25.07.2011

Hinterm Vollmond – die Message von der Hochkultur, eine Ortsbestimmung

Von Frank Alva Buecheler

Das deutsche Feuilleton diskutiert den Wert der Hochkultur und meint damit eigentlich die Bewahrung eines mittelmäßigen Status Quo. Was von solcherlei Debatten in Zeiten sinkender Standards und verkrusteter Strukturen im Kunstbetrieb zu halten ist.

Vorweg: Alles, was ich in diesem oder anderen Beiträgen für Novo Argumente als Whistleblower aufschreibe oder aufgeschrieben habe, ist wahr – doch keine Enthüllungsliteratur. Das Schauspielensemble, das hier erwähnt wird, ist nicht das, mit dem ich momentan Figaro probiere, die beiden zitierten Sängerinnen gibt es, aber ich habe sie nicht gleichzeitig gesprochen, usw… Und selbstverständlich gibt es auch Gegenbeispiele. Ich sehe aber meine Aufgabe darin, die innere Verfassung eines maroden Systems und der sich damit abmühenden Kollegen zu dokumentieren, um dies als erhellende Informationen zur Verfügung zu stellen. Von Außen hat die keiner und kann sie nicht haben. Sie könnte aber hilfreich sein für in Wahrheit häufig enttäuschte Kulturgänger, für die finanzierenden Bürger, für Politiker oder die Medien und alle Interessierten. Sie könnten, so meine Hoffnung und Spekulation, uns auch intern bei der Diskussion unterstützen, wie wir von der Kunst in Zukunft trotz allem weiter machen können.


Unter dem originellen Titel Hoch die Hochkultur! fordert Die Zeit auf zwei vollen Seiten in ihrem Feuilleton: eben dies. Wow!

Die Wortbeiträge ziert ein großes Foto: die Ränge eines barocken Opernhauses, aufgenommen vom Orchestergraben. Es gibt sogar einen Aufmacher auf Seite 1, der heisst Lob der Hochkultur und ist auch mit einer großformatigen Aufnahme versehen: die Ränge eines anderen barocken Opernhauses vom Orchestergraben aus. Das macht alles schon mal einen sehr inspirierten Eindruck. Chapeau!

Und genau so sprühend lesen sich die Beiträge: Hochkultur ist gut, die Hochkulturszene in Deutschland ist einmalig in der Welt, Hochkultur ist gefährdet, die Hochkultur gehört verteidigt… Gähn! Fast alles davon hätte exakt so schon vor Jahrzehnten formuliert sein können. Von Fantasie der Verfasser zeugen die Ausführungen insgesamt wenig, sind jedoch geeignet, die Klischees über die Hochkultur als bildungsbürgerliches Gipfeltreffen der Langweile zu untermauern.

Was soll Hochkultur denn sein? Das, was teuer kommt? Egal, ob der Preis gerechtfertigt ist oder nicht? Egal, ob an der Mittelstufenschule nebenan Gläser in den Fenstern fehlen? Dazu sagen uns die Zeit-Autoren leider nichts.

Doch immerhin bläst Die Zeit zum Kampf gegen die kommerzielle Verrohung von Kunst und Kultur – aber es sind wieder nur die üblichen Sprechblasen. Kunst wird mit Hochkultur gleichgesetzt und heftig wird plädiert für die Subventionierung der Kunst. Aber wer bestreitet denn, ausser ein paar Banausen und einer Miniorität kurzsichtiger Volltrottel in Politik und Wirtschaft, dass die weitgehende Finanzierung der Kunst mit Steuergeldern etwas Gutes ist?! Oder dass jeder Steuereuro für Theater und Museen als 1,40 bis zu 4 EUR retour fließt in unsere ausgelaugten Staatskassen. An diesen Traumrenditen kann’s nicht liegen, dass die Hochkultur es schwer hat. (Agierte das Personal der Szene klüger und moderner, ließe sich mit der Kultur wirklich Geld verdienen, auch das für die Mittelstufenschulfenster…!)

