebenfache größer als die Population zu Malthus’ Zeiten und es geht der Menschheit besser als früher. Obgleich die Welt weit von der Perfektion entfernt ist, lebt der Mensch im Schnitt länger und gesünder als jemals zuvor. Unter diesen Umständen sollte es nicht überraschen, dass sich Malthusianer seit eineinhalb Jahrhunderten in Erklärungsnot befinden.

„Obgleich die Welt weit von der Perfektion entfernt ist, lebt der Mensch im Schnitt länger und gesünder als jemals zuvor.“

Bedauerlicherweise erleben ähnliche Ideen in modifizierter Gestalt seit den 1960er-Jahren eine Renaissance. Diesmal liegt die Betonung weniger auf dem Begriff der „Überbevölkerung“ (auch wenn dieser Gedanke nicht verschwunden ist) als auf dem des „Überkonsums“. Die grüne Bewegung hat die Idee der natürlichen Grenzen in einer geringfügig anderen Verkleidung neu erfunden.

Diese Vorstellung lässt sich nicht auf eine Gruppe von NGOs oder selbsternannten grünen Parteien begrenzen. Vielmehr war sie in den 1970er-Jahren unter westlichen Regierungen und internationalen Organisationen zum Mainstream avanciert. Geführt wird die Diskussion unter dem Banner der „Nachhaltigkeit“, was im Grunde ein Codewort für „ewige Entbehrung“ ist. Von diesem Standpunkt aus belächeln die Grüngesinnten den Massenkonsum und wollen der ökonomischen Entwicklung ärmerer Länder zum Wohle der Umwelt Einhalt gebieten.

Humboldt als Umweltaktivist

Eines der Hauptziele von Andrea Wulfs äußerst positiv rezipierten Buch „The Invention of Nature: Alexander von Humboldt’s New World“ 1 besteht darin, die Geschichte des grünen Denkens umzuschreiben. Das soll mit Verweis auf den deutschen Wissenschaftler Alexander von Humboldt (1769–1859) geschehen, der eine attraktivere historische Figur als Malthus ist.

Humboldt war möglicherweise der bekannteste Entdeckungsreisende und Wissenschaftler seiner Zeit. Seine Popularität war mit der Napoleons vergleichbar. Er traf und beeinflusste eine atemberaubende Reihe historischer Figuren: Von Goethe und Schiller über den US-Präsidenten Thomas Jefferson bis zum südamerikanischen Revolutionär Simón Bolívar. In seiner Autobiografie hielt Charles Darwin Humboldt zugute, in ihm die Leidenschaft für die Naturwissenschaften entfacht zu haben. Humboldt ist der Nachwelt am besten bekannt für seine sechs Jahre dauernde Expedition durch Lateinamerika. Bei dieser führte er, trotz vieler Rückschläge, eine systematische botanische Studie zehntausender Pflanzen durch. Darüber hinaus war er ein überzeugter Gegner von Kolonialismus und Sklaverei.

Wäre Wulfs Buch eine reine Biografie einer zu Unrecht vernachlässigten historischen Persönlichkeit, würde es all die Anerkennung verdienen. Die vielen Fans des Buches scheinen jedoch das eigentliche unkluge Ziel des Buches entweder zu ignorieren oder dessen Bedeutung zu unterschätzen. Denn im Prolog des Werkes macht es sich die Autorin zur Aufgabe, „zu verstehen, warum wir über die natürliche Welt so denken, wie wir es tun“. In dieser Hinsicht ist das Buch ein Fehlschlag. Zu diesem Zwecke hätte sie sich nicht auf Humboldt fokussieren, sondern sich kritisch mit den sich wandelnden Sichtweisen auf die Natur beschäftigen müssen. Auf einer fundamentaleren Ebene führt die Diskussion über Humboldts Leben zu einer Vernachlässigung grüner Ideen, die schon vor ihm existiert haben.

Der eigentliche Fokus von Wulfs Untersuchung gilt Humboldts „Naturgemälde“ aus den „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer“ (1805). Diese Skizze Humboldts zeigt, dass die Natur ein komplexes Netz ist, in dem alles mit allem zusammenhängt. In dieser Hinsicht nahm es die Idee vorweg, die zeitgenössische Umweltaktivisten gerne als „Gaia“ bezeichnen.

