10.02.2014

Anders krank durch Prävention

Von Walter Krämer

Ist Vorbeugung besser als heilen? Der Statistikexperte Walter Krämer erklärt, warum mehr Prävention im Kampf gegen die Krankheiten unserer Zeit nicht mehr Nutzen bringt, auch wenn sie bei früheren Plagen durchaus effizient war. Heute geht es aber vor allem um medizinischen Paternalismus

In Deutschland geben wir pro Jahr weit mehr als zehn Mal so viel Geld für die Behandlung wie für die Verhinderung von Krankheiten aus. Das geht aus der nachstehenden Tabelle hervor. Viele sehen darin ein Missverhältnis. Ich zitiere einen bekannten deutschen Sozialmediziner: „Richtige Lebensweise, verantwortungsbewusste Lebensführung und Einhaltung natürlicher Ordnungen würden mit einem Schlag die Situation im Gesundheitswesen grundlegend ändern und die Kosten auf ein erträgliches Maß absenken.“ Denn Vorbeugen ist doch besser als Heilen. Kann es eine offensichtlichere Wahrheit geben? Zumindest in diesem Punkt stimmen die meisten Beobachter unseres Gesundheitswesens ungeachtet aller sonstigen Differenzen offenbar überein: Einen Schaden gar nicht erst entstehen zu lassen, ist doch besser und billiger als jede Reparatur.
 

Gesundheitsschutz und Prävention 11,1
Ärztliche und pflegerische Behandlungsleistungen 152,5
Unterkunft/Verpflegung 20,8
Arzneien, Heil und Hilfsmittel 79,3
Krankentransporte 5,3
Verwaltungsausgaben 15,2
Investitionen 9,7
Insgesamt 293,9

Gesundheitsausgaben Deutschland 2011 nach Leistungsarten (Milliarden Euro) (Quelle: Statistisches Bundesamt)


Fast folgerichtig vergeht auch keine Legislaturperiode unseres Bundestages, in der nicht ein maßgeblicher Politiker die Forderung nach mehr Prävention erhebt. Der vorläufig letzte war ausgerechnet ein Liberaler, der ehemalige Gesundheitsminister der schwarz-gelben Koalition, Daniel Bahr; im Sommer 2013 hat das von ihm verantwortete „Präventionsförderungsgesetz“ den Bundestag passiert. „Die Sollausgaben der Krankenkassen für die Gesundheitsförderungs- und Präventionsleistungen steigen ab 2014 von derzeit etwa 205 Mio. Euro auf fast 500 Mio. Euro“, ist auf der Webseite des Gesundheitsministeriums zu lesen. „Dies ist der bislang weitreichendste Ansatz, die Chancen der Menschen zu stärken, in allen Lebensphasen gesund zu sein und gesund zu bleiben. Kitas, Schulen, Seniorenheime, Betriebe oder etwa Sportvereine in den Ländern und den Kommunen sollen künftig von den Krankenkassen und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Unterstützung erhalten. Gemeinsam mit den Ländern sollen die Krankenkassen gesundheitsförderliche Konzepte entwickeln. Dafür stehen von den Krankenkassen Mittel in Höhe von mindestens 280 Mio. Euro bereit. Das ist viermal mehr als heute.“ Applaus, Applaus!

„If you give up drinking, smoking and sex, you don’t live longer. It just seems like it.“

Aber wie immer ist, wenn alle applaudieren, ganz besondere Vorsicht angezeigt. Das gilt auch hier. Der Grund für meine Skepsis ist ebenso trivial wie unangenehm. In einem englischen Andenkenladen habe ich dazu einmal einen Aufkleber mit folgendem Spruch gesehen: „If you give up drinking, smoking and sex, you don’t live longer. It just seems like it.“ Eigentlich ist das natürlich falsch, denn Nichtraucher leben nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv länger als andere. Trotzdem enthält die Aussage aber ein Quäntchen Wahrheit. Denn auch Nichtraucher müssen sterben, genau wie Müsli-Freunde oder Anti-Alkoholiker. Und eine per Prävention verhinderte Krankheit macht uns leider nicht unsterblich, auch wenn viele Präventionsfreunde das offenbar glauben, sondern in erster Linie macht sie doch nur Platz für eine andere.