Wieder ist eine Saison mit glänzenden Inszenierungen und Konzerten ... zu Ende gegangen, konstatiert Jens Jessen. Sicherlich, die gab es. Waren es genug? Waren es die richtigen? Das sind die Fragen! Die Theater zwischen Dortmund und Dresden sind oft leer, sie kämpfen verzweifelt um die Zuschauer. Das ist kein Fehler des Staates; es ist nur leider so, dass er zwar die Bildungschancen für alle, aber nicht den Bildungswillen aller organisieren kann, fährt Jessen fort. Die schwerblütige Feststellung zeugt von bildungsbürgerlicher, intellektueller Arroganz und impliziert neben anderem, es ginge mit der Subventionierung nur so, wie es mit ihr eben geht. Oder es ginge gar nichts. Geht es aber vielleicht doch anders?

Menschen wollen Kunst, dessen bin auch ich gewiss. Doch die Produktion, Präsentation und Kommunikation von Kunst ist in vieler Hinsicht Strukturen von vorvorvorgestern verhaftet. Sie entsprechen überhaupt nicht mehr heutigen Lebensgewohnheiten oder Rezeptionsweisen. Obendrein steckt der Dialog zwischen Kunst und Publikum noch in geradezu prädemokratischen Denkmustern und Organisationsmodellen. Die werden aber zunehmend und vielerorts in Frage gestellt von den Usern. Und wo nicht, wenden sich die Menschen ab. Doch die Verfechter der Hochkultur wollen immer weiter machen wie immer. Blind und taub für neue Zeiten ecken sie nur neuerdings, so scheint’s, ganz gern mal an mit ihren herrenreiterlichen Attitüden und Ansichten, die ihnen irgendwie cool dünken. Und mutig kontra dem beklagten Mainstream.

Klar, Hochkultur ist was Feines – wenn sie es denn ist. Der Wille zur künstlerischen Höchstleistung sollte Ziel sein. Doch Ihr Damen und Herren von der Zeit tragt gerade dazu bei, dass die beschworene Hochkultur oft nur unattraktives Mittelmaß ist, wenn Ihr Euch so gänzlich unreflektiert für die öffentliche Finanzierung von Institutionen, von verkrusteten und verkorksten Strukturen in die Bresche werft und die nicht einen Deut hinterfragt!

Wenn wir uns nämlich nicht bald trauen, für die Kunst in Ideen und Projekte, in Köpfe und Konstellationen zu investieren, flexibel und wendig, bricht uns das ganze schöne Kulturkonstrukt wie’s sprichwörtliche Kartenhaus zusammen. Und mehr Geld, wie früher, als die Widersprüche des Systems mit immer mehr Zaster zugeflastert werden konnten, wird es nicht geben. Schminkt Euch das ab!

Allerdings reflektiert Thomas Assheuer sensitiver und bemerkt: ... die Hochkultur… ist allgegenwärtig – doch ihre Wahrheit verändert die Gesellschaft nicht mehr. Sehr richtig diagnostiziert er: Die Kunst ist nicht mehr das bevorzugte Medium kollektiver Selbstverständigung. Ja – und schade eigentlich! Wo doch offensichtlich nie so viel Kunst war, wie heute. Doch, lieber Herr Jessen, müssen wir nicht nüchtern konstatieren, dass bei vielen, ja allzu vielen Theateraufführungen und Konzerten die staatlich gepamperten öffentlichen Bühnen und Podien missbraucht werden als Plattformen für irrelevanten Mist oder dumme Selbststilisierung? Die Ergebnisse sind oft bestenfalls Mittelkultur.

Ist die künstlerische Kultur womöglich – in obenflächensanierter Lifestylegestalt – wieder in behäbiger Selbstgefälligkeit angekommen, wo sie vorm Aufbruch der 1960er Jahre war? Ich kenne diese Epoche nur vom Hörensagen, aber es hat ganz so den erschreckenden Anschein, wenn die Autorin und Internetexpertin und Ingeborg-Bachmann-Hochkultur-Preisträgerin Kathrin Passig, auf den selben zwei Zeit-Seiten gerade noch etwas blubbert von Kultur sollte behandelt werden wie Nachtisch.


