04.07.2025

Gedenkstättenpädagogik auf Abwegen

Von Marcel Matthies

Titelbild

Foto: Ad Meskens via Wikicommons / CC BY-SA 4.0

„Buchenwald. Ein Audiowalk“ soll die Geschichte des Weimarer Konzentrationslagers vermitteln. Dabei verfällt das Medium in zeitgenössischen Aktivismus zu Themen wie Flucht oder Kolonialismus.

Der zum Objekt der Verwaltung gemachte Mensch lernt so wenig aus Katastrophen wie das Versuchskarnickel über Biologie. (Bertolt Brecht)

Ein zeitgemäßes Medium politischer Bildungsarbeit ist der Audiowalk. Ein Hörspaziergang ist ein interaktives Erlebnis, bei dem man durch das Hören von Audio-Inhalten und Geräuschen das Wissen über eine bestimmte Umgebung oder ein thematisches Konzept vertieft. Dabei werden Hörspiel-, Dokumentations- und Besichtigungselemente kombiniert, um Geschichten zu erzählen, Informationen zu vermitteln und emotionale Erfahrungen zu schaffen. „Buchenwald. Ein Audiowalk I Weimar” heißt ein im Jahr 2021 veröffentlichter Hörspaziergang der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Er beginnt mit einer knappen Vorstellung der 14-köpfigen Gruppe, die diesen 66-minütigen Audiowalk unter Federführung des Gedenkstättenpädagogen Ronald Hirte produziert hat.

Auffällig ist die Heterogenität des Produktionsteams: So wird darauf hingewiesen, dass für manche von ihnen „die Erfahrung von Rassismus und Diskriminierung in diesem Deutschland zum Alltag” gehört. Einige haben „selbst Erfahrungen von Krieg, Vertreibung und Flucht” machen müssen. Getroffen hätten sie sich, „um ihre verschiedenen Perspektiven auf Buchenwald zu beleuchten.“ Bereits hier zeichnet sich ab, dass die subalterne Position als Angehöriger einer hierzulande bedrohten Minderheit zum entscheidenden Effekt für die der jeweiligen Aussage beigemessene Geltung wird. Es ist, als würde sich die Relevanz des Gesagten weniger aus dessen Inhalt als vielmehr aus der Situiertheit des Sprechorts ergeben. Migranten wird hier die Rolle zugewiesen, als Sprachrohre einer weltanschaulich überformten Gedenkstättenpädagogik zu agieren. Damit der programmatische Standpunkt von vornherein klar erkennbar ist, wird bei der politischen Ausrichtung des Zuhörers – wie zu zeigen sein wird – nichts dem Zufall überlassen.

Unmittelbar nach einem räumlichen Standortabgleich der Zuhörer auf dem Gedenkstättengelände wird eine Audio-Aufnahme des Holocaust-Überlebenden Abraham Kimmelmann (1926–2020) eingespielt, der vom Psychologen David P. Boder (1886–1961) am 27. August 1946 interviewt wurde. Kimmelmann, ein aus Polen stammender Jude, wies gleich zu Beginn dieses langen Gesprächs auf die Repräsentationsproblematik hin, die in der Unmöglichkeit besteht, „alles zu erzählen, wie es war.” Zu diesem Dilemma der Zeugenschaft tritt die Unzuverlässigkeit des Erinnerns hinzu, für die der Schriftsteller W.G. Sebald die poetische Formulierung gefunden hat, dass „das Erinnerungsvermögen von Überlebenden meist bestimmt ist von Lagunen der Amnesie einerseits und unauslöschlichen Bildern andererseits”.1

Obwohl Kimmelmanns Erlebnisse dringend nach Erzählung verlangten, geriet das Erzählen auch deshalb an Grenzen, weil sich Traumata meist negativ auf die Funktionsweise von Gedächtnisprozessen auswirken. Besonderes Augenmerk wird im Audiowalk darauf gelegt, dass Kimmelmann sein Gegenüber, den Interviewer Boder, auf die konträren Erzählweisen zweier anderer ehemaliger Häftlinge hinweist „und trotzdem“, wie er betont, „haben sie beide die Wahrheit gesagt.“ Dies nimmt ein im Audiowalk vermitteltes diffuses Verständnis von historischer Wahrheit vorweg. Denn die hier thematisierten gegenläufigen Sichtweisen auf die erinnerten Erlebnisse in Buchenwald tragen ein Stück weit dazu bei, den Wahrheitsbegriff weiter aufzuweichen.2

