11.05.2012

Für eine europäische Bürgerbewegung gegen den Überwachungsstaat

Kommentar von Kai Rogusch

Die Vorratsdatenspeicherung bedeutet einen massiven Eingriff in unsere Bürgerrechte. Sie soll per EU-Richtlinie durchgesetzt werden. Wir brauchen eine gesamteuropäische Debatte über das Thema. Nur eine Europäische Bürgerbewegung kann wirksam Widerstand leisten

Seit einigen Monaten schon schwelt in der schwarz-gelben Koalition ein Streit über die Vorratsdatenspeicherung (VDS) – also die Speicherung personenbezogener Daten durch oder für öffentliche Stellen, ohne dass diese Daten aktuell benötigt würden. Es geht hier um die Umsetzung einer europäischen Richtlinie in deutsches Recht. Dabei erscheint Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) als renitenter Störfaktor, der einem angeblich überholten Bürgerrechtsverständnis frönt. Sie lehnt die VDS als unzulässigen staatlichen Eingriff in die Privatsphäre der Bürger ab. Der Spiegel bezeichnete sie deswegen sogar unlängst – wohl nicht ganz frei von Ironie – als „Deutschlands anstrengendste Ministerin“. Während derzeit die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen Nichtumsetzung der europäischen Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in Gang setzt, mahnt Bundeskanzlerin Angela Merkel, die EU-Vorgaben lägen nun „auf dem Tisch“ und müssten „umgesetzt werden“. Die VDS käme „so oder so“, meinen konservative wie auch sozialdemokratische Abgeordnete. Deshalb solle die Bundesjustizministerin endlich von ihrer Palme herunter – zumal auch in ihrer eigenen Partei der Geduldsfaden langsam reiße.

Obwohl manchmal unklar erscheint, wie ernst es die liberale Ministerin mit ihrer Haltung wirklich meint, liegt sie mit ihrer Ablehnung prinzipiell natürlich richtig. Die für eine freiheitliche Gesellschaft fatale Unterordnung der Politik unter einen Sicherheitsimperativ, der in Gestalt der VDS in krasser Form zutage tritt, muss Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung werden. Die aktuell zu beobachtende Kompromissmauschelei ist kein Ersatz für eine echte öffentliche Debatte. Zwar gibt es auch schon jetzt auf politischer und juristischer Ebene einen europaweiten Streit über dieses ebenso brisante wie zweifelhaft legitimierte Vorhaben. Dieser spielt sich aber weitestgehend unter Ausschluss der allgemeinen Öffentlichkeit in fachlich interessierten Kreisen ab und wird in einem für Normalbürger nur schwer verständlichen Expertenjargon geführt.

Es ist also dringend geboten, das Thema für eine breitere und vor allem gesamteuropäische Debatte zu öffnen. Das ist schon deshalb längst überfällig, weil anhand der europarechtlich angeblich vorgegebenen VDS wieder einmal der sattsam bekannte Automatismus europäischer Politik sichtbar wird: Ohne nennenswerte Rückkopplung an rechtliche und demokratische Bindungen droht eine beispiellose Sicherheitsinfrastruktur zu entstehen, die dem Bürger keinen privaten Rückzugsraum mehr überlässt.

Wie der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum in einem Gastkommentar in der Süddeutschen Zeitung vom 16. April schreibt, gab es „selten einen Rechtsakt, der so umstritten war und ist, auf so wackligem europarechtlichem Boden steht und so hastig das Gesetzgebungsverfahren durchlief wie die EU-Richtlinie zur anlasslosen Speicherung aller Kommunikationsdaten von 500 Millionen Europäern.“ Weil im Jahr 2004 der von vier Staaten eingebrachte Entwurf eines Rahmenbeschlusses zur Vorratsdatenspeicherung im Rat nicht die nötige einstimmige Zustimmung fand, wechselte die EU-Kommission kurzerhand die Rechtsgrundlage der Richtlinie – mit der hanebüchenen Behauptung, die Vorratsdatenspeicherung diene nicht in erster Linie der Terrorbekämpfung, sondern der „Harmonisierung des Binnenmarktes“. Die Richtlinie konnte so mit Mehrheit erlassen werden, und mit Zustimmung der damaligen Bundesjustizministerin Brigitte Zypries konnte sie schließlich Rechtskraft erlangen.

Es wäre zwar falsch, zu behaupten, dass der Deutsche Bundestag daran unbeteiligt gewesen wäre. Nachdem der 15. Deutsche Bundestag unter der rot-grünen Ägide von Gerhard Schröder im Februar 2005 die anlasslose Speicherung von Verkehrsdaten auf Vorrat ablehnte, forderte in der darauffolgenden Legislaturperiode der Kanzlerschaft Angela Merkels das Parlament die Bundesregierung im Februar 2006 auf, den Kompromissvorschlag für eine Richtlinie vor Vorratsdatenspeicherung im Rat der Europäischen Union zu unterstützen. Damals wurde Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) der Rücken mit den Stimmen der Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD (allerdings gegen die Stimmen von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen) durch eine deutliche parlamentarische Mehrheit gestärkt. Das schwächt die Behauptung ab, wonach „Brüssel“ die alleinige Schuld an dem Vorhaben trage.