Anstatt die Bedeutung der Skizze herauszuarbeiten, behauptet Wulf schlicht, sie artikuliere einen grundlegenden Gedanken grünen Denkens. Doch die Behauptung, der Mensch sei ein Teil der Natur und spiele keine Sonderrolle, ist ein Schlüsselelement antihumanistischen Denkens. Und das blendet sie aus. Vor dem Hintergrund einer grünen Perspektive ist es einleuchtend, Menschen essenziell mit Tieren gleichzusetzen. So ist auch die Idee einzuordnen, der Mensch sei schlimmer als andere Lebewesen, da er das natürliche Gleichgewicht zerstört. Den Menschen als schlicht einen Teil der Natur zu sehen, ist nichts anderes, als für die Achtung natürlicher Grenzen zu argumentieren.

„Im Gegensatz zu Malthus leitete Humboldt keine unverhohlenen politischen Ansichten aus seinem Naturverständnis ab.“

Tatsächlich war Humboldt eher Empirist als jemand mit einem weiteren philosophischen Interesse. Sein „Naturgemälde“ war schlicht ein Versuch, die Natur aus seiner Sicht zu beschreiben. Im Gegensatz zu Malthus leitete Humboldt keine unverhohlenen politischen Ansichten aus seinem Naturverständnis ab. Mit ihrer Klassifizierung von Humboldt als grünen Denker projiziert Wulf ein modernes Naturverständnis in eine frühere Epoche zurück.

Diese unerfreuliche Tendenz, aktuelle Auffassungen auf die Vergangenheit zu projizieren, findet sich auch in Wulfs Bezügen zum Klimawandel. Mit ihrer Feststellung, dass Humboldt zu den Ersten gehörte, die erkannten, dass Menschen einen Einfluss auf das Klima nehmen können, behält sie vielleicht Recht. Aber genau hierin liegt der Unterschied zu den aktuellen Debatten, den Wulf nicht erkennt. Selbst die heute abschätzig „Klimaleugner“ genannten Zeitgenossen würden akzeptieren, dass Menschen das Klima verändern können. Die heutige grüne Orthodoxie zeichnet sich hingegen durch die Behauptung aus, eine habgierige Menschheit steuere auf eine Klimakatastrophe zu. Der Grad der Problemerzeugung durch den Menschen wird über- und der die Fähigkeit zur Problemlösung wird unterschätzt.

„The Invention of Nature“ funktioniert als faszinierende Biografie, versagt aber am selbst auferlegten Ziel, das menschliche Verständnis der Natur zu untersuchen. Es ist ein fehlgeleiteter Versuch, die Geschichte des Öko-Denkens mit dem Abenteuer und Naturwissenschaftler Alexander von Humboldt als Begründer umzudeuten. Das Buch scheitert daran, das essenzielle Merkmal des grünen Denkens zu identifizieren und zu erkennen, dass die intellektuellen Vorläufer der Grünen vor Humboldt gelebt haben.

Der Ökomodernismus

Das von mehreren Autoren verfasste Ecomodernist Manifesto stellt einen alternativen Versuch dar, die Ökologie in einem positiven Licht erscheinen zu lassen. Seine Verfasser räumen ein, dass die wirtschaftliche Entwicklung gewaltige Fortschritte gebracht hat, aber sie wollen an einem ökologischen Ideal festhalten.

Zu diesem Zweck teilen sie natürlichen Grenzen in zwei Gruppen auf: So soll die Menschheit ihren Einfluss auf die Natur reduzieren, aber sie muss nicht mit der Natur in Harmonie leben: „Wir stehen zu einem alten ökologischen Ideal, nämlich dass die Menschheit ihren Einfluss auf die natürliche Umwelt begrenzen muss, um der Natur mehr Raum zu lassen, aber wir lehnen ein anderes Ideal ab, nämlich dass menschliche Gesellschaften mit der Natur harmonisieren müssten, um einen zukünftigen wirtschaftlichen und ökologischen Kollaps zu verhindern.“

Eine solche Position wird sich kaum aufrechterhalten lassen. Denn wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt hängen exakt vom zunehmenden Einfluss des Menschen auf die Natur ab. Wir müssen unsere Kontrolle über die Natur ausdehnen, statt sie zu reduzieren. Hunger, Krankheit und sogar Knappheit sind immer noch große zu bewältigende Herausforderungen. Selbst dem Klimawandel in dem Maße, wie er tatsächlich ein Problem ist, angemessen entgegenzutreten bedeutet, die technischen Möglichkeiten des Menschen zu erweitern, nicht sie zurückzuschrauben.