Letztlich liegt die Sterblichkeitsrate immer bei 100 Prozent, da kann die Medizin machen, was sie will. Vielleicht erinnert sich noch der eine oder andere Leser an eine großangelegte Präventionskampagne in den nordbadischen Städten Wiesloch und Eberbach, die Anfang der 1980er Jahre in der deutschen Presse für Furore sorgte. Ich zitiere aus der FAZ: „Von der fünften Klasse an erlernen Schüler die selbständige Blutdruckkontrolle, Arbeitsgruppen befassen sich mit Diät, gesundem Frühstück und Pausenbrot, Ärzte unterrichten sogenannte Risikopatienten im Wartezimmer.“ Ganz ähnlich schrieb die Hamburger Zeit: „Die heute in Wiesloch und Eberstadt verkaufte Wurst enthält zum Beispiel 25 Prozent weniger Salz als früher. Der Fettgehalt der Wurst wurde auf sechs bis acht Prozent verringert. Selbst Mayonnaise enthält nicht mehr 80 Prozent Fett, wie üblich, sondern lediglich 25 Prozent. [...] Metzgermeister (!) klären Hausfrauen in Arztpraxen über ernährungsphysiologisch richtige Speisenzubereitung auf, Hoteliers setzen Gerichte mit Kalorienangabe auf die Speisekarte, Bäcker bieten salzreduzierte und ballaststoffreiche Brotsorten an“, usw. – eine ganze Stadt beugt vor. Nun, ich war 10 Jahre später in Wiesloch zu Besuch, und habe die folgende Seite aus der dortigen Lokalzeitung für meine Unterlagen kopiert:



Offenbar sterben die Menschen in Wiesloch nach wie vor, und sterben sie nicht an Krebs A, dann an Krebs B, und sterben sie nicht an Krebs, dann an Alzheimer und Herzinfarkt, und damit bin ich auch schon bei den Kosten angelangt. Ob nämlich die erfolgreiche Prävention einer bestimmten Krankheit das Gesundheitsbudget als Ganzes entlastet oder nicht, hängt offenbar entscheidend davon ab, was billiger ist: die verhinderte Krankheit oder die, die man stattdessen bekommt. Das kann man nicht am grünen Tisch entscheiden, aber ich kenne hier einige sehr seriöse Modellrechnungen, die bezüglich des rein ökonomischen Nutzens von noch mehr Prävention zu eher skeptischen Ergebnissen gelangen.

„Ob die Prävention einer Krankheit das Gesundheitsbudget entlastet oder nicht, hängt davon ab, was billiger ist: die verhinderte Krankheit oder die, die man stattdessen bekommt.“

Am bekanntesten ist die berühmte Untersuchung von Leu und Schaub von der Universität Basel zum Thema Rauchen und Gesundheitskosten in der Schweiz. Unter anderem kamen die Autoren darin zu dem Resultat, dass die Schweiz langfristig eher mehr statt weniger für die Gesundheit ausgeben müsste, wenn es dort seit hundert Jahren keine Raucher gäbe. So paradox das auf den ersten Blick auch klingt – das Gesundheitswesen würde durch ein totales Rauchverbot nicht billiger, sondern langfristig nur noch teurer (weil nämlich die Kosten, die in den Extra-Lebensjahren des Nichtrauchers entstehen, die vorher gesparten Ausgaben mehr als aufwiegen). Wenn man also ernst nimmt, was man immer wieder zu Bonus-Malus beim Krankenkassenbeitrag liest, müssten Raucher keinen Malus, sondern einen Bonus auf ihren Beitrag eingeräumt erhalten.

Das war also das erste Argument dafür, dass die Verschiebung des Schwerpunkts der Gesundheitspolitik in Richtung Prävention bei der aktuellen Krise des Gesundheitswesens weit weniger hilfreich sein wird als viele glauben. Ein weiteres besteht darin, dass man den Gesamteffekt und den Extraeffekt auseinanderhalten muss. Man kann nämlich durchaus die These vertreten, Prävention sei an sich auch unter Kostenaspekten eine gute Sache, aber dennoch Zweifel daran haben, dass noch mehr Prävention den Nutzen weiter steigert.

