03.11.2015

Die Andersgrünen

Essay von Michael Miersch

Wer zukunftsfähige ökologische Lösungen erkunden möchte, sollte sich mit den Ideen grüner Renegaten befassen. Ihnen sind Tabus wie Atomkraft und Gentechnik nicht zu heiß. Sie setzen auf intelligente Technik und sozialen Wandel ohne verkniffene Askese.

Julian Simon wollte zunächst die These von der katastrophalen „Bevölkerungsexplosion“ untermauern und scheiterte. Bjørn Lomborg hatte zufällig ein Buch von Simon in die Hand bekommen, regte sich darüber auf, wollte es widerlegen – und scheiterte. Ich stolperte bei der Recherche für Öko-Magazine immer häufiger über eigene Vorurteile und Irrtümer über den Zustand der Umwelt. Erst ist man verunsichert, dann kommt die Freude über den Erkenntnisgewinn, schließlich folgen Zweifel am Gesamtgebäude. Wenn man diese äußert, noch dazu öffentlich, kriegt man die soziale Ausgrenzung aus der Gemeinschaft zu spüren – man gehört von nun an nicht mehr dazu.

Es scheint so eine Art Naturgesetz zu sein: Jede soziale Bewegung bringt mit der Zeit Zweifler hervor. Zunächst fangen sie an, manche Methoden zu kritisieren, dann setzen sie sich nach und nach von den Dogmen ab, und manchmal stellen sie sogar die Ziele in Frage. Daraufhin herrscht bei den Hütern der Lehre helle Aufregung. Die Ketzer werden verbrannt oder verbannt. Und bald darauf hat man die Hälfte ihrer Ideen übernommen. In der 2000-jährigen Kirchengeschichte war das eher die Regel als die Ausnahme. Manche große christliche Kirche entstand als Abspaltung, manche als Abspaltung von der Abspaltung. Speziell im protestantischen Amerika sind sogar Abspaltungen fünften Grades nicht selten.

Bereits die ersten Christen waren nichts anderes als ein Häuflein jüdischer Renegaten, und schon ganz am Anfang der biblischen Geschichte wird heftig gezweifelt. Von Eva über Abraham bis zu Christus am Kreuz hadern die Hauptpersonen mit ihrem Glauben. Das Christentum brauchte noch etliche Jahrhunderte, bis die Einheit zerfiel – die sozialistische Weltbewegung schaffte es auf Anhieb. Ständig verwarf irgendein führender Genosse die jeweilige Parteilinie, und die Orthodoxen fühlten sich dadurch aufs Blut provoziert. Die Renegaten wurden eingesperrt oder ermordet. Ihre Geister saßen jedoch immer mit am ZK-Tisch. 60 Jahre lang durfte im Machtbereich des Kremls – immerhin ein Drittel der Erde – kein Bild und kein Wort des Erzrenegaten Trotzki veröffentlicht werden. Auf seine Existenz konnte man nur ex negativo schließen: aus Beschimpfungen und Anschuldigungen.

„Den Zeitgeist in Frage zu stellen ist leider kein sonderlich lukratives Geschäft“

In den Siebzigerjahren blühten die neuen sozialen Bewegungen auf und vollzogen die Aufstiegsgeschichte des Sozialismus im Schnelldurchlauf. Die neuen Kampffelder drehten sich um Frauen, Frieden und Umwelt (plus einige Spezialthemen wie Homosexuellenemanzipation). Binnen zweier Jahrzehnte entwickelten sich die darin gefundenen Meinungen von Randerscheinungen aus dem Studentenmilieu zum kritiklos akzeptieren gesellschaftlichen Konsens. Im heutigen Deutschland sind Anti-Feministen, Anti-Pazifisten und erklärte Gegner des Umweltschutzes rare Exzentriker. Doch auch aus diesen Bewegungen entwickelten sich Renegaten. Katharina Rutschky und andere Intellektuelle kritisierten die irrationalen Wallungen des deutschen Feminismus. Im ersten Golfkrieg und im Kosovokrieg desertierten prominente Köpfe aus den Reihen des reinen Pazifismus. Und auch die Ökobewegung musste ein wenig Widerspruch aus den eigenen Reihen ertragen.