Nichtsdestotrotz kam mit Verabschiedung der EU-Richtlinie 2006/24/EG ein Automatismus in Gang, der sich der Einflussnahme durch Bürger und Parlamente tendenziell entzieht. Zwar ist die Behauptung, dass Deutschland trotz seiner relativen Größe ohnehin hätte überstimmt werden können, mit Vorsicht zu genießen. Doch die deutsche Bundesregierung hat auf europäischer Ebene maßgeblich mit dazu beigetragen, einen bürokratischen Mechanismus in Gang zu setzen, den Deutschland jetzt nicht mehr ohne Weiteres beeinflussen kann. Hinzu kommt, dass auch die Diskrepanz zwischen Bevölkerung und dem europäischen Apparat deutlich zutage tritt. So lehnten laut Allensbach Ende 2011 zwei Drittel der deutschen Bundesbürger die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ab. Zudem wendeten sich im selben Jahr etwa 65.000 Bürger in einer Petition an den Bundestag, und europaweit sprechen sich Interessenvertreter für Anwälte, Ärzte und Journalisten gegen die bestehende EU-Richtlinie aus.

Doch obwohl die EU-Kommission auf die zahlreichen Bedenken reagiert und eine Überarbeitung der Richtlinie ankündigt, weigert sie sich bislang, die Grundidee der VDS aufzugeben. Vielmehr droht der Bundesrepublik Deutschland jetzt angesichts des Vertragsverletzungsverfahrens wegen Nichtumsetzung der Richtlinie zur VDS eine mehrfache Millionenstrafe. Die EU-Beamten akzeptieren nämlich keineswegs den Kompromissvorschlag Leutheusser-Schnarrenbergers, mittels „Quick-Freeze“ nur die Telekommunikationsverbindungsdaten derjenigen Bürger einzufrieren, die sich einer erheblichen Straftat verdächtig machen. Denn hier handelt es sich nicht mehr um eine richtige Vorratsdatenspeicherung. Deren Charakter besteht gerade darin, dass der Staat – ohne jeden Verdacht einer Straftat – registrieren lässt, wer wem wann und wo beispielsweise eine E-Mail geschickt hat oder wer welche Website wann und wo besucht hat.

Aus diesem Grund könnte man zu der Ansicht kommen, dass sich an der Substanz der VDS wenig ändern wird. Beamte des Bundesinnenministeriums meinen, dass die gegenwärtigen Speicherfristen der VDS möglicherweise gekürzt werden könnten. Auch sei denkbar, dass die Europäische Kommission an ausgefeilteren Maßnahmen zur Sicherheit der gespeicherten Daten arbeitet. Doch letztlich würde sich an der anlasslosen Speicherpflicht nichts ändern, zumal auch das Bundesverfassungsgericht die VDS prinzipiell gebilligt habe. Folgende Ereignisse deuten jedoch darauf hin, dass Leutheusser-Schnarrenberger nicht so alleine dasteht wie viele Leute meinen.

Zum einen nämlich scheitern in Europa Umsetzungsgesetze immer wieder an der nationalen Gerichtsbarkeit. Das rumänische Verfassungsgericht erklärte sogar die europarechtlich vorgegebene Richtlinie für unvereinbar mit nationalem Recht. Auch in der Tschechischen Republik wurde die VDS vorerst gekippt. Hinzu kommt: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) gibt Anlass zu gewichtigen Zweifeln an der Vereinbarkeit der VDS mit europäischen Bürgerrechten. So hat das Straßburger Gericht im Jahr 2008 entschieden, dass „die umfassende und wahllose Befugnis zur Speicherung von Fingerabdrücken, Zellproben und DNA-Profilen von verdächtigen, aber nicht verurteilten Personen […] keinen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen“ treffe. In dieser Hinsicht habe der belangte Staat „jeden akzeptablen Ermessensspielraum überschritten.“

Die informative Website „Stoppt die Vorratsdatenspeicherung!“ schließt aus diesem Urteil, dass nichts anderes für die VDS gelten könne. Denn diese treffe zum einen die gesamte Bevölkerung. Außerdem aber stelle die VDS eine Maßnahme dar, die auf Vorrat Informationen über die sozialen Beziehungen aller Bürger sammle. Hierbei handelt es sich gleichermaßen um höchstpersönliche Daten – nicht zuletzt, weil diese sich für die Erstellung detaillierter Persönlichkeitsprofile eignen. Ohne Verdacht und Anordnung werden für die gesamte Bevölkerung Telekommunikationsverbindungsdaten aufgezeichnet, die Rückschlüsse auf die individuelle Lebenssituation der Betroffenen ermöglichen. Kontakte zu spezialisierten Berufsgruppen, beispielsweise Abtreibungsärzten, Scheidungsanwälten oder Prostituierten, lassen Einblicke in die private Lage eines Menschen zu.