Die Betonung liegt dabei auf „mehr“. Das ist keine sprachliche Haarspalterei, sondern ein ganz zentraler Punkt. Man kann den Nutzen von mehr Prävention durchaus bezweifeln, ohne den Gesamtnutzen aller Prävention insgesamt in Frage zu stellen. Ein ersatzloser Wegfall etwa von Schutzimpfungen und öffentlicher Hygiene wäre medizinisch wie auch ökonomisch ein Desaster. Binnen weniger Jahre würden wir wieder wie unsere Vorfahren von Tbc und Typhus, Kinderlähmung, Pocken oder Cholera hinweggerafft, und die Bekämpfung dieser Seuchen wäre im Vergleich zum eingesparten Vorsorgeaufwand vermutlich auch noch sehr viel teurer. Ohne Zweifel sind daher die Mittel gegen diese Seuchen auch ökonomisch, also sozusagen veterinärmedizinisch, bestens angelegt, von den gewonnenen Lebensjahren ganz zu schweigen – wir können auch sagen, dass dem Aufwand ein hoher Nutzen gegenübersteht.

Das bedeutet aber nicht, dass eine Verdoppelung des Aufwands auch den Nutzen verdoppelt. Der zusätzliche Ertrag (der „Grenzertrag“ im Fachjargon der Ökonomen) nimmt vielmehr mit steigendem Aufwand ab. Jeder Extra-Euro für Prävention spart immer weniger Behandlungskosten und trotzt dem Tod zusehends weniger Lebensjahre ab. Nach den leichten Siegen über die akuten Killerkrankheiten der Vergangenheit steht die Medizin heute weit hartnäckigeren Feinden gegenüber – etwa den viel schwerer oder gar nicht aufzuhaltenden chronisch-degenerativen Krankheiten. Die heutigen Feldzüge sind nur mit einem weit höheren Aufwand an Geld und Material zu gewinnen. Siege werden, falls überhaupt, immer mühsamer erkämpft und der Triumph über die eine Menschheitsgeißel macht in der Regel nur noch Platz für eine andere.

„Eine Verdoppelung unserer Lebenserwartung, von 70 bis 80 auf 140 bis 160 Jahre, ist wegen unserer biologischen Altersgrenze von rund 120 Jahren völlig ausgeschlossen.“

Obwohl also nicht zur Debatte steht, dass die Präventionsmaßnahmen, die dazu beigetragen haben, unsere Lebensspanne seit Anfang des letzten Jahrhunderts von knapp 40 auf heute fast 80 Jahre zu verdoppeln segensreich waren: Die Wirkung zusätzlicher Präventionsmaßnahmen ist viel weniger klar – eine weitere Verdoppelung unserer Lebenserwartung, von 70 bis 80 auf 140 bis 160 Jahre, ist wegen unserer biologischen und wohl auch in Zukunft gültigen Altersgrenze von rund 120 Jahren völlig ausgeschlossen.

Dieser abnehmende medizinische Nutzen jedes weiteren Euros für noch mehr Prävention führt dazu, dass viele Heilerfolge inzwischen sogar preiswerter durch Therapie als durch Prävention erreicht werden können. In den USA z.B. hat man einmal die Kosten pro Extra-Lebensjahr bei verschiedenen Maßnahmen gegen Herzinfarkt berechnet, mit folgendem Ergebnis: Kardiologische Intensivstation 5.000 Dollar, Notarztwagen 7.000 Dollar, Angiographie mit eventueller Bypass-Operation 14.000 Dollar, vorbeugende Bluthochdruck-Behandlung 20.000 Dollar, Belastungstests von asymptomatischen Patienten mit anschließendem Szintigramm 39.000 Dollar – Vorbeugen ist hier nicht billiger sondern erheblich teurer als Heilen. Es werden nämlich unzählige Menschen geimpft, mit blutdrucksenkenden Medikamenten behandelt oder durch Vorsorgeprogramme aller Art geschleust, die die Krankheit ohnehin nie bekommen hätten. Was diese Leute betrifft, so ist das Geld für die Prävention also gewissermaßen zum Fenster hinausgeworfen. Bei akuten Fällen dagegen wird der Aufwand wirklich nur dort betrieben, wo er wirklich nötig ist. Wenn auch die Behandlung akuter Fälle pro Patient in der Regel teurer ist als Vorbeugung, so ist doch die Fallzahl und oft allein schon deshalb auch der Gesamtaufwand der Therapie erheblich kleiner – das zeigt sich etwa am Beispiel der Bekämpfung von Masern.