Renegaten haben nicht den besten Ruf, besonders wenn sie sich von einer Idee absetzen, die für viele Menschen das Gute in der Welt repräsentiert. Als im Jahr 1996 mit Öko-Optimismus das erste gemeinsame Buch von Dirk Maxeiner und mir erschien, begann ein Kritiker seine Rezension mit folgenden Worten: „Die intellektuelle Masche ist bekannt. Man marschiert eine Zeit lang für irgendeine gute Sache, drängelt sich unter die Mutigsten in der vordersten Reihe, macht dann bei erstbester Gelegenheit kehrt und kritisiert mit viel Getöse die Marschrichtung. Dieses profilierungssüchtige Renegatentum findet überall Nachahmer.“ Seither reißt die Kette von Briefen nicht ab, die Maxeiner und mir „Zeitgeist-Surfen“, „Anpassung an den Mainstream“ und „Opportunismus“ vorwerfen. Oftmals flankiert von Bemerkungen wie „Sie wollen doch nur abkassieren“ oder „Wie viel Dollar zahlt man Ihnen denn dafür?“ (jawohl, Dollar, nicht Euro, weil Geld für so etwas Mieses nur aus den USA kommen kann).

Erfolg und Misserfolg der Öko-Abweichler

Grund dieses Umgangs ist die Tatsache, dass viele Umweltschutz als Sinnstiftung und moralisches Fundament ihrer Biografie sehen – und nicht als eine nüchterne Aufgabe, bei der es schlicht darum geht, Probleme zu lösen. Den Zeitgeist in Frage zu stellen, ist leider kein sonderlich lukratives Geschäft. Wer beispielsweise den Kapitalismus lobt, wird von den meisten Kapitalisten peinlich gemieden. Um zum Weltwirtschaftsgipfel nach Davos eingeladen zu werden, sollte man besser eine NGO gegen Freihandel, Gentechnik oder Pharmaforschung gründen. Der Vorwurf des „Opportunismus“ gegenüber Dissidenten verdient daher, genauer betrachtet zu werden, denn dabei tauchen erneut Parallelen zur sowjetischen Geschichte auf.

Bei den Schauprozessen gegen die Verlierer der jeweiligen Linienkämpfe wurde den Angeklagten außer diversen von der Partei verbotenen „Ismen“ stets auch „Opportunismus“ vorgeworfen. Der Ausgeschlossene als Anpasser: ein Bilderbuchbeispiel freudscher Projektion. „Es ist das erste umfassende Werk bekennender Renegaten unter den Ökopaxen der Achtzigerjahre“, schrieb damals der Spiegel in seiner Rezension von Öko-Optimismus, „zwei Autoren aus dem Herzen der Bewegung“. Weiter hieß es: „Die frisch bekehrten Optimisten verletzten das Basis-Tabu deutscher Umweltbesorgnis: ‚Die Apokalypse‘, sagen sie, ‚kommt jetzt doch nicht‘.“

Im angelsächsischen Kulturraum gab und gibt es eine wesentlich größere Zahl abtrünniger Umweltbewegter, die dort teilweise hohe Auflagen erreicht haben: unter anderen Gwyneth Cravens, Ronald Bailey, Gregg Easterbrook, Peter Huber, Mark Lynas und Patrick Moore. Die meisten von ihnen wurden nicht ins Deutsche übersetzt (im Gegensatz zu den zahlreichen amerikanischen Öko-Alarm-Büchern). Ebenso erging es dem verstorbenen Julian L. Simon, der als Altmeister aller Ökoskeptiker gelten kann, da er bereits in den späten Siebzigerjahren die Prognosen des grünen Untergangspropheten Paul R. Ehrlich widerlegte. Der erste ausländische Renegat, der es wahrnehmbar auf den deutschen Buchmarkt schaffte, war der Däne Bjørn Lomborg im Jahr 2002. 2005 folgte dann Michael Crichton, der allerdings als Thrillerautor mit Millionenauflagen kaum ignoriert werden konnte.

Wer das Label „Renegat“ angeheftet bekommt, erlebt eine Kette von Reaktionen, die nach dem immer gleichen Muster ablaufen. Phase eins: ignorieren und totschweigen. Phase zwei: wütende Angriffe und der Versuch, die Kritiker lächerlich zu machen. Phase drei: Nach und nach werden Positionen übernommen und von den ehemaligen Anklägern als die eigenen ausgegeben. Längst wurden – wie bei allen anderen erfolgreichen sozialen Bewegungen – die in diesem Fall grünen Inhalte von der Gesellschaft integriert und Forderungen erfüllt. Im gleichen Zug integrierte sich ein Großteil der Bewegung in die Gesellschaft. Aus Revolutionären wurden Reformisten und schließlich Besitzstandswahrer.

