01.03.2009
Europa – be- und verklagenswert!
Essay von Kai Rogusch
Eine Analyse der verschiedenen Verfassungsklagen gegen den Lissabonner Vertrag und die dahinter stehenden Motivationen.
Die Europäische Union ist wichtig – und unbeliebt. Mit einem Jahresetat von nunmehr über 125 Milliarden Euro ausgestattet, erstrecken sich ihre Regelungsbefugnisse über die inzwischen 500 Millionen EU-Bürger in die verschiedensten Politikbereiche hinein. Mittlerweile regelt sie auch Bereiche des Polizei- und Strafrechts. Mit dem Lissabonner Vertrag, der nun auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts steht, sollen der EU sogar noch mehr Befugnisse zuwachsen. Dass in Deutschland der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler, die Bundestagsfraktion der Linken und eine Gruppe wirtschaftsliberaler Akademiker um den Juristen Markus C. Kerber und den Ökonomen Joachim Starbatty Verfassungsklagen gegen den Vertrag eingereicht haben, bietet Anlass für einen dringend benötigten Klärungsprozess.
Ziel des Lissabonner Vertrages (LV) soll es eigentlich sein, die EU zu „demokratisieren“. Sie soll eine eigene Rechtspersönlichkeit und gar einen diplomatischen Dienst zugesprochen bekommen. Auf dem Gebiet der Gesetzgebung, die sich auf nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche erstrecken soll, sieht der LV zur Sicherung der Handlungsfähigkeit Europas als Regelfall die Mehrheitsentscheidung im Rat vor. Das Erfordernis der Einstimmigkeit würde damit heute, wo sich die EU mittlerweile auf 27 Mitgliedstaaten erweitert hat, weiter zurückgedrängt. Und wann immer Mehrheitsentscheidungen anstehen, soll dem Europäischen Parlament im Rahmen des sogenannten „Mitentscheidungsverfahrens“ eine Art Vetorecht zustehen.
Doch auch nach den Organisationsprinzipien des LV bleibt Europa mit dem Makel des „Demokratiedefizits“ behaftet. Die elitäre und zugleich schrankenlos-diffuse Grundausrichtung der EU-Politik herauszuarbeiten, ist ein besonderes Verdienst der substanziellen Verfassungsklage Gauweilers, die ihre Argumente mit eindrucksvollem wissenschaftlichem Sachverstand unterfüttert. Bei der Linken hingegen hat man ein wenig den Eindruck, dass sie sich nicht richtig Mühe macht, das „Problem EU“ als solches zu begreifen. Eher nimmt sie den LV nur zum Anlass, um ihre altbekannten Positionen zum sogenannten „Neoliberalismus“ und „Militarismus“ zu propagieren. Was in der bisherigen Debatte über den heraufziehenden „Superstaat“ fehlt, ist eine substanzielle Beschäftigung mit den tieferen Ursachen des Phänomens „EU“. Denn erst das Zusammenspiel der Tatsache, dass sich die Europäische Union nur durch die Nationalstaaten entfalten kann, mit dem Umstand, dass sich die Eliten in den Nationalstaaten einer gravierenden Orientierungsschwäche und einer ausgeprägten Legitimationskrise gegenübersehen, vermag einen Einblick in Triebkraft und Wirkungsmacht der EU zu geben. Gerade die fehlende programmatische Verwurzelung der europäischen Eliten im Volk ist der entscheidende Hintergrund für den Lissabonner Vertrag: Er gewährt einen rechtlichen Rahmen für eine fahrige Politik, die ihre Ad-hoc-Gesetzgebung am „Management“ plötzlich auftretender und unverstandener Krisen ausrichtet.
Das Unbehagen an europäischer Politik
Die Verfassungsklagen gegen den LV zeigen, wie auf dem bisherigen Höhepunkt des europäischen Einigungsprozesses „Brüssel“ zu einem Kristallisationspunkt der Ängste verschiedenster politischer Gruppierungen mutiert. Europa ist zur Projektionsfläche eines sich vielfältig artikulierenden Gefühls machtlosen Unbehagens breiter Bevölkerungsschichten avanciert. Deutlich wird dies bei der Lektüre der von den konservativen Verfassungsrechtlern Karl-Albrecht Schachtschneider und Dietrich Murswiek unterfütterten Klage Peter Gauweilers. Anders als die eher ordoliberal argumentierenden Wirtschaftsliberalen um Starbatty und Kerber, die die europäischen Marktfreiheiten durch ein EU-„Ermächtigungsgesetz“ bedroht sehen, rückt die Argumentation Gauweilers den Aspekt der Auflösung bundesdeutscher Souveränität in den Mittelpunkt und stützt sich gar auf das Widerstandsrecht. Sein Vorwurf lautet, der Bundestag bewirke mit seinem Ratifikationsgesetz zum Lissabonner Vertrag die Auflösung der Bundesrepublik Deutschland. Unser Rechtsstaat verschwinde in der supranationalen Europäischen Union. Diese entspreche aber in ihrer staatsorganisationsrechtlichen Form keinesfalls den im Grundgesetz formulierten Prinzipien demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Deshalb könnten sich die Deutschen auf Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes berufen. Danach haben sie „gegen jeden, der es unternimmt“, die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland „zu beseitigen“, das „Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Des Weiteren, so die Klage Gauweilers, würde der Lissabonner Vertrag die Entmachtung des Bundesverfassungsgerichts bedeuten.