Allgegenwärtigkeit von Genoziden

Interessanterweise sieht sich das Produktionsteam vom ersten Treffen an damit konfrontiert, dass „Vergleiche zwischen den Verbrechen in Buchenwald und denen an anderen Orten da” waren. Die Sprecherin des Audiowalks macht kenntlich, dass sich diejenigen im Team, die in Deutschland aufgewachsen seien, unwohl bei dieser Thematik fühlen würden. Denn sie würden befürchten, dass Vergleiche als Gleichsetzungen missverstanden werden würden: Hier wird das angeblich bestehende Vergleichsverbot thematisiert, das vorgibt, der Holocaust dürfe nicht mit anderen Massenmorden verglichen werden. Die Position derjenigen, die in der Bundesrepublik sozialisiert wurden und daher per se als Repräsentanten der sogenannten Dominanzkultur gelten, wird auf bloße Befindlichkeiten reduziert. Damit wird ihnen zugleich ein weitaus geringeres Erkenntnisvermögen zugesprochen: Warum die von Flüchtlingen getroffenen Aussagen bei den autochthonen Deutschen jedoch für Unwohlsein und Befürchtungen sorgten, bleibt ebenso unklar wie der Angriff auf das hier nur vage angedeutete ‚Singularitätsparadigma‘3 unausgesprochen.

„Im Kreislauf des Immergleichen ist es nahezu unmöglich, überhaupt noch Unterscheidungen zu treffen.“

Indessen sieht sich die Deutsch-Libanesin Nancy Alhachem nicht an das Vergleichsverbot gebunden. Die Doktorandin untersucht Erinnerungskulturen und fragt nach den Gründen derartiger Vergleiche: Ihr zufolge geht es beim Vergleichen entweder um das Verstehen eigener Gefühle und Erinnerungen oder aber darum, etwas als unwichtig darzustellen. Was sie genau damit meint, bleibt zunächst nebulös. Schließlich bekennt sie sich zu einer überzeitlichen Allgegenwärtigkeit von Genoziden: Es gäbe überall Krieg und Genozid. Natürlich sei es nicht dasselbe. Buchenwald sei ein geeigneter Ort für Leute, die einen Krieg überlebt haben und ihn hier verarbeiten könnten. Man komme nicht nur mit der Erinnerung an den Holocaust, sondern auch mit eigenen Erinnerungen, so Alhachem. Unklar bleibt hier, welchen Genozid sie überhaupt meint. Fest steht, dass sie, weil sie nicht in der BRD aufgewachsen ist, befähigt zu sein scheint, Genozide vergleichen zu können, ohne sich deshalb unwohl fühlen zu müssen: Da Krieg und Genozid laut Alhachem allgegenwärtig sind, ist der Schritt dahin vorbereitet, von der unterstellten Priorisierung des Holocaust zu abstrahieren.

Ewige Wiederkehr des Gleichen

Zu hören ist das Geräusch elektrischen Summens der 1938 erbauten, linksseitig liegenden Transformatorenstation, die das Gelände mit Strom versorgte. Vogelgezwitscher. Darauf folgt eine Darstellung des damaligen Torgebäudes. Aufforderung zum Eintritt in den ehemaligen Gefangenenbereich. Die symbolisch still gestellte Uhr markiert den Augenblick der Befreiung des Lagers am 11. April 1945. Zum damaligen Zeitpunkt fanden die eintreffenden Soldaten der 3. US-Armee ca. 21.000 noch dort verbliebene Häftlinge vor.

Wieder werden die Audiowalk-Hörer dem damaligen Tatort durch einen Gegenwartsbezug entrückt: Rani Alshamat, ein aus Syrien geflohener Journalist, rückt die Turmuhr in den Fokus: „Die Uhr blieb um 15.15 Uhr stehen und markierte eine Pause einer traurigen Geschichte, die in verschiedenen Teilen der Welt wiederholt und wiederholt wurde. Aber die Uhr ist immer noch da. Und alles ist immer noch so wie vor 75 Jahren [gemeint ist wahrscheinlich der Zeitpunkt der Befreiung des Lagers]. Mein Gefühl ist jetzt Angst. Angst, dass die Uhr sich wieder einschalten und die Pause beenden wird. Leider wiederholt sich die Geschichte immer und immer wieder an verschiedenen Orten. Was auch immer wir tun, um die Welt zu reformieren, es wird uns nicht gelingen. Das ist Schicksal.“