Grüne Besitzstandswahrung

Der grüne Zeitgeist ist konservativ. Vorgeblich geht es um die Bewahrung der Schöpfung, tatsächlich um die Bewahrung eigener Privilegien und sei es der überhöhten Einspeisevergütung für die Solarzellen auf dem Dach. So wie sich die Reaktionen der Gesinnungshüter ähneln, so tun dies auch die Beweggründe und Entwicklungen der Renegaten. Die meisten bekannten Skeptiker sind ehemalige Umweltbewegte, die sich an irgendeinem Punkt ihres Werdegangs in ein Thema vertieft haben. Bei einem war es der Walfang, beim nächsten die Gentechnik, beim dritten die Müllentsorgung – ganz egal. Zu diesem Zeitpunkt ahnten sie noch nicht, dass sie an der Tapete einer Weltanschauung kratzten. Und als sie weiter kratzten, kam ihnen die ganze Wand entgegen. Was man für eine wissenschaftlich fundierte Kritik an den Auswirkungen der Industriegesellschaft gehalten hatte, entpuppte sich nach und nach als eine Mischung aus wenigen Fakten und viel Meinung und Gefühl. Und je mehr die Industriegesellschaften ihre ökologischen Hausaufgaben erledigt haben, desto mehr überwiegt die Ideologie – bis sie bei manchen Themen als einzige übrig geblieben ist.

„Der grüne Zeitgeist ist konservativ“

„Der Erfolg der Umweltbewegung“, schreibt Stewart Brand, Initiator des ersten Earth Days und ein geschickter Vermittler zwischen Renegaten und grünem Establishment, „wird von zwei starken Kräften getrieben – Romantik und Wissenschaft. Oft stehen sie in Opposition zueinander.“ Die einen möchten ökologische Probleme lösen, die anderen eine Gesinnung konservieren, mit der sie sich wohl fühlen. Er glaubt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf Dauer stärker sein werden und dass die Ökobewegung bei einigen ihrer großen Themen umschwenken wird – ganz im Sinne der heutigen Renegaten.

Wenn sich die Theorie von der anthropogenen Klimakatastrophe tatsächlich weiter bestätigen sollte, ist eine Neubewertung der Atomenergie ziemlich wahrscheinlich (zumindest außerhalb Deutschlands), zumal in den letzten Jahren weitere Fortschritte in Sachen Sicherheit und Effizienz gemacht wurden. Wenn die Gentechniker weitere Pflanzensorten entwickeln, deren Vorteile dem Umweltschutz und der Ernährung in armen Ländern zugutekommen, wird auch die Anti-Gentechnik-Front bröckeln. Ein weiterer Linienschwenk könnte die Neubewertung der Verstädterung werden. Während die meisten Ökoromantiker das ländliche Leben idealisieren, weisen Wissenschaftler mehr und mehr auf die ökologischen Vorteile der weltweiten Landflucht hin: Erstens lässt eine Konzentration der Menschen in Ballungszentren mehr Raum für die Natur. Und zweitens ist es der Verstädterung zu danken, dass die Geburtenraten überall gesunken sind und die einst befürchtete Bevölkerungsexplosion ausbleibt. Aus verfemter Kritik wird langweilige Normalität. Das Urheberrecht am Wandlungsprozess interessiert schon bald niemanden mehr. Diese narzisstische Kränkung kommt auf alle Renegaten zu. Irgendwann sitzen sie weißhaarig auf einer Parkbank, füttern die Spatzen und murmeln: „Wir haben es doch schon damals gesagt …“