„Wer allzu viel an seine Gesundheit denkt, vertauscht diese nur gegen eine äußerst langweilige Krankheit.“

Und dann ist Prävention an sich ja auch nicht ungefährlich. Nicht umsonst ist man vielerorts etwa von Schutzimpfungen gegen Keuchhusten wieder abgekommen, und neuerdings raten Ärzte bei Reisen in gewisse Tropenländer sogar von der Vorbeugung gegen Malaria ab. Andere Vorsorgemaßnahmen sind, wenn nicht gefährlich, so doch zumindest unbequem (Diät), mindern die Lebensfreude (Verzicht auf Alkohol und Nikotin), sind mit lästigen Nebenwirkungen behaftet, wie viele Medikamente zur Senkung des Bluthochdrucks, oder vergällen nur das weitere Leben, ohne den Verlauf der Krankheit wesentlich zu bremsen, wie oft die Früherkennung gegen Krebs. Oder um den französischen Literaten Francois de La Rochefoucauld zu zitieren: „Wer allzu viel an seine Gesundheit denkt, vertauscht diese nur gegen eine äußerst langweilige Krankheit.“

Das Stichwort Früherkennung leitet über zu einer weiteren, oft dramatisch unterschätzten Nebenwirkung bestimmter Präventionsmaßnahmen, vor allem solcher der Sekundärprävention, nämlich der Diagnose „falsch positiv“. Mein Berliner Kollege Gerd Gigerenzer hat einmal eine Stichprobe von Frauenärzten gefragt: Mit welcher Wahrscheinlichkeit hat eine Frau mit positivem Mammographiebescheid tatsächlich Krebs?

Die korrekte Antwort wäre zunächst einmal: Es kommt drauf an. Und zwar darauf, wie viele Frauen insgesamt an Brustkrebs leiden, wie sicher der Test eine solche Erkrankung erkennt, und wie oft der Test zu Unrecht anschlägt. Angenommen also, ein Prozent aller untersuchten Frauen haben tatsächlich Brustkrebs, der Test entdeckt davon 80 Prozent (das heißt auch „Spezifizität“), und bei 10 Prozent aller gesunden Frauen gibt es Fehlalarm. Wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit positiver Mammographie tatsächlich Brustkrebs hat? Antwort: rund 8 Prozent.

Die meisten Ärzte schätzen die Wahrscheinlichkeit viel höher. Sie sehen Brustkrebs, wo gar keiner ist, und auch das hat Folgen für die Gesundheit, die man nicht unterschätzen sollte. Gerd Gigerenzer hält die gesundheitsschädlichen Folgen falsch positiver Diagnosen sogar für gefährlicher als die Konsequenzen übersehener Erkrankungen und tritt dafür ein, die Massenuntersuchungen auf Brustkrebs bei Frauen republikweit einzustellen.

„Es fehlt nur noch der TÜV-Stempel auf dem Hinterteil und ehe wir bis drei zählen, haben wir den totalen medizinischen Überwachungsstaat.“

Und dann gibt es noch einen letzten Anlass zur Skepsis. Der hat mit meiner liberalen Weltanschauung zu tun. Denn meine wichtigsten Bedenken betreffen weniger das Ob, sondern mehr das Wie der Prävention. Prävention verlangt nämlich nach Zwang. Freiwillig hat sie auf dieser schönen Erde noch niemals lange funktioniert, so dass hinter dem Zuckerbrot, mit dem man uns gesundes Leben schmackhaft machen will, meist eine große Peitsche droht. Darüber kann auch die bekannte Kundenfänger-Kampagne der deutschen Ortskrankenkassen mit dem Motto „Prävention macht Spaß“ nicht hinwegtäuschen. Prävention macht nämlich durchaus keinen Spaß. Mir jedenfalls nicht. Ich muss mich zum Zähneputzen genauso zwingen wie zur Frühgymnastik oder zum Verzicht auf ein weiteres Glas Wein, wenn es mir gerade besonders gut schmeckt. Trotz aller Aufklärungskampagnen essen und trinken wir weiterhin zu viel, ruinieren unsere Ohren in der Diskothek, gehen viel zu spät ins Bett, liegen trotz Ozonloch und Hautkrebs im Urlaub stundenlang am Strand, kaufen unser Mittagessen bei McDonalds statt im Bioladen, fahren mit dem Auto und nicht mit der Bahn und tun auch sonst von morgens bis abends Dinge, die wir eigentlich nicht tun dürften, wenn die Verhinderung von Tod und Krankheit wirklich unser höchstes Streben wäre.

