13.03.2020

Griechische Inseln als Filter

Von Menelaos Tzafalias

Titelbild

Foto: Aleksandr Zykov via Flickr (CC BY-SA 2.0 / bearbeitet)

Das EU-Türkei-Abkommen zur Zurückdrängung der Migration steht aktuell wieder zur Diskussion. Zur griechischen Situation ein Beitrag von 2019 aus dem Band „Grenzen und Spaltungen“ (Edition Novo).

Am Sonntag, dem 29. September 2019, an einem sonnigen Nachmittag, verbrannte eine Frau, und die ganze Welt wurde Zeuge des daraufhin einsetzenden Entsetzens und des Chaos. Zwei aufeinander folgende Brände waren in dem von der EU anerkannten und von Griechenland verwalteten Aufnahme- und Identifikationszentrum für Migranten und Flüchtlinge in Moria ausgebrochen, das sich auf der ansonsten so idyllischen Insel Lesbos befindet – dem eigentlichen und metaphorischen Rand Europas in der nordöstlichen Ägäis. Zahlreiche Personen wurden bei dem Brand und der in seiner Folge ausgebrochenen Panik verletzt. Berichte über einen zweiten Tod, den eines Kindes, der zunächst von lokalen Vertretern der UN-Flüchtlingsorganisation (UNHCR) bestätigt worden war, erwiesen sich als unwahr.

Angesichts der schlechten Lebensbedingungen in einem Lager, das für 3000 Menschen ausgelegt ist, aber zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Beitrags 13.000 Menschen beherbergte, war jeder bereit, das Schlimmste anzunehmen. Etwas mehr als einen Monat vor den Bränden hatte ein unbegleiteter, 15-jähriger afghanischer Junge in einem Wutanfall einen minderjährigen Landsmann erstochen und einen weiteren schwer verletzt. Diese Jungen gehörten zu den 600 unbegleiteten Minderjährigen, die in Einrichtungen leben, die eigentlich nur für 160 Personen ausgelegt waren. Das Ganze geschah wiederum innerhalb der Grenzen von Moria, wo es noch weitere, sinnlose, vermeidbare Todesfälle gab, die direkt mit den Bedingungen in und um das Lager herum zusammenhängen. Ein permanent explosiver Cocktail aus Angst und Verzweiflung durchdringt das, was man zynisch als Ort des Schutzes und der Menschenrechte bezeichnet.

Je nachdem, wen man fragte, wem man glauben wollte oder sogar, an welchem Ort und zu welcher Zeit man sich an diesem Nachmittag befand, erhielt man eine andere Erklärung für die Tragödie. Den einen zufolge waren die Ausschreitungen, die nach dem Feuer ausbrachen, eine Reaktion auf die Polizei, die versucht hatte, Migranten und Flüchtlinge zurückzudrängen. Dann wiederum hörte man, manche Flüchtlinge hätten auch versucht, inhaftierte Personen freizulassen, die wegen kriminellen oder aggressiven Verhaltens in einem speziellen Teil des Lagers festgehalten worden waren. Andere erzählten, die Ausschreitungen seien eine spontane menschliche Reaktion gewesen, die aus einem allgemeinen Gefühl der Ungerechtigkeit resultierte und von der Polizei verschlimmert wurde. Wie auch immer: Auf jeden Fall wurden zwei Feuerwehrfahrzeuge zerstört und die Feuerwehr zunächst an ihrer Arbeit gehindert, während sich die massiven weißen Tränengaswolken des Polizeieinsatzes mit den schwarzen Dämpfen des Feuers vermischten.

Griechische Zustände

In Moria gibt es diejenigen, die in speziell entworfenen Containern leben, und andere, die das Beste aus zugigen Zelten machen. Einige warten stundenlang in der Warteschlange auf schlechte Mahlzeiten, andere können es sich leisten, in einem Netz von improvisierten oder konventionellen Verkaufsständen und Märkten einzukaufen. Es gibt sogar Orte auf der Insel, die echte Unterstützung und Gastfreundschaft bieten. Um jedoch einen Aufenthalt in Europa ohne Angst vor einer zukünftigen Abschiebung zu sichern, steht es niemandem frei, Lesbos vor der ordnungsgemäßen Überprüfung seiner Papiere zu verlassen. So schreibt es das EU-Türkei-Abkommen vom 18. März 2016 vor 1, mit dem es gelungen ist, die Migrationsströme aus der Türkei auf die griechischen Inseln und durch den so genannten Balkankorridor in die reicheren Länder Nordeuropas zu stoppen.