Es begann mit 200 Mikrogramm LSD

Stewart Brand ist in Europa wenig bekannt, gehört aber zum Urgestein der amerikanischen Umweltbewegung. Er ist grün, steht nichtsdestotrotz für einen kreativen und offenen Umgang mit der Zukunft. In den frühen Sechzigerjahren organisierte er das erste Hippiefestival in San Francisco, kämpfte für die Rettung der Erde, als „Umweltschutz“ noch ein unbekanntes Wort war, und erkannte als Erster, wie die NASA-Fotos vom blauen Planeten das Bewusstsein der Menschen verändern würden. In der amerikanischen Gegenkultur ist Stewart Brand eine Legende. Als Vater der Landkommunenbewegung stellte er alles, was Aussteiger 1968 brauchten, im Whole Earth Catalog zusammen, der den Untertitel Access to Tools trug. Mit diesem Katalog lieferte Brand der aufkommenden Hippie- und Alternativszene das praktische und philosophische Rüstzeug für ein selbstbestimmtes und autarkes Leben, wie es damals unter Aussteigern als Gegenentwurf zur konsumorientierten Wirtschaftswunderwelt populär wurde.

„Die Idee dazu entstand durch einen Trip, als ich mit 200 Mikrogramm LSD auf einem Hausdach herumhing und über eine Vorlesung von Buckminster Fuller nachdachte“ (Fuller wirkte als Designer, Wissenschaftler, Forscher, Entwickler und Schriftsteller und propagierte schon frühzeitig globale Sichtweisen, etwa in seiner Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde). Die ersten Leser und Kunden des Whole Earth Catalog waren Kommunen, die eine neue Gesellschaft aufbauen wollten. „Und ich versuchte, dafür das Werkzeug bereitzustellen“, sagt Brand. Doch der Rückzug auf ein romantisiertes Landleben entpuppte sich als Irrweg: „Es führte nicht weit, es war im Grunde eine Sackgasse wie Drogen.“ Brand setzte stattdessen auf dezentrale und für jedermann offene Techniken, die genau wie die Hippiebewegung Außenseiter in ihren Bann zogen. Dazu gehörten die Solarenergie und besonders die Computertechnologie. Brand kreierte als Erster den Begriff „Personal Computer“. Sein jüngstes Werk, Whole Earth Discipline: An Ecopragmatist Manifesto erschien im Jahr 2009 und wagte es gar, die grüne Gentechnik und Atomkraft in die Liste der zukunftsträchtigen Technologien aufzunehmen.

Wer sich auf die Gedankenwelt eines Stewart Brand einlässt, dem wird auch bewusst, um wie viel spannender, anregender und tiefgründiger die ökologische Debatte sein könnte. Heute ist Brand Mitte 70, lebt auf seinem Hausboot und umgibt sich mit Indianerkunst. Seine Ansichten sind mittlerweile für viele der alten Freunde aus der Ökobewegung reinste Ketzerei. Dennoch behauptet Brand: „Ich bin ein grüner Aktivist, heute mehr als je zuvor.“ Wenn er für Atomkraft und Gentechnik streitet, argumentiert er nicht mit Wirtschaftswachstum oder Arbeitsplätzen, sondern mit den Vorteilen für die Umwelt. Was zunächst ziemlich anti-grün klingt, erscheint in seinen Vorträgen ökologisch vernünftig. Und er ist nicht der einzige Amerikaner, der ganz anders grünt, als man das hierzulande gewohnt ist, und der für eine pragmatische und entideologisierte Umweltpolitik eintritt.

Grüne Dissidenten

Ähnliche Thesen wie Brand vertritt auch ein Urgestein der Bewegung im benachbarten Kanada: Patrick Moore. 1971 gehörte er zum Gründungszirkel von Greenpeace. Sieben Jahre lang war er Direktor von Greenpeace International und davor Präsident des kanadischen Zweigs. Die Gründungsurkunde von Greenpeace Deutschland trägt seine Unterschrift. Heute sagt Moore: „Greenpeace hat sich von Logik und Wissenschaft verabschiedet.“ Mit Optimismus und Enthusiasmus wie in den Siebzigerjahren kämpft er zusammen mit seinem Bruder Michael dafür, dass Greenpeace die Kampagne gegen den gentechnisch veränderten Goldenen Reis einstellt, der abertausende Kinder in Asien vor lebensbedrohlichem Vitamin-A-Mangel bewahren könnte. „Greenpeace verbreitet gezielt Fehlinformationen“, sagt Moore, „zieht über die Wissenschaftler her und hat die mutwillige Zerstörung von Versuchsfeldern unterstützt. Greenpeace ist nicht in der Lage, ein einziges spezifisches Gesundheitsrisiko zu nennen, das von dem Verzehr von Goldenem Reis ausgeht.“