Das heißt, Alshamats Besuch in Buchenwald führt ihm nach der Flucht aus Syrien vor Augen, dass die Geschichte ein Zyklus ist. Angesichts der ewigen Wiederkehr des Gleichen erübrigt sich für ihn die für eine Spezifizierung notwendige Differenzierung. Besonderheiten lösen sich im Ozean der Geschichte ohnehin auf. Einzelne Details verschwimmen in der Chronologie der Wiederholung oder werden vom Strom historiographischer Unbestimmbarkeit mitgerissen. Dieses überzeitliche Geschichtsverständnis macht deutlich, dass eine auf Wissen ausgerichtete Erforschung historischer Wahrheit4 vergeblich ist, weil multidirektionale Relativitäts- und Relationalitätsparadigmata5 die Bedingung der Möglichkeit von Wissen und Erkenntnis massiv beeinträchtigen. Im Kreislauf des Immergleichen ist es nahezu unmöglich, überhaupt noch Unterscheidungen zu treffen.

„Dem schiefen Skript folgend, wird die Kontrolle europäischer Grenzen als strukturell wesensgleich mit dem NS-Regime inszeniert.“

Alshamats zirkulär-fatalistisches Geschichtsverständnis knüpft an Nancy Alhachems anthropologischen Befund an, Krieg und Genozid gäbe es ohnehin überall. Ob aber alles immer noch wie zur damaligen Zeit ist, wie Alshamat behauptet, steht teilweise im Widerspruch dazu, dass aus dem damaligen Konzentrationslager (KZ) eine Gedenkstätte geworden ist. Seine Angst, die Turmuhr könne ihre ursprüngliche Funktion wieder aufnehmen, ist wohl allegorisch als Warnung vor der Wiederinbetriebnahme des einstigen KZ zu verstehen und deutet auf eine mögliche Horizontverschmelzung von damals und heute hin.

Vor dem Lagertor stehend, ist die bekannte Inschrift „Jedem das Seine“ zu lesen. Das Produktionsteam macht nun transparent, dass sich bei der Konzeption des Audiowalks oft Diskussionen daran entzündeten, ob sich die Geschichte wiederhole und ob aus der Geschichte gelernt werden könne. Zur Beantwortung dieser Fragen wird ein Redeauszug des Holocaust-Überlebenden und renommierten Literaten Elie Wiesel (1928–2016) eingefügt, der genau an dieser Stelle im Juni 2009 sprach. Die entnommene Passage enthält folgende Quintessenz: Wenn die Lektion im Jahr 1945 nach der Befreiung gelernt worden wäre, hätte sich die Geschichte in Kambodscha, in Ruanda, in Darfur und in Bosnien nicht wiederholt, so Wiesel. Mit anderen Worten: Um das Verhängnis von der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu durchbrechen, ist es notwendig, die Geschichte als große Lehrmeisterin zu begreifen, deren Belehrungen sich Menschen nicht länger widersetzen sollten. Ob der reißende Strom der Geschichte aber ein pädagogisches Projekt ist, wie hier plötzlich suggeriert wird, darüber lässt sich streiten, zumal die nihilistisch grundierten Auffassungen von Alhachem und Alshamat im Widerspruch hierzu stehen.

Erst Urteilsbildung, dann Begriffsklärung

Die Sprecherin weist darauf hin, dass die Macher des Audiowalks im weiteren Verlauf der Diskussionen zu differenzieren versuchten: „Was bedeutet Krieg? Was bedeutet Lager? Was ist ein Genozid? Und was ist die Shoah? Was sind die Unterschiede zwischen Buchenwald und Birkenau?“ Eine Beantwortung der Fragen bleibt aus. Was mit Blick auf die Ausbildung historischer Urteilskraft erstaunt, ist die hier dargestellte Reihenfolge geschichtspädagogisch angeleiteten Lernens: Beim Versuch, die historische Unterscheidungsfähigkeit zu verlernen, geht die Urteilsbildung der Begriffsklärung voraus.

Anschließend erhalten die Zuhörer Informationen über die Redewendung „Jedem das Seine“, z.B. über dessen missbräuchlich-subversive Umdeutung durch die Nazis. Die Zuhörer erfahren auch von der wechselvollen Zusammensetzung der in Buchenwald und in seinen Außenlagern internierten Häftlinge: So wurden insgesamt 277.800 Menschen aus über 50 Ländern inhaftiert, von denen mindestens 56.000 Gefangenschaft und Zwangsarbeit nicht überlebten.