Die Verfassungsklage der Bundestagsfraktion der Linken hingegen sieht den undemokratischen Charakter der EU zum einen darin begründet, dass der Lissabonner Vertrag die politisch nun unverfügbare Zementierung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im Sinn der Prinzipien des „Marktradikalismus“ bedeute. Da auch der Europäische Gerichtshof selbst fundamentale Prinzipien des Grundgesetzes wie etwa die Menschenwürde nur noch im relativierenden Licht der in den europäischen Verträgen festgeschriebenen und an den Interessen der Konzerne orientierten „Grundfreiheiten“ auslege, werde der Mensch in Zeiten des „Neoliberalismus“ zu einer wirtschaftlichen Verfügungsmasse. Zudem moniert die Klage der Linken eine vertraglich festgelegte Hinwendung der EU zum Militarismus. Denn der Lissabonner Vertrag verpflichte die Mitgliedstaaten der EU zu einer „schrittweisen Verbesserung“ ihrer militärischen Fähigkeiten und enthalte somit eine friedenspolitisch nicht hinnehmbare Verpflichtung zur Aufrüstung. Darüber hinaus, so die Linke, hebelt der Vertrag den grundgesetzlich und verfassungsgerichtlich festgeschriebenen Parlamentsvorbehalt bei der Entscheidung über militärische Einsätze im Rahmen der Militärpolitik der Europäischen Union aus. Gemein ist allen EU-Kritikern die Befürchtung, dass die EU den „Normalbürger“ unberechenbaren Wechselfällen diffuser Mächte ausliefere. So hat die Europäische Union auf immer mehr Gebieten hoheitliche, d.h. gesetzgeberische Befugnisse erhalten, ohne jedoch ihre Regelungsprozeduren den demokratischen Standards anzupassen, die man einmal auf der Ebene die Nationalstaaten entwickelt hatte. Auf diese Weise verlieren in den Nationalstaaten die Parlamente immer mehr an Einfluss. Gleichzeitig können die Regierungen der Nationalstaaten auf der Rechtsetzungsebene der EU den Volksvertretungen immer mehr Vorschriften machen.
Fehlende Rechenschaft europäischer Gesetzgebung
Schon jetzt sind mindestens 80 Prozent der Gesetze, die der Bundestag auf den Gebieten des Wirtschafts-, Sozial- und Steuerrechts erlässt, auf sogenannte „Richtlinien“ der EU zurückzuführen. Bei Rechtsakten, die sich auf das Leben der Bürger einschneidend auswirken können, agiert der Bundestag als Ausführungsorgan der Exekutive. Denn das wichtigste Gesetzgebungsorgan auf EU-Ebene ist der (Minister-)Rat, der die jeweiligen Fachminister der 27 Mitgliedstaaten vereinigt. Wenn der Bundestag eine Richtlinie, wie etwa die zur Antidiskriminierungsgesetzgebung, nicht rechtzeitig in nationales Recht überführt, lassen sich von der EU-Kommission Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten und schließlich Strafzahlungen anordnen. Auf diese Weise kehrt sich das demokratische Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative um. Nun agiert die direkt gewählte Volksvertretung im Rahmen der Vorgaben der Regierung. Die „von unten nach oben“ verlaufende Legitimitätskette für grundlegende gesellschaftliche Weichenstellungen in Form von Gesetzen gilt nicht mehr.
Deutlich wird dies, wenn man bedenkt, dass die einzelnen Mitglieder des Rates, also die Fachminister, ihre demokratische Legitimation zumindest indirekt ableiten können, da sie parlamentarisch legitimiert sind. Doch der Rat als Ganzes muss sich keiner direkten Volkswahl stellen; anders als der Deutsche Bundestag, der am Ende der Legislaturperiode seine Politik zur Abstimmung bringen muss. Wenn dort der gegenwärtigen Politik ein „Denkzettel“ verpasst wird, kann dies nicht selten zu einer Änderung des politischen Kurses führen. Den Rat aber für seine Politik zur Rechenschaft zu ziehen, ist hingegen auch deshalb kaum möglich, weil sich ein Großteil der gesetzgeberischen Arbeit in zahllosen Ratsuntergliederungen und Arbeitsgruppen abspielt, die nicht öffentlich sind. Zwar tagt der Rat selbst bei Abstimmungen über europäische Rechtsakte seit einiger Zeit öffentlich, und der LV will die Öffentlichkeit der Ratssitzungen nun verankern. Da jedoch ein bedeutender Teil des Diskussionsprozesses schon in den nichtöffentlichen Untergliederungen geschieht, lässt sich die politische Brisanz eines neuen EU-weiten Rechtsakts der öffentlichen Ratssitzung kaum entnehmen. Hinzu kommt: Das alleinige Initiativrecht für europäische Rechtsakte liegt in den Händen der Europäischen Kommission. Bei dieser handelt es sich um eine vom Volk nicht gewählte Verwaltungsbürokratie, die sehr elitäre Zugangsschranken hat und ohne die ein europäischer Gesetzgebungsprozess nicht läuft. Europäischen Rechtsakten, die einmal erlassen worden sind, ist auch aus diesem Grund ein sehr langes (Eigen-)Leben beschieden.