Zum Club der grünen Dissidenten gehört auch der bereits oben genannte Däne Bjørn Lom-borg, einst ebenfalls Greenpeace-Anhänger und heute Kritiker des Klima-Alarmismus. Er trägt immer und grundsätzlich T-Shirt und Jeans und ist Vegetarier. Er passt durch nichts ins Schema vom betonköpfigen Anti-Umweltschützer. Sein Buch The Sceptical Environmentalist, das die Lage der Umwelt jenseits grüner Apokalyptik beschreibt, sorgte weltweit für Aufsehen. In Deutschland sind die Abweichler von der grünen Orthodoxie eine kleine Minderheit. Der Chemiker Fritz Vahrenholt zählt dazu und der Pflanzenökologe Hansjörg Küster.

„In Deutschland sind die Abweichler von der grünen Orthodoxie eine kleine Minderheit“

Durch seine erfolgreichen populärwissenschaftlichen Bücher wurde der Biologe Josef H. Reichholf einem größeren Publikum bekannt. Auch er ist ein Grüner der ersten Stunde. Zusammen mit Bernhard Grzimek gründete er einst die „Gruppe Ökologie“, eine der Keimzellen des späteren Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Lange Zeit war er Präsidiumsmitglied des WWF Deutschland. In seinem Buch Die falschen Propheten (2002) stritt er gegen grüne Dogmatiker. Mit dem Bestseller Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends (2007) erläuterte er seine wissenschaftlichen Zweifel an den Voraussagen einer kommenden Klimakatastrophe. Dass ausgerechnet grüne Gründerväter die heutige Ökoszene kritisch betrachten, wundert ihn nicht. „Wir können“, sagt er, „viel besser als Außenstehende beurteilen, was abgelaufen ist. Wir erlebten mit, wie sich die guten und gut gemeinten Anfänge zur Ideologie veränderten. Wir sahen, wie es zunehmend schwieriger wurde, einmal festgelegte Positionen aufgrund von besseren Daten und neuen Einsichten zu ändern. Ein typisches Beispiel für eine solche erstarrte Position ist das Beharren auf Biotreibstoffen. Es ist Irrsinn, Wälder zu roden, um Energiepflanzen anzubauen.“

Eine gemeinsame Linie haben die Abtrünnigen nicht. So zweifelt Reichholf an den Katastrophenszenarien des Weltklimarates IPCC. Brand dagegen glaubt, dass eine globale Erwärmung droht. Lomborg ist ebenfalls von der kommenden Erderwärmung überzeugt, kritisiert jedoch die politischen und ökonomischen Empfehlungen der Klimawarner. Statt für viel Geld den CO2-Ausstoß zu reduzieren, rät er, die Mittel besser in die Armutsbekämpfung zu stecken und eine intelligente Anpassung an den Klimawandel zu fördern. Gemeinsam ist allen, dass sie das Alles-wird-immer-schlimmer-Mantra nicht mehr mitbeten wollen.

„Insbesondere“, sagt Reichholf, „stören mich die düsteren Szenarien, die Zukunftsängste schüren und den jungen Leuten ihren Optimismus nehmen; auch den Optimismus, es besser zu machen und die Probleme lösen zu können.“ „Die Apokalypse ist zum zentralen Motiv des Ökologismus geworden“, findet Moore, „vieles davon ist eine kollektive Neurose.“ Er und die anderen Abweichler halten den Fortschritt nicht für einen Fluch, sondern glauben, dass intelligente Technik dabei hilft, die Herausforderungen der Umwelt zu meistern.