Es folgen Bezüge zur Umgebung: 3.500 Meter elektrisch geladener Stacheldrahtzaun, der durch das eingespielte Geräusch des Windes zum Schwingen gebracht wird und die sinnliche Wahrnehmung des Rezipienten intensivieren soll, ja in der Vorstellung das Damals im Jetzt nachhallen lässt. Blick durch den Zaun hindurch über den Nordhang des Ettersbergs in das Thüringer Land, Blick direkt über den Appellplatz, über die längst abgerissenen Baracken, die Häftlingskantine, Ausführungen über das für nur 100 Tage eingerichtete Sonderlager innerhalb des Lagers, das anlässlich der Reichspogromnacht für 9845 Juden zur Zwangsunterkunft wurde und 250 von ihnen mit dem Leben bezahlten. Erneut das Rauschen des Windes…

Gaskammer-Mittelmeer-Analogie

Während zu Beginn des Hörspaziergangs überwiegend von Flüchtlingen geprägte Einordnungen leitend sind, kommt nun nochmal ein Holocaust-Überlebender zu Wort. Der Aufruf von Ivan Ivanji (1929–2024), Literat und Journalist, stammt aus einer am 17. April 2016 auf der Gedenkstätte gehaltenen Rede. Zu diskutieren wäre, was dafür und was dagegen spricht, das Katastrophengeschehen in dem Sinne umzudeuten, wie Ivanji es macht:

Man soll Unvergleichliches nicht vergleichen wollen, aber ein Gedanke geht mir nicht aus dem Sinn und ich werde es trotzdem tun, denn es geht wieder um Millionen. Wir sehen Bilder von einem Stacheldraht, der moderner und gefährlicher wirkt, als derjenige, der die Konzentrationslager umgeben hat, die Stacheln sind schärfer geworden. Mit elektrischem Strom sind sie nicht geladen. Ich verscheuche die schreckliche Frage: Noch nicht? Von Schießbefehlen hat man schon gesprochen. Ich denke dabei an unvergleichliche Tragödien. Ein Kind aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak klammert sich vertrauensvoll an seine Eltern und besteigt mit ihnen ein Boot. Genau so, vertrauensvoll Hand in Hand mit seinen Eltern, ist ein jüdisches Kind in Auschwitz in die Gaskammer gegangen. Das erste hat im Meer nicht mehr atmen können, das andere im Gas. Das eine ist ertrunken, das andere verbrannt worden. Wasser und Feuer. Und Kindestod. Nicht auf die Zahlen kommt es an, wie viele, wo genau, weshalb, wann, bitte keine Statistik, sondern Trauer für ein jedes totes Kind.

Ausgerechnet in der Debatte um die höchst umstrittene Frage, ob Auschwitz entweder ein präzedenzloses Verbrechen, das alle Dimensionen historischer Erfahrung gesprengt habe, oder aber ein Völkermord wie jeder andere war6, bezieht Ivanji hier Stellung, ohne dass die Kontroversität der Thematik als solche auch nur irgendwie im Audiowalk kenntlich gemacht werden würde. Zudem wird der Audiowalk-Hörer dadurch gerade nicht zu einer begründeten Urteilsbildung befähigt. Das widerspricht nicht nur dem Beutelsbacher Konsens7, sondern wirkt in diesem Zusammenhang vor allem revisionistisch.8 Dass Ivanji als Jude und Auschwitz-Überlebender zur Sprache bringt, welches geschichtspolitische Narrativ sein Fühlen und Handeln bestimmt, ist nachvollziehbar. Auch an politische Werthaltungen zu appellieren, ist legitim. Jedoch zeigt sich an dem obigen Redeauszug, dass die Macher des Audiowalks weniger ein geschichtsdidaktisches als vielmehr ein politaktivistisches Anliegen verfolgen. Ivanjis Mahnruf richtet sich gegen diejenigen, die die Außengrenzen Europas stärker gegen Einwanderung geschützt sehen wollen. Sehr brisant ist die Gaskammer-Mittelmeer-Analogie, weil sie doktrinär ist. Dem schiefen Skript folgend, wird die Kontrolle europäischer Grenzen als strukturell wesensgleich mit dem NS-Regime inszeniert: Dies legitimiert jede Form von Gegengewalt.