Ich muss an dieser Stelle einige beispielhafte Befunde aus der Fläche beisteuern, die zeigen, wie weit es her ist mit der Hochkultur!

In meinem jungen Schauspielerensemble (Mitte 20 bis 40), allesamt Absolventen renommierter Schulen und deutscher Hochschulen, engagiert an einem reinen Sprechtheater, kennt keiner eine Mozart-Oper oder hätte gar je eine auf der Bühne gesehen. Beethoven ist als Komponist bekannt, aber keins seiner Werke – zum Beispiel Eroica, Schicksalssymphonie, Freude schöner Götterfunken…, An Elise, Pathétique, Missa Solemnis – kann benannt werden, ein von mir korrekt intoniertes da-da-da-daaa ruft aufgeschlossenes Achselzucken hervor wie eine exotische Frucht auf dem Markt von Timbuktu. Waldo de los Rios’ A Song of Joy, 1970, vier Millionen verkaufte Vinyl-Singles – man kann’s ja mal versuchen!... – aber ebenso Fehlanzeige. Doch

Schiller ist ein Dichter
und wird mit Weimar in Verbindung gebracht, Kabale und Liebe war im Schauspielstudium dran.

Worum ging’s da noch?...
Kleist haben alle schon gespielt und

...da war doch gerade so ein Jubiläum!... Hundert Jahre tot?... Nee, länger – oder?
Meine wirklich guten Schauspieler, alle sehr sympathisch und engagiert für unsere Probenarbeit, kennen Cy Twombly nicht und nicht Gregory Crewdson.

Christoph Schlingensief ist berühmt geworden,
weiss mein 23-jähriger Assistent, kurz vorm Philosophie-Bachelor,

weil er den deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig machen sollte, dann aber plötzlich gestorben ist.
Und er kennt die Beatles

...das sind die mit dem Mammis-Liebling-Haarschnitten, nicht wahr?...
ob Lucy in the Sky with Diamonds oder She Loves You, Yeah, Yeah, Yeah von eben diesen Pilzköpfen (!?...) sei, die von Liverpool (?...) aus die Bürger erschreckt hätten, vermag er sich nicht zu entscheiden und fragt zurück:

Oder von den Rolling Stones? Irgendwas jedenfalls aus den 80igern!

 

Anderes Theater, ein Opernhaus: die beiden jungen Sängerinnen amüsieren sich über den Namen Elfriede Jelinek und sagen zu mir:

Nobelpreis? Du willst uns auf den Arm nehmen… Das hätte man doch gehört! 
Günter Grass?

Klar, der Nazi-Autor, der das Drehbuch zu DIE BLECHTROMMEL geschrieben hat – das fand ich aber einen ganz guten Film! Hat mein Freund neulich ausgeliehen.
Annie Leibovitz?

Die Modefotografin!
Auch… Lebenspartnerin von?

Oh Gott, keine Ahnung! Is ja wohl auch nicht so wichtig.
Susan Sontag.

Eine Frau?!...
Ja. Gestorben, Krebs. Publizistin. Against Interpretation?

Wie jetzt? - -

 

Diese Stimmen aus dem Kreise der Hochkulturträger stimmen doch recht zuversichtlich für die Hochkultur…Und nicht, dass Sie mich missverstehen: Ich kritisiere nicht die Kollegen, sondern ein System. Was wird an den Akademien eigentlich vermittelt? Welche Strukturen bewirken solche Wissenswüsten oder Wissenswuste bei ihren Protagonisten? Wo kann denn da die Hochkultur überhaupt noch ansetzen? Oder aufsetzen? Darum geht es. Und um noch mehr.