Eine Stellungnahme, die vom Chaos Computer Club zur Vorratsdatenspeicherung unter Federführung von Constanze Kurz und Frank Rieger verfasst worden ist, geht sogar so weit, anzunehmen, dass Verbindungsdaten aussagekräftiger sein können als der Inhalt dessen, was telefonisch oder per E-Mail ausgetauscht wird. Denn man könne Verbindungsdaten mit Hilfe automatisierbarer wissenschaftlicher Methoden analysieren. Die VDS schaffe, so Kurz und Rieger, de facto „die strukturellen und verordnungstechnischen Voraussetzungen für die flächendeckende Anwendung von geheimdienstlichen und militärischen Auswertungsmethoden auf die Verbindungsdaten der gesamten Bevölkerung“. Mit Hilfe der heutzutage hohen Rechenleistung moderner Computer samt ihrer Auswertungsalgorithmen ergäben sich „Analysemethoden“, die „das Erkennen von menschlichen Beziehungsgeflechten, Absichten und Vorlieben aus Verkehrsdaten möglich machen“. Auf diese Weise kann beispielsweise ermittelt werden, welche Kommunikationsbeziehungen privater oder geschäftlicher Natur seien. Man gewinnt zudem einen Einblick darin, wer innerhalb eines Beziehungsnetzes eine aktivere und weniger aktive Rolle einnimmt. Auch wer innerhalb einer bestimmten Gruppe oder Organisation eine zentrale Rolle spielt, ist leicht auffindbar. Denn er oder sie hält Kontakt mit vielen anderen Personen, die untereinander wiederum in weniger engem Kontakt stehen. Durch grafische Auswertung der Verbindungsdaten, so die Expertise des Chaos Computer Clubs, sei „zu erkennen, ob es sich bei dem betrachteten Beziehungsgeflecht um eine lose Gruppe, eine familiäre Struktur oder um eine hierarchische Sozialstruktur“ handele. Je mehr zurückliegende Daten über die Kommunikation der Betroffenen vorlägen, desto einfacher sei es, die Art der sozialen Beziehungen zu ermitteln.

Nun könnte man argumentieren, dass die VDS letztlich unbedenklich sei, wenn die entsprechenden Daten nur dezentral gespeichert und mit besonderen Maßnahmen gesichert werden. Außerdem könne man die Nutzung der Daten auf genau festgelegte Fälle schwerster Kriminalität und gravierender Gefahren beschränken. Diese Argumente stoßen jedoch auf folgende Einwände: Zum einen belegen die zurückliegenden Datenskandale, dass das Risiko eines Bekanntwerdens vertraulicher Tätigkeiten und Kontakte etwa zu Journalisten, Beratungsstellen oder Geschäftspartnern durch Datenpannen und Datenmissbrauch keineswegs gebannt ist. Noch wichtiger aber: Die prinzipielle Bejahung der VDS ebnet den Weg in eine umfassende „Überwachungsgesellschaft“, und die bedeutet letztlich das Ende aller Privatheit.

Denn die unterschiedslose Speicherung von Daten allein für eine mögliche künftige staatliche Verwendung würde allmählich alle Lebensbereiche erfassen. Schließlich ist die vorsorgliche Protokollierung persönlicher Daten für den Staat stets nützlich. Von keiner Information nämlich lässt sich von vorneherein ausschließen, dass sie einmal zur Verfolgung von Straftaten erforderlich sein könnte. Wer das für eine allzu theoretische Überlegung hält, der schaue sich einmal das Vorhaben an, innerhalb der EU ein, so die Süddeutsche Zeitung vom 27. April 2012, „eigenes System der Überwachung der Daten von Flugpassagieren“ einzuführen. Hiernach soll eine bis zu fünf Jahre dauernde Speicherung detaillierter Angaben unter anderem den Namen des Fluggastes, Geburtsdatum, Adresse und Sitzplatz erfassen und die Rückverfolgung darüber ermöglichen, wann, wo, wie und wohin der Flug gebucht und welches Gepäck aufgegeben wurde. Ziel der Sammlung soll es sein, die Reisebewegungen von Verdächtigen nachzuvollziehen.

Es ist zu hoffen, dass sich die Zeiten, in denen EU-Beschlüsse einfach nur abgenickt wurden, endlich dem Ende zuneigen. Die Politik der EU muss verstärkt ins Blickfeld einer über europäische Grenzen hinweg agierenden Öffentlichkeit rücken. Erste Ansätze hierfür sind in der Diskussion um die VDS erkennbar und lassen zumindest Konturen eines demokratischeren Europas erahnen. Eine europäische Bürgerbewegung würde ihr Interesse auf eine politische und juristische Einflussnahme auf europäisches Recht richten. Jedoch ist der hier angesprochene Automatismus der europäischen Sicherheitspolitik auch von einer möglicherweise aufkeimenden europaweiten Bürgerbewegung nur schwer zu stoppen. Bemerkenswert erscheint immerhin, dass die gegenwärtige Legitimationskrise der Europäischen Union zu einer Infragestellung der Autorität europäischer Maßnahmen führt –  auch unter Mitgliedern der gegenwärtigen Bundesregierung.

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