„Was waren die Ursachen für die starke mentale Identifikation großer Teile der kolonisierten Welt mit Nazi-Deutschland?“

Zudem werden fundamentale Unterschiede nivelliert: Während die Nationalsozialisten territoriale Staatsgrenzen kaum anerkannten, verfolgt man mit der porösen ‚Festung Europa‘ das Ziel, die Fluchtbewegungen nach Europa irgendwie zu regulieren. Das Katastrophengeschehen in der Gaskammer mit der riskanten Flucht über das Mittelmeer zu parallelisieren, verlangt zumindest ein reflektierendes Innehalten, auch um die Voraussetzung für eine Erziehung zur Mündigkeit zu gewährleisten. Denn das Besteigen eines Boots, um damit aus Nordafrika über das Mittelmeer zu gelangen, unterscheidet sich grundsätzlich vom Betreten der Gaskammer, weil die Flucht nach Europa mit der teilweise berechtigten Hoffnung auf ein besseres Leben verbunden ist. Wenngleich Schleuser primitive und überfüllte Boote in See stechen lassen, nehmen sie damit das Ertrinken der Bootsflüchtlinge fahrlässig in Kauf. Jedoch ist die Überquerung des Mittelmeers mit Booten de facto nicht auf Mord ausgerichtet. Die Gaskammern waren hingegen ausschließlich zur Ermordung bestimmter Menschengruppen vorgesehen. Im Normalfall wurde die Gaskammer von Inhaftierten bzw. Deportierten in dem Glauben betreten, eine Dusche zu nehmen. Die Nazis erfanden perfide Täuschungsstrategien, um die wie Ungeziefer hinzumordenden Menschen bis zuletzt in Sicherheit zu wiegen.

Decolonize Buchenwald?

Diese Analyse erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, auch weil eine Kritik des gesamten Audiowalks den Rahmen sprengen würde. Abschließend sei auf das Denkmal für alle Toten des KZ Buchenwald auf dem ehemaligen Appellplatz hingewiesen, eine permanent auf menschliche Körpertemperatur gehaltene Metallplatte. Die Sprecherin des Audiowalks betont in dem Kontext die verschiedenen Herkünfte der Menschen, die das Lager nicht mehr lebendig verließen:

Die Auflistung der Nationalitäten lässt die Vielheit der im Verlauf des Zweiten Weltkriegs Verfolgten erahnen. Sie zeigt außerdem, dass die Welt des frühen 20. Jahrhunderts eine kolonial geprägte Welt war. So trugen etwa 7 Millionen Soldaten aus den Kolonien zur Befreiung Europas von den Nazis bei. Auch in den Konzentrationslagern befanden sich Menschen aus den damaligen französischen und englischen Kolonien. Ihre Geschichten gehören noch erzählt.

Ob der Zweite Weltkrieg oder gar die ‚Endlösung der Judenfrage‘ kolonial geprägt waren, ist mehr als fragwürdig. So weist die Historikerin Sybille Steinbacher darauf hin, dass die Nazis einen Bruch mit kolonialen Traditionen und eine ganz eigene Herrschaftsutopie ins Werk setzten. Und über den Holocaust erfahre man zudem nicht viel, wenn man ihn als bloße Spielart des Kolonialismus verstanden wissen will.9 Begrüßenswert ist hingegen das Vorhaben, die Geschichten der zirka 2500 damals dort inhaftierten Häftlinge aus den Kolonien zu erzählen. Jedoch stimmt die Angabe von insgesamt sieben Millionen Soldaten, die auf Seiten der Alliierten an der Befreiung Europas beteiligt gewesen sein sollen, nicht mit den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft überein. Es gibt, abhängig von der jeweiligen Quelle, variierende Zahlen. Nach aktuellem Kenntnisstand schätzt man, dass die Gesamtzahl alliierter Kolonialsoldaten bei zweieinhalb, maximal vier Millionen lag. Um einer einseitig verzerrten Deutung vorzubeugen, ist es zugleich unabdingbar, etwa die Geschichten über Mohammed Amin al-Husseini10, Raschid Ali al-Gailani11 und Subhash Chandra Bose12 sowie über die SS-Divisionen Handschar, Skanderbeg und Legion Freies Indien zu erzählen.13

Folgende Fragen stellen sich vor diesem Hintergrund: Was waren die Ursachen für die starke mentale Identifikation großer Teile der kolonisierten Welt mit Nazi-Deutschland? Inwiefern setzt sich der antikoloniale Kampf gegen die französischen und britischen Kolonialmächte gegenwärtig in den antiwestlichen, gegenaufklärerischen Semantiken des Postkolonialismus fort?14 Inwiefern erkannte auch der Nationalsozialismus im Arier-Mythos die Vielheit der Nationalitäten an? Zuletzt geht es bei der Klärung dieser Fragen darum, das Verschwinden des Holocaust im Gedenken ebenso zu verhindern wie den Zerfall des Wahrheitsbegriffs bei der Interpretation von Geschichte.15

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