Nämlich, gehen Sie mal irgendwo auf dem Land in einen Supermarkt! Und sprechen Sie da die Leute so an:
Wo ist denn hier das nächste Museum?
Sie würden zunächst wohl erfahren, dass, die kühne Frage zwischen Joghurt-Bechern, Bierkisten und Weichspülern gestellt, nicht dazu führen wird, Sie für meschugge zu halten. Immerhin. Zweitens: Sie könnten die Antworten wohl in zwei Gruppen sortieren. Die meisten gingen so:

Weiss nicht.
Die mutmachende, kleinere Gruppe, die über eine differenzierte Begrifflichkeit verfügt, würde hingegen sagen:
Was für eins?
Geben Sie die Zusatzinfo…
Egal, irgend eins – ich habe einfach Lust auf Museum!
... hießen elaborierte Antworten in etwa:

Also, das kann ich so genau nicht sagen.
Oder schlichtweg dann auch wieder:

Weiss nicht.

 

Alle diese kargen Stellungnahmen wären irgendwie verständlich. Hätten Sie die Menschen nicht gerade mitten im Konsum gestört, der sie definiert, der sie zu sich finden lässt und sie zum Kern der Dinge sowie ihres Daseins führt?... Beim Sex unterhält man sich ja auch nicht!

Eine Modifikation der Supermarktfrage auf dem Land lautet:
Wo ist denn hier das nächste Theater?
Wieder zwei Antwortgruppen. Die eine:

Wie?

Was?


Die Mittelschichtsantwortengruppe setzt dagegen:

Gibt’s nicht.
Diese Formulierung ist insofern doppelt aufschlussreich, als sie natürlich völlig widersinnig ist und/oder schiere Gleichgültigkeit bezeugt: so lange auf diesem Planeten noch zwei Theater vorhanden sind, macht die Frage Sinn – selbst wenn die beiden Theater, was der Frager offenbar nicht weiss, gleich weit entfernt sein sollten…
Eine mögliche Antwort könnte schließlich sein:

Ach, das nächste Theater ist erst in der Stadt XY, das sind bestimmt 100 Kilometer…!
So weit ist selbstverständlich in Deutschland nirgends ein Theater weg, aber dem Antwortgeber könnte es so weit erscheinen, gewissermaßen unerreichbar für sein Kulturverständnis und seinen Kulturgebrauch. Für ein Partyweekend in Barcelona oder Berlin nimmt er längere Wege in Kauf, ja für ein bisschen in der Sonne liegen quetscht er sich stundenlang in Billigflieger… Und in jener möglichen Antwort der Gefragten, das nächste Theater sei 100 km entfernt, so träumen wir, könnte doch wohl unter Umständen ein Quäntchen Sehnsucht nach jenem verheißungsvollen Kulturtempel mitschwingen…

Doch der, der liegt inzwischen weit hinterm Mond, verehrte Damen und Herren der Zeit und der Hochkultur! Auf Eurem längst extraterristischen Planeten der Kunstseeligen. Man muss es so deutlich sagen.

Eine ebenfalls häufig gehörte Aussage ist nämlich auch:

Ach, Theater, das ist nichts für mich.

Und da ruft Ihr von der Zeit auf zur Verteidigung der Hochkultur...?!  Allein schon, dass die Hochkultur sich verteidigen muss, sollte doch den unvoreingenommen Betrachter skeptisch machen. Wer greift denn da an? Richtig: die Ignoranz, so sehen wir betroffen. Und warum? Weil wohl was schief läuft, mit der tollen Kultur und der Kunst, die doch per se verlockend und reizvoll schön sein sollte. Es aber nur noch sehr bedingt ist. Und das ist ein strukturelles Problem. Wir finanzieren, organisieren und kommunizieren Kunst und Kultur auf eine durch und durch antiquierte Weise. Und exakt damit wird aufs Spiel gesetzt, was Ihr verteidigt wissen wollt. 

Das ist die Situation! Leute, versucht’s mal mit der Realität und denkt Eure Hochkultur bitte neu! Es kann nicht bleiben, wie es ist. Dann wird es die Hochkultur bald nicht mehr geben, oder nur sehr punktuell, sehr elitär, sehr teuer – und völlig irrelevant. Also, Ihr müsst Euch bewegen! Bitte, Ihr müsst, müsst, müsst!

jetzt nicht

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