Man kann die moralischen Parameter dieses Abkommens mit der Türkei von Recep Tayyip Erdoğan kritisieren. Es ist ein Abkommen, das offiziell nicht einmal als solches bezeichnet wird und somit an sich schon einen Ausdruck ethischer – sowie möglicherweise sogar rechtlicher – Intransparenz darstellt. Aber die Zahl der Migranten ging zurück. So kamen laut UNHCR im Zeitraum von 2015 bis Anfang 2016 mehr als eine Million Flüchtlinge oder Migranten nach Griechenland. 2 Etwa die Hälfte von ihnen landete auf Lesbos. Heutige Schätzungen liegen deutlich niedriger und im unteren Zehntausendender-Bereich 3 – eine Tatsache, die von der EU im März dieses Jahres als „Game Changer“ (Spielveränderung) gefeiert wurde. 4

Neben Lesbos fungieren vier weitere griechische Inseln an der türkischen Grenze als Filter für die EU-Türkei-Vereinbarung: Chios, Samos, Kos und Leros. Ironischerweise, oder vielleicht ehrlicherweise, trägt die Website der griechischen Regierung, die Informationen zu diesem Thema anbietet, die Bezeichnung „Infokrise“. 5

Der langwierige Prozess der Aufnahme und Identifizierung (und möglichen anschließenden Abschiebung) umfasst Interviews und Asylantragsbewertungen, die von einigen Monaten bis zu einigen Jahren dauern. Wie Lesbos sind auch die Aufnahmestellen auf Samos und Chios überlastet. Viele der ursprünglichen Bewohner dieser Inseln fühlen sich nicht mehr in der Lage, wirkliches Mitleid zu zeigen. Mancherorts ist das ursprüngliche Mitleid sogar in Ressentiments und Revolten umgeschlagen. Es ist schwer, damit zu leben, dass sich die ganze Last der „anderen“ Welt, die in so hohem Maße aus Armut, Krieg und Tod besteht, vor einem ausbreitet. Zu dem Elend gehören auch die Hunderte von Menschen, die bei der Überquerung des Meeres ertrunken sind. 6 Gleichzeitig sind die Einnahmen aus dem Tourismus auf diesen Inseln deutlich zurückgegangen, während 2019 ein Rekordjahr für diese andere Art von ausländischen Besuchern war.

Viele Griechen, wahrscheinlich genau wie Italiener und Spanier, haben das Gefühl, dass sie mit der Bewältigung des Problems in Europa ziemlich allein gelassen wurden. Sie sind keineswegs überzeugt von den Rufen nach Solidarität – und noch weniger von den Rufen nach offenen Grenzen, die zunächst nur ihre eigenen betreffen würden und nicht die anderer EU-Mitgliedstaaten. Trotz finanzieller Hilfen in Milliardenhöhe sowie technischer Unterstützung durch EU-Institutionen und andere Mitgliedstaaten, wie sie im EU-Bericht vom Juli 2019 7 angekündigt wurden, haben die Griechen ebenso wie die Italiener und Spanier den Eindruck, dass ihre nördlichen Nachbarn sich nicht ernsthaft kümmern.

So ereignete sich am selben Sonntag des Schreckens von Moria ein weiterer tragischer Tod, diesmal 22 Kilometer östlich von Griechenlands zweitgrößter Stadt, Thessaloniki. Auch dieser Tod war ein Ergebnis des Zufalls und stand im Zusammenhang mit der Migrationskrise. Ein 64-jähriger Mann wurde am Steuer seines Autos getötet, nachdem es von einem Transporter gerammt wurde, der über eine rote Ampel gefahren war und in dem zwölf afghanische Migranten versteckt waren. Einige der Afghanen wurden im Kofferraum des Autos gefunden. Die örtliche Polizei verhaftete den 25-jährigen moldawischen Fahrer, der angeblich ein Schlepper war. 8 Zeugen vor Ort luden Bilder und Videos auf Social-Media-Plattformen hoch, aber die Reaktion, selbst auf nationaler Ebene, war, im Vergleich zu dem, was auf Lesbos geschah, nur minimal. Keine NGO-Vertreter schrien und es gab keine langen Leitartikel in den internationalen Medien.

Tatsächlich wächst im Land auch die Sorge darüber, dass sich die Situation wieder verschlimmert. Im vergangenen Jahr, und vor allem seit Juli, verzeichnete Griechenland einen erneuten Anstieg der Zuwanderung. Nach Angaben des UNHCR trafen in Griechenland in diesem Zeitraum 45.600 von 77.400 Migranten ein, die den Mittelmeerraum überquert hatten. Das waren mehr Menschen, als in Spanien, Italien, Malta und Zypern zusammen ankamen.

Neue Regierung – alte Politik?

Die neue konservative Regierung der Nea Dimokratia, die jetzt an der Macht ist, nutzt die durch eine objektiv besorgniserregende Entwicklung hervorgerufene Unsicherheit für ihre Zwecke: Zur Migration nimmt sie eine ganz andere Haltung ein als die nominell linke und angeblich migrantenfreundliche Syriza-Regierung, die sie im Juli ersetzte. Die Schockwellen der Moria-Tragödie ausnutzend, kündigte die neue Regierung eine Reihe von Maßnahmen an. Darunter die rasche Abschiebung von Migranten, die innerhalb von sechs Monaten nach ihrer Ankunft in Griechenland keinen Asylantrag gestellt haben. Sie schlägt vor, die Menschen, die sie als „illegale Einwanderer“ definiert, bis zu ihrer Abfertigung in sicheren Einrichtungen festzuhalten, anstatt sie in offenen Lagern aufzunehmen, wie es jetzt die Regel ist.

