26.05.2021

Hetzen und jagen

Von Julian Marius Plutz

Aktuelle Aufwallungen des Antisemitismus, der sich oft in Israelfeindlichkeit ausdrückt, werden in Deutschland verharmlost.

Erinnern Sie sich noch an die Jagszenen in Chemnitz? Das weltbekannte Qualitätsmedium „Antifa Zeckenbiss“ informierte Deutschland, dass Ausländer am Rande einer Demo durch die Straßen gehetzt wurden. Und ja: Die Bilder sind alles andere als ansehnlich. Man sieht zwei oder drei Männer, die einem anderen Menschen hinterherrennen. „Antifa Zeckenbiss“ beschrieb ihr Video so: „#c2608 #Sachsen. Menschenjagd in #Chemnitz Nazi-Hools sind heute zu allem fähig #FckNZS.“ Diese Zeilen empfanden Angela Merkel, respektive ihr Adlatus Steffen Seibert als so charmant, dass sie diese nicht nur übernahmen, sondern auch noch in den Plural setzten. Plötzlich handelte es sich um „Hetzjagden.“ Traumschön.

Geboren war die Legende, die letzten Endes zur Entlassung des damaligen Verfassungsschutzpräsidenten führte. Und das, obwohl die tendenziell unverdächtige Lokalpresse, die im Gegensatz zu Merkel und Seibert vor Ort waren, Hans-Georg Maaßens Aussage unterstützte. Manchmal ist die Wahrheit einfach nicht gut genug und wer sie ausspricht, die unangenehme Wahrheit, der wird zum Problemfall. Wie Bruno der Bär zum Problembär wurde. Der musste dann auch weg.

Über Wochen debattierte man über dieses eine Video und diese eine Demonstration. Betroffenheitstrunkende Politikerdarsteller und bedeutungsschwangere Journalistenspieler übertrafen sich mit moralin-gedopten Worthülsen. Hätte man es nicht besser gewusst, würde man meinen, die Machtergreifung der Nazis stehe bevor. Und die Speerspitze der investigativen Medien, „Antifa Zeckenbiss“ – wer kennt sie nicht –, war mitten im Geschehen.

Seit Tag 1, an dem sich Israel gegen Angriffe von Terroristen wehrte, gehen Menschen weltweit auf die Straße und demonstrieren gegen das Selbstverteidigungsrecht eines Landes. Auch hierzu gibt es ein Video, das allerdings nicht, wie das von „Antifa Zeckenbiss“, in zahllosen Medien, bis hin zur Tagesschau, vorkam. Es löst auch keine Empörung bei Angela Merkel aus oder regt eine ehrliche und echte Debatte über Antisemitismus an. Es regt sich rein gar nix, außer, dass der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh ein Strohmann-Argument baut, dass es nur so knistert: „Antisemitismus ist also ein importiertes Problem? In einem Land, zu dessen Staatsräson das Gedenken an die Shoa gehört? Mit einem ehem. Verfassungschef, der antisemitischen. Verschwörungsmythen verbreitet? Mit Coronaleugnern, die sich auf Demos mit Judenstern zur Schau stellen? Achso.“

„Eine einzige Fahne mit einem Davidstern schien die Demonstranten so zu provozieren, dass sie aggressiv wurden und dieser mutigen Person hinterherhetzten.“

Davon abgesehen, dass Lindh die dreiste Lüge von Luisa Neubauer fortsetzt, Maaßen sei antisemitisch, und noch mehr davon abgesehen, dass mir schleierhaft ist, was Coronademos damit zu tun haben: Antisemitismus ist kein reines importiertes Problem. Das hat aber auch niemand behauptet. Jedoch verstärkt der importierte den bereits bestehenden Judenhass. Das ist überhaupt kein Geheimnis und leuchtet auch jedem ein, der das Thema ohne politisch korrekte Scheuklappen betrachtet. Doch diese Denkleistung mag den geistigen Kleinsparer aus Wuppertal zu überfordern. Lieber versucht Lindh mit fadenscheinigen Strafanzeigen seine Kritiker einzuschüchtern.