Natürlich sieht auch ein Liberaler die Berechtigung bestimmter Zwangsmaßnahmen durchaus ein. Das ist z.B. immer dann der Fall, wenn Prävention sogenannte „externe Effekte“ hat, wie das im Fachjargon der Ökonomen heißt. Ein Paradebeispiel sind Schutzimpfungen, denn hier schützt man durch Prävention nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Hier ist die Frage „Prävention – ja oder nein“ eben nicht jedermanns eigenes Bier. Auch nach dem liberalen Credo ist Zwang hier durchaus zulässig. Aber ich habe auch schon Schlagzeilen gelesen wie „Krebsärzte fordern: Vorsorge als Pflicht“, und das geht mir eindeutig zu weit. Schließlich hat sich an Krebs meines Wissens nach noch niemals jemand angesteckt.

Hierher gehört auch der von manchen Ärzten propagierte Zwangs-„Gesundheits-Check-up“ alle zwei Jahre für alle Versicherten, ob sie wollen oder nicht. Auch hier ist das Motiv zwar lobenswert, die Methoden aber weniger. Dann fehlte nämlich nur noch der TÜV-Stempel auf dem Hinterteil und ehe wir bis drei zählen, hätten wir den totalen medizinischen Überwachungsstaat.

„Eine wirklich freie Gesellschaft sollte ihre Bürger nach eigener Fasson leben, aber auch nach eigener Fasson krank werden und sterben lassen.“

Aus einem Recht auf Gesundheit könnte nämlich sehr schnell eine Pflicht zur Gesundheit werden, wie es das in vielen totalitären Gesellschaften linker oder rechter Prägung bereits gegeben hat. Die russische Wochenzeitung Literaturnaja Gazeta etwa beklagte vor einigen Jahren, 30 Prozent der russischen Kinder seien übergewichtig und ihre körperliche Verfassung genüge nicht den Ansprüchen der modernen Industrie und Armee. Alles in allem müsse die Einstellung zur Gesundheit geändert werden, da diese kein Privateigentum sei, sondern dem Staat gehöre. Gesundheit als Eigentum des Staates! Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Hier kämpfen offensichtlich linke Zwangsbeglücker und rechte Paternalisten Hand in Hand, während der Liberale einsam dazwischen steht.

„Bisher richten die gesetzlichen Krankenkassen ihr Augenmerk sehr stark auf individuelle Gesundheitsleistungen. Mit dem Gesetz zur Förderung der Prävention wird nunmehr der Fokus auf das Lebensumfeld und das soziale Umfeld gelenkt“, konnte man beim freidemokratischen Minister Daniel Bahr lesen. „Damit wird einer sozial bedingten Ungleichheit von Gesundheitschancen entgegengewirkt. Darüber hinaus sollen in den Früherkennungsuntersuchungen für Kinder und in den Gesundheitsuntersuchungen für Erwachsene, dem sogenannten Check-up, Präventionsaspekte stärker berücksichtigt werden. Im Rahmen der Untersuchungen soll regelmäßig auf der Grundlage der individuellen gesundheitlichen Risiken eine Beratung der Versicherten erfolgen, an deren Ende eine ärztliche Empfehlung für eine Präventionsmaßnahme stehen kann. Auch dies wird dazu beitragen, dass die von den Krankenkassen angebotenen Präventionskurse,(sic) gezielt diejenigen Menschen erreichen, die sie benötigen.“

Eine „ärztliche Empfehlung für Präventionsmaßnahmen“! Und wer sich nicht dran hält? Und weiter Big Macs isst und Cola trinkt? Liberal klingt zumindest anders. Karl der Große soll zu seinen Ärzten gesagt haben, als diese ihm gebratenes Fleisch verboten, an dessen Stelle er gekochtes essen könne, sie sollten sich zum Teufel scheren. Was Karl dem Großen Recht war, sollte uns billig sein. Eine wirklich freie Gesellschaft sollte sich im Zweifelsfall dazu durchringen, ihre Bürger nach eigener Fasson leben, aber auch nach eigener Fasson krank werden und sterben zu lassen.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#116 - II/2013) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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