Es wird auch gefordert, alle Regionen Griechenlands an der Aufnahme von Migranten zu beteiligen. Entwicklungs- und Investitionsminister Adonis Georgiadis, ein rechtsgerichteter Populist, sagte am 1. Oktober gegenüber Ant1 TV, dass es den beiden aufeinanderfolgenden Regierungen von Alexis Tsipras seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2015 nur gelungen sei, 1837 Migranten abzuschieben. Dagegen wolle die Regierung der Nea Dimokratia bis Ende 2020 10.000 Migranten abschieben. Er beschrieb auch den aktuellen Anstieg der Ankünfte als „Problem der illegalen Migration“ und vermied das Wort Flüchtling. Die meisten Neuankömmlinge, so seine Aussage, kämen ohnehin nicht aus Syrien, wie dies während des Höhepunkts der Einwanderung zwischen 2015 und März 2016 der Fall war.

Es gab sogar Mitglieder des griechischen Parlaments, wie den neu gewählten ehemaligen Fernsehjournalisten Konstantinos Bogdanos, der in seinen Mitteilungen in den sozialen Medien unterstellte, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hinter dem jüngsten Anstieg der Ankünfte stehe. Er betonte, dass der Umgang mit Migration eine Frage der nationalen Sicherheit sei. 9 Bogdanos deutete sogar an, dass Erdoğan vielleicht etwas mit den Vorfällen in Moria zu tun habe. Seine Mitteilungen wurden später gelöscht, jedoch nicht, bevor es einigen seiner politischen Gegner und wachsamen Journalisten gelungen war, den umstrittenen Post zu überprüfen. 10 Dies zeigt, dass die Polarisierung in der Migrationsfrage eine Tatsache ist. Es bleibt abzuwarten, ob sich der Riss, der durch die Gesellschaft geht, auf einen kleinlichen Parteienkrieg und/oder einen Social-Media-Wettkampf beschränken wird – oder ob er tiefere, ungeahnte soziale Folgen haben wird.

„Alles bleibt Teil eines von der EU geführten Trends zur wachsenden Militarisierung der europäischen Grenzen.“

Obwohl qualitative Unterschiede zwischen der Haltung der scheidenden Syriza-Regierung und der amtierenden Nea-Dimokratia-Regierung bestehen, unterscheidet sich der Kern der neuen Politik nicht wesentlich von dem, was vor den Wahlen praktiziert wurde. Alles bleibt Teil eines von der EU geführten Trends zur wachsenden Militarisierung der europäischen Grenzen. Die Mischung der fragwürdigen Politik der EU und der Mitgliedstaaten beschränkt sich nicht auf das europäische Territorium, sondern wird schon längst auch in den entlegenen Gebieten der Subsahara und Ostafrikas umgesetzt. Griechenland tut einfach nur das, was von ihm erwartet wird. Es ist schließlich ein Teil des Teams Europa! Würde sich in Griechenland Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik regen, gebe es keine Partei, die ihn im positiven Sinne aufgreifen und repräsentieren könnte. Viele glauben, dass es ohnehin wenig Sinn hat, an das Parlament zu appellieren, um etwas zu ändern. Ähnlich wie nach dem Anti-Bailout-Referendum von 2015, bei dem der Wille der Mehrheit einfach ignoriert wurde, sehen sie auch in dieser Frage wenig demokratische Einflussmöglichkeit.

Gleichzeitig sind aber auch einige positive Entwicklungen zu verzeichnen. Die Schwere der Migrationskrise und die Notwendigkeit, in Rekordzeiten Lösungen zu finden, haben zahlreiche Normalbürger dazu inspiriert, sich zu engagieren. Viele handeln unter zum Teil widrigen Bedingungen und müssen gegen eine sklerotische Bürokratie ankämpfen. Es gibt Dutzende, Hunderte von Kadern der griechischen öffentlichen Verwaltung und NGO-Manager, die angesichts der Einschränkungen, Unentschlossenheit oder Inkompetenz ihrer politischen Chefs eine neue Freiheit im Umgang mit den wiederkehrenden Krisen gefunden haben. Ja, einige arbeiten für erbärmliche Gehälter und immer wieder am Rande der Erschöpfung. Aber sie geben nicht auf. Es gibt auch stärkere Bindungen und einen Austausch von Ideen zwischen Griechen, Italienern und Spaniern – nicht zuletzt aufgrund des EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen) –, was zu einem verbesserten Vorgehen im gesamten Mittelmeerraum führt.

Hoffen wir also, dass Lesbos in den kommenden Jahren wieder eher als der Geburtsort der altgriechischen Dichterin Sappho bekannt ist – und als Hauptproduzent des weltberühmten griechischen Ouzo –, und nicht mehr eine der wichtigsten Bühnen der anhaltenden Migrationskrise Europas sein muss.

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