Politik der großen Umweltverbände eher schädlich

Kopfschüttelnd beobachten sie, wie Ökoverbände und die Grünen in allen Parteien immer mehr Technologien zum Tabu erklären. „Wissenschaftler ändern gern ihre Meinung“, sagt Stewart Brand, „im Gegensatz zu Romantikern und Ideologen. Es ist Teil jeder Ideologie, dass ein Sinneswandel etwas Böses ist.“ „Mich stört diese Ideologisierung des Natur- und Umweltschutzes, die sich mit wissenschaftlicher Redlichkeit vielfach nicht vereinbaren lässt“, sagt Reichholf. Er ist wie die anderen Dissidenten davon überzeugt, dass die Politik der großen Umweltverbände und ergrünten Parteien dem Umweltschutz mittlerweile mehr schadet als nützt. Nachdem sie in den Siebziger- und Achtzigerjahren erfolgreich dafür gekämpft hatten, Parlamente und Regierungen für ökologische Fragen zu gewinnen, kleben sie heute an althergebrachten Dogmen, die oftmals gar nicht so ökologisch sind, wie sie scheinen. „Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche“, reimte einst der Lyriker und Satiriker F. W. Bernstein und brachte damit ein Phänomen auf den Punkt, das die Ideengeschichte der Menschheit seit jeher begleitet. Jede Bewegung bringt ihre Zweifler hervor. Grünes Renegatentum, sagt Benny Peiser, sei „in vielerlei Hinsicht das historische Spiegelbild der Sozialismus-Kritik. Auch diese wurde ja vor allem und am überzeugendsten von ehemaligen linken Intellektuellen entwickelt.“ Peiser gehörte in der Gründungzeit der Grünen zum Frankfurter Kreis um Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer. Heute leitet er in London die Stiftung Global Warming Policy Foundation (GWPF), die sich kritisch mit Klimapolitik befasst.

„Auch in der Vergangenheit wurden zunächst verteufelte Techniken plötzlich stillschweigend akzeptiert“

Anders als bei den Kommunisten müssen Abweichler vom grünen Konsens jedoch nicht um ihr Leben fürchten. Nur um ihren guten Ruf und ihren Anzug, respektive das T-Shirt: So schleuderten Klimaaktivisten Bjørn Lomborg in einer Oxforder Buchhandlung eine Torte ins Gesicht, mit dem Schlachtruf „pies for lies“ (Torten für Lügen). Patrick Moore wird von seinen alten Mitstreitern als „Öko-Judas“ beschimpft. „Sie haben versucht, mich aus ihrer Geschichte zu tilgen. Im Jahr 2007 strichen sie meinen Namen aus der Liste der Greenpeace-Gründer.“ Seit Fritz Vahrenholt den Vorhersagen des Weltklimarats (IPCC) nicht mehr traut und ein Buch darüber geschrieben hat (Die kalte Sonne, gemeinsam mit dem Geologen und Paläontologen Sebastian Lüning), weht ihm der Wind hart ins Gesicht.

Wie auch Maxeiner und ich wurde er im Jahr 2013 vom Umweltbundesamt bezichtigt, seine Ansichten würden „nicht mit dem Kenntnisstand der Klimawissenschaft übereinstimmen“. Kein Vorwurf ist zu absurd, um den Kritiker aus den eigenen Reihen abzuwehren. Er stehe im Sold der Kohle- und Öl-Lobby, sei eitel und wolle nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen und hätte im Übrigen als Chemiker keine Ahnung von Klimaforschung. Die Hüter der reinen Lehre reagieren besonders empört, weil der heutige Vorstand der Deutschen Wildtier-Stiftung zu den Pionieren der Umweltbewegung in der Bundesrepublik gehört. „Bis zum Jahr 2010“, sagt Vahrenholt, „glaubte ich dem Weltklimarat und vertrat seine Empfehlungen.“

Zweifel kamen ihm, als er als Gutachter den IPCC-Report über erneuerbare Energien überprüfen sollte. „Ich entdeckte zahlreiche Fehler und fragte mich, ob die anderen IPCC-Berichte wohl ähnlich unzulänglich sind.“ Gleichzeitig brachte ihn ins Grübeln, dass entgegen der Vorhersagen die globale Durchschnittstemperatur seit Ende der Neunzigerjahre nicht weiter angestiegen ist. Vahrenholt fragte sich, ob die vom Menschen erzeugten Treibhausgase tatsächlich die entscheidende Kraft im Klimageschehen darstellen. Nach Gesprächen mit dutzenden Wissenschaftlern hält er den Einfluss der Sonne für unterschätzt. Außerdem hält es Vahrenholt – wie Reichholf – für wenig plausibel, dass eine Erwärmung grundsätzlich schlecht für Mensch und Natur sei. Ein politisches Schwergewicht wie Vahrenholt kann nicht so leicht überhört werden.

