11.03.2011

Unkonventionelles Handeln anstatt radikaler Strukturveränderungen

Kommentar von Dietmar Langberg

Nicht ethnische Herkunft schließt Menschen vom Theaterbesuch aus, sondern Bildungsstatus und finanzielle Möglichkeiten. Hier sind von Seiten der Macher neue Wege gefragt. Das geht auch ohne neue Strukturen, denn diese schaden der einzigartigen Theaterlandschaft Deutschlands

Ende Januar 2011 fand in Freiburg die Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft mit der Fragestellung „Wer ist wir? Theater in der interkulturellen Gesellschaft“ statt. Auf der Homepage der Gesellschaft las ich einen kurzen Konferenzbericht und stieß darin auf Formulierungen, die fast schon gebetsmühlenartig wiederholt werden. Einige von ihnen sind nicht neu, andere haben einen technokratisch kalten Sprachgestus. Die Äußerung des Soziologen Dirk Baecker, das Theater habe nur eine Chance, wenn es sich zur „Schule der Weltkultur“ entwickle, zeugt von der Unkenntnis der Spielpläne. Sie sind eine Mischung aus Werken aus aller Welt. Theater lebt davon, und das schon immer, die Welt ins Haus zu holen. Die sprichwörtliche Redewendung von den „Brettern, die die Welt bedeuten“, war und ist keine Floskel. 

Die auf der Jahreskonferenz diskutierte Frage, „ob und welche Bevölkerungsschichten bisher ausgeschlossen werden“, ist weniger eine nach der ethnischen Herkunft als vielmehr nach dem Bildungs- und dem finanziellen Status. Wer weder von den Eltern noch von der Schule für das Theater begeistert wird, findet später kaum einen Zugang. Vielen potentiellen Theatergängern fehlt trotz etlicher Vergünstigungen seitens der Bühnen schlichtweg das Geld. Bei Menschen, die aus anderen kulturellen Verhältnissen zu uns kommen, ist es entscheidend, ob es in ihrer Heimat eine Theatertradition gibt. Man darf sich keinen Illusionen hingeben, was die Zahl möglicher Theaterbesucher angeht. Wie in der deutschen Bevölkerung dürfte sich auch von den Migranten nur eine Minderheit für das Theater interessieren. Dass immer wieder versucht werden muss, sich damit nicht abzufinden, versteht sich von selbst. Noch wichtiger erscheint mir, Kinder und Jugendliche, welcher Nationalität sie auch sind, über die „Weihnachtsmärchen-Zeit“ hinaus an das Theater zu binden. Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen versucht mit seinem Projekt „Interesse wecken – Kultur entdecken“ und mit ehrenamtlichen Kulturbotschaftern, deutlich jüngere Zuschauer zu gewinnen -nachahmenswert und ein Beweis für unkonventionelles Handeln, das ja immer eingefordert wird.


Menschen und Strukturen


Schon floskelhafte Standards sind Formulierungen wie „die eigenen Strukturen radikal in Frage zu stellen“ oder „die bestehenden Strukturen zu verflüssigen“. Ich könnte es mir leicht machen und kalauern, dass das, was flüssig ist, leicht versickern, verdampfen oder weg fließen kann, und zwar auf Nimmerwiedersehen. Aber im Ernst: Beim Nachschlagen im Fremdwörterbuch des Dudens fand ich vier Definitionen für den Begriff „Struktur“. Die „erhabene Musterung bei Textilien und Tapeten“ kann ich ebenso vernachlässigen wie die „geologische Bauform“. Aber die beiden anderen Erläuterungen sind erhellend. Es heißt da, dass Struktur die „Anordnung der Teile eines Ganzen zueinander“ ist. Und es ist die Rede von einem „Gefüge, das aus Teilen besteht, die wechselseitig voneinander abhängen“. Wechselseitig voneinander abhängen. Ist damit nicht eines der wichtigsten Wesensmerkmale von Theaterarbeit beschrieben? Und Theaterarbeit wird von hoch qualifizierten, spezialisierten und motivierten Menschen geleistet, nicht von Strukturen.