An den Reaktionen auf den Konflikt zeigt sich die klare, israelfeindliche Haltung. So solidarisierte sich unter anderem Manchester-United-Spieler Paul Pogba mit den Angriffen auf israelische Zivilisten. Anders kann ich diese Aktion nicht deuten. Es ist offensichtlich kein Problem, für die Ziele der Hamas zu stehen. Man bekommt es jedoch mit Problemen zu tun, wenn man für den Judenstaat Partei ergreift, wie in dem besagten Video:

Eine Person schwenkt am Rande einer solchen Anti-Israel-Veranstaltung eine Israelfahne. Als die Demonstranten dies bemerkten, rannten in wenigen Sekunden einige Teilnehmer auf die Person zu und verfolgten sie durch die Gassen von Basel. Eine einzige Fahne mit einem Davidstern schien die Demonstranten so zu provozieren, dass sie aggressiv wurden und dieser mutigen Person hinterherhetzten.

Tag ein, Tag aus eskalieren solche Demonstrationen. Manche Teilnehmer scheinen ihren letzten Rest Anstand und Pietät abgelegt zu haben. Sie grölen: „Jude, Jude, feiges Schwein – komm heraus und kämpf allein.“ Sie verbrennen Israelflaggen. Sie beschimpfen Journalisten als „Scheiß Jude“. Die Stimmung ist aggressiv und der Täter ist klar definiert: Der Jud‘ ist schuld. Wer auch sonst? Ich kann Ihnen kaum beschreiben, wie wütend und traurig mich das macht. Ich bin mir sicher, dass der einzige Grund, warum diese Menschen mit ihrer Menschenfeindlichkeit auf die Straße gehen, ist, dass Hitler seinen Job nicht zu Ende brachte. Ich meine das völlig ernst. Offensichtlich haben zu viele Juden den Holocaust überlebt. Das scheint den Hamas-Freunden aus Europa ein Dorn im Auge zu sein.

„Wer ein einzelnes Video von ‚Antifa Zeckenbiss‘ zum Anlass nimmt, unliebsame Menschen loszuwerden, versteht rein gar nichts.“

Deutsche Medien und deutsche Politik sind kaputt. Berlins Innensenator nennt die Demonstranten „erlebnisorientiert“. Nach dieser Argumentation wäre der Holocaust eine Art Volksfest gewesen. Sein Genosse und Bundesvorsitzender Norbert Walter-Borjans fordert aufgrund von U-Bootlieferungen an Israel ein Mitspracherecht, um „Verhandlungen zu führen“ und „sich einer Zwei-Staaten-Lösung zu öffnen“. Die Partei, die einst Standards in Ehre und Moral setzte, als August Bebel, Friedrich Ebert oder Helmut Schmidt noch in Amt und Würden waren, zerlegt sich im Stundentakt.

Was ist los mit euch? Ich kenne zwar ein paar SPD-Mitglieder, vernünftige Leute, Freunde, Familie. Doch darüber scheint sich keiner großartig zu beschweren. Ich kann das nicht nachvollziehen. Ist euch Israel wirklich so egal? Wisst ihr nicht, weshalb das Land gegründet wurde? Wenn sich Juden auf deutschen Straßen nicht sicher fühlen und der Staat, den Juden als Sicherheitsgarant zur Verfügung steht, angegriffen wird und die Politik dazu nichts zu sagen hat, dann hat sie jedwede moralische Legitimation verloren. Ethisches Schachmatt, emotionales Schneider-frei.

Wer die Gewaltdemos gegen Israel nicht skandalisiert, versteht es nicht. Wer glaubt, die Angriffe von Hamas und die Interventionen von Israel gleichsetzen zu müssen, versteht es nicht. Und wer ein einzelnes Video von „Antifa Zeckenbiss“ zum Anlass nimmt, unliebsame Menschen loszuwerden, versteht rein gar nichts. Die Debatte ist längst vergiftet und zerstört. Wenn das Opfer nicht ins Weltbild passt, sind die Opfer im Weg. Wenn sich Juden wehren und Israel verteidigen, sind sie fehl am Platz. Da kann schon mal eine einzige Israelflagge zum Problem werden.

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!