Jahrzehntelang war er der prominenteste Umweltschützer in der SPD neben Erhard Eppler, der einst das Vorwort zu seinem ersten großen Bestseller schrieb: Seveso ist überall. Ein Titel, der vielen Grünen noch heute im Gedächtnis haftet. Das Buch über „die tödlichen Risiken der Chemie“ erschien 1978. Es war eines der Werke, die der aufstrebenden grünen Bewegung ihre Argumente lieferten. Vahrenholt avancierte dadurch zum bekanntesten Kritiker der Chemieindustrie. In den Neunzigerjahren machte ihn die SPD zum Umweltsenator von Hamburg. Von 2001 bis 2012 arbeitete er für Konzerne, die ihr Geld mit regenerativer Energie verdienen, zunächst für Repower Systems (heute Senvion), einen führenden Hersteller von Windenergieanlagen, danach für die RWE-Tochter Innogy, den größten deutschen Investor in erneuerbare Energien. Es hätte also viel eher in seinem Interesse gelegen, die Energiewende der Bundesregierung nach Kräften zu bejubeln.

Zweifel nagt auch an den Frömmsten

Nicht nur die Dissidenten, auch die Vertreter der grünen Mehrheit wandelten sich im Laufe der Jahrzehnte – zumindest äußerlich. Verglichen mit den strickenden Zauselbärten von einst, sehen Cem Özdemir und Winfried Kretschmann wie das personifizierte Establishment aus. Während der Umweltschützer früherer Tage im Schlauchboot Giftmüllschiffe attackierte oder bedrohte Lurche beim Überqueren von Schnellstraßen unterstützte, steigt der moderne Ökolobbyist mit Anzug und Aktenkoffer ins Flugzeug, um in Brüssel die Sache der Solar- oder einer anderen Öko-Industrie zu vertreten. Sonne und Wind sind ein globales Milliardengeschäft geworden, ebenso wie der Markt für Bionahrung oder Müllrecycling.

„Sonne und Wind sind ein globales Milliardengeschäft geworden, ebenso wie der Markt für Bionahrung oder Müllrecycling“

Richtige Gegner gibt es schon lange nicht mehr. Konzerne brüsten sich damit, wie viel Kohlendioxid sie einsparen, und in Wahlkämpfen will jede Partei die grünste sein. Das Thema ist eigentlich durch. Man streitet nur noch darum, wie schnell, wie radikal und wie konsequent grüne Politik umgesetzt werden soll. Die Richtung stellt niemand mehr in Frage. Alle sind auf den Zug aufgesprungen. Nur Stewart Brand, Patrick Moore und ihre Freunde finden, dass der Zug schon eine Weile in die falsche Richtung fährt. Doch der Zweifel nagt auch an den Frömmsten. „Häufig begegnet mir im Gespräch mit Funktionären der Umweltverbände große Zustimmung“, sagt Reichholf, „wenngleich hinter vorgehaltener Hand. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass die notwendigen Änderungen und Anpassungen möglich sind und kommen werden. Man braucht einfach Zeit und Geduld.“ Stewart Brand beschreibt es so: „Das ist wie bei Software. Zuerst ist der Prozess eher schleppend, und plötzlich geht alles ganz schnell.“ Er könnte damit durchaus recht behalten. Denn auch in der Vergangenheit wurden zunächst verteufelte Techniken plötzlich stillschweigend akzeptiert. Über medizinische Gentechnik regt sich kein Grüner mehr auf, obwohl man einmal stolz darauf war, die gentechnische Herstellung von Insulin in Deutschland zu verhindern. Auch Mobiltelefone und das Internet gehören heute zum Alltag von Öko-Aktivisten. Wer erinnert sich noch daran, dass die erste grüne Bundestagsfraktion Computer noch kategorisch ablehnte?

Eine vom ideologischen Muff befreite, rationale Debatte über den Schutz der menschlichen Gesundheit und den Erhalt der Natur wäre ein Schritt in Richtung eines zukunftsfähigen Deutschlands. Aufgeklärte grüne Kritiker werden weiterhin gebraucht, denn es sind längst nicht alle Probleme erledigt, und aus der Lösung der alten entstehen neue. Es lohnt sich, den Abweichlern und Dissidenten zuzuhören. Denn vieles, was falsch gelaufen ist, haben sie frühzeitig vorausgesagt. Offenheit für neue Gedanken wird dringend gebraucht.

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