Menschen öffnen jeden Abend den Vorhang, so er denn noch benutzt wird. Sie sind trotz aller gegenteiligen Behauptungen, die auch durch Wiederholungen nicht wahr werden, flexibel und arbeiten nicht nur werktags, sondern bevorzugt an Sonn- und Feiertagen. Mit sehr unterschiedlichen Theaterformen in unterschiedlichen Spielstätten versuchen sie, den Publikumsinteressen zu entsprechen, aber auch neue zu wecken. Ein Landestheater wie z.B. das in Schleswig-Holstein, wo ich die letzten Jahre als Musikdramaturg engagiert gewesen war, spielt in 14 Orten. Die reisenden Ensembles sind schon seit Jahrzehnten unterwegs. Vielfach habe ich den Eindruck, dass bei den Debatten allein durch die Schauspielbrille gesehen wird. Im Musiktheater existieren international zusammengesetzte Ensembles bereits lange. Ich hatte in Flensburg im Solisten-, Chor- und Ballettensemble Kolleginnen und Kollegen aus China, Japan, Südkorea, aus den USA, aus Polen, Rumänien, Frankreich, Norwegen, Dänemark, Russland, Armenien, Kroatien, aus der Schweiz, den Niederlanden und aus der Türkei. Bei meiner Aufzählung vergaß ich sicher das eine oder andere Land. Ähnlich globalisiert sind die Orchester und Musiktheaterensembles in ganz Deutschland.

Woher die einzelne Kollegin, der einzelne Kollege auch kam, alle einte das Bestreben, eine gute Vorstellung zu bieten. Theaterkunst hat eine große integrative Kraft, die in den Zuschauerraum ausstrahlt. Ein Theater ist ein robuster und zugleich fragiler Organismus. Amputiert man ihn, kann er nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr leben. Das Verlangen, ihn zu beseitigen, denn das meinen doch die Rufer wie Frank Alva Buecheler nach radikal neuen Strukturen, würde die Arbeitslosigkeit für viele Menschen bedeuten. Sollen sie dann für Projekte als Minijobber auf 400-Euro-Basis beschäftigt werden? Damit wäre die heute schon in vielen Theaterberufen gängige Selbstausbeutung auf die Spitze getrieben.

Können Ensembles, die auf Zeit gebildet und von Stadt zu Stadt reisen, wirklich genauer auf die Bedürfnisse von sogenannten Zielgruppen eingehen? Würde mit diesem angeblich flexibleren Modell, das in letzter Zeit so propagiert wird, nicht eher der Weg vorwärts in die Vergangenheit eingeschlagen? Es entstünde, fürchte ich, wieder die zweifelhafte Romantik von Wanderschmieren, die durch die Staats-, Stadt- und Landestheater überwunden wurde. Und noch eines sollte die Befürworter eines neuen, im Grunde aber alten Theaters zumindest nachdenklich stimmen. Künstlerinnen und Künstler aller Genres zieht es aus aller Welt nach Deutschland. Immer wieder höre ich von ihnen, wie sie die deutsche Theaterlandschaft bewundern, wie einzigartig diese für sie ist.

Die Debatte über das Theater muss gründlicher, nachdenklicher und kenntnisreicher geführt werden. Die Vielfalt unserer Theaterlandschaft muss im Blick der Diskussion sein. Und bitte nie vergessen: Es geht um Menschen, um ihr Können, um ihre Träume von einer besseren Welt, zu der das Theater etwas beitragen kann. Davon bin nicht nur ich überzeugt, sondern z.B. auch Jessica A. Kaahwa aus Uganda. Sie hat die Botschaft zum diesjährigen Welttheatertag am 27. März geschrieben. Was sie, was viele Theaterleute aus anderen Ländern dem über 2500 Jahre alten und doch ewig jungen Theater zutrauen, sollten wir stärker in unsere Debatten einbeziehen. Vielleicht kann das mithelfen, eine narzisstische Selbstzerfleischung zu vermeiden.

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