Die Autoren des „Ecomodernist Manifesto“ versuchen sich an der Quadratur des Kreises, indem sie die menschliche Entwicklung von den Auswirkungen auf die Natur entkoppeln möchten. Sprich: Menschen sollen weiter prosperieren und dabei gleichzeitig auf den Naturschutz achten. Hier verwischen aber wichtige Unterschiede. Menschen sollten beispielsweise die Möglichkeit haben, einen Teil der Wildnis so zu belassen, wie er ist. Das sollte aber auf der Basis von menschlichen Interessen geschehen und nicht, um natürliche Grenzen zu respektieren.

„Eine wirklich moderne Vision muss auf den Bedürfnissen des Menschen aufbauen.“

Durch eine so pragmatische Herangehensweise vermeidet es das Manifest, demselben Negativismus zu erliegen wie das grüne Denken. Wie man an klaren Anzeichen erkennt, schlummert eine diffuse Furcht vor dem wirtschaftlichen Fortschritt jedoch nicht allzu tief unter der Oberfläche. So zum Beispiel, wenn die Rede davon ist, die Effizienz der Rohmaterialverarbeitung zu steigern, aber an keiner Stelle die Effizienz menschlicher Arbeit erwähnt wird. Denn die Arbeitsproduktivität – die Menge, die für jede Stunde oder jeden Tag menschlicher Arbeit produziert werden kann – ist der Schlüssel zum ökonomischen Fortschritt. Um weltweit Knappheit zu beseitigen und Wohlstand für alle zu erreichen, müsste die durchschnittliche Arbeitsproduktivität erheblich gesteigert werden.

Ein verwandtes Problem ist mit der im Manifest erwähnten Linderung der Armut verbunden. Auf den ersten Blick scheint die Forderung einwandfrei. Wer könnte sich schon dagegen aussprechen? Das Manifest konzentriert sich jedoch nur darauf, die extremsten Formen materieller Entbehrung zu beseitigen, statt materielle Erfüllung für alle Menschen anzustreben. Dadurch verzichtet es auf das Streben nach Wohlstand für alle.

Der Ökomodernismus kann als kohärente Vision nicht funktionieren, weil das grüne Denken im grundlegenden Widerspruch zur Moderne steht. Eine wirklich moderne Vision muss auf den Bedürfnissen des Menschen aufbauen. Eine Diskussion über den Planeten zu führen, als hätte er eigene Interessen und Bedürfnisse, ist sinnlos. Schließlich sprechen wir im Wesentlichen von einem Gesteinsklumpen, der die Sonne umkreist. Die Erde ist kein bewusstes Wesen und kann nie eines werden.

Die Ökomodernisten versuchen lediglich, dem grünen Denken einen neuen Anstrich zu verpassen. Sie relativieren seine anithumanistischen Prämissen und negativen Konsequenzen, sie verpacken seine misanthropischen Eigenschaften neu, um es schmackhafter zu machen.

Heute ist es wichtiger als je zuvor, auf einem humanistischen und aufklärerischen Verständnis der Mensch-Natur-Beziehung zu beharren. Damit geht einher, dass Menschen ihre Kreativität und Ambition nicht einer unangetasteten natürlichen Welt unterordnen sollten. Im Gegenteil verdanken wir unsere gewaltigen Fortschritte unserem Erfolg bei der Beherrschung der Natur. Wenn überhaupt, müssen wir diese Entwicklung fortsetzen und keinen Schritt zurückgehen.

Möglicherweise ist es auch an der Zeit, den Ruf von Francis Bacon zu rehabilitieren und seinen enormen Beitrag zur Moderne anzuerkennen. Ohne seine Erkenntnis, dass der Mensch nach der Beherrschung der Natur streben sollte, wären wir alle viel schlechter dran.

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