Zwar hat das Europäische Parlament (EP) als einzige direkt gewählte EU-Institution im Lauf der letzten Vertragsänderungen der EU immer mehr Kompetenzen bekommen. Für weite Teile der EU-Gesetzgebung kann das EP nun „gleichberechtigt“ mit dem Rat entscheiden, hat also so etwas wie ein Vetorecht. Zudem hat das EP auch schon jetzt die vertraglich verankerte Möglichkeit, die EU-Kommission zur Unterbreitung von Gesetzesinitiativen „aufzufordern“. Dennoch fehlt dem EP, da es kein Initiativrecht für Gesetze hat, also nicht selbst ausformulierte Gesetzesvorschläge an der EU-Kommission vorbei in den Gesetzgebungsprozess einbringen kann, die für eine wahrhaft demokratische Volksvertretung zentrale Rolle in der Rechtsetzung. Auch das im LV vorgesehene „europäische Bürgerbegehren“ leistet letztlich keine Abhilfe. Denn zwar muss die Europäische Kommission in ihrer unerlässlichen Gesetzesinitiativfunktion darauf reagieren und einen Vorschlag in den Rechtsetzungsprozess einbringen. Die inhaltliche Ausgestaltung und Formulierung bleibt aber in den Händen der EU-Beamten. Daher liegt der Schwerpunkt im Gesetzgebungsprozess immer noch im Zusammenspiel der supranationalen Exekutive „Kommission“ mit dem aus Regierungsmitgliedern zusammengesetzten „Rat“. Das Europäische Parlament gewinnt zwar weiter an Bedeutung. Doch seine Mitglieder werden innerhalb der EU nach unterschiedlichsten Wahlrechtsregelungen und zugleich nicht nach dem Grundsatz der Stimmrechtsgleichheit gewählt. Überdies tritt noch das Problem hinzu, dass sich eine europäische politische Öffentlichkeit noch längst nicht herausgebildet hat. Auch das EP setzt sich aus eher abgeschotteten Gruppierungen verschiedener nationaler Kulturen zusammen, die selten in der Lage zu sein scheinen, so etwas wie übergreifende europäische Interessen zu formulieren.
Die Tendenz der Selbstermächtigung
Bereits der Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992 hatte zu einer beträchtlichen Kompetenzausweitung europäischer Politik geführt: Nachdem schon seit Jahrzehnten auf dem Gebiet der ökonomischen Integration die europäischen „Marktfreiheiten“ Vorrang vor nationalem Recht bekamen und die neuartigen europäischen Organe wie Kommission, Europäischer Gerichtshof und Rat auch die bürokratische Normierung von Steckdosen in Angriff nahmen, verstärkte das Maastrichter Vertragswerk die europäische Integration. Die Grundlage für die Einführung des Euro wurde besiegelt, und der Einstieg der Europäischen Union in die Gebiete der Innen-, Justiz- und Außenpolitik nahm seinen Anfang. Heute, nach den Verträgen von Amsterdam (1998) und Nizza (2001) und einer entsprechenden Osterweiterung auf inzwischen 27 Mitgliedstaaten, erreicht der europäische Einigungsprozess neue Dimensionen. In Anbetracht einer durchschnittlichen Staatsquote der EU-Mitgliedstaaten von etwa 47 Prozent bedeutet dies, dass ein wichtiger Teil der innerhalb der EU durch die einzelnen Mitgliedstaaten verwalteten öffentlichen Haushalte von insgesamt mehr als 4,5 Billionen Euro der Finanzierung einer durch die EU-Gesetzgebung gesteuerten Politik dient. Hinzu kommt, dass auch eher informelle Vereinbarungen nationaler Regierungen, die keine expliziten EU-Gesetze produzieren, sich in einer aufeinander abgestimmten Politik auf nationaler Ebene niederschlagen. Die Aushöhlung der demokratischen Standards, die man einst auf der Ebene der Nationalstaaten errungen hatte, erstreckt sich mehr und mehr in Kernbereiche der Staatlichkeit. Die technokratische Regelung der Krümmung der Gurke war gestern: Heute greift die obrigkeitsstaatliche Bestimmung der Europäischen Union zum Europäischen Haftbefehl – danach kann man EU-Bürger an alle 27 Mitgliedstaaten ausliefern. Eine EU-Richtlinie zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung verfügt das zumindest halbjährliche Speichern von Telekommunikationsverbindungsdaten. Neuerdings musste die EU-Kommission gar den Vorschlag zurückziehen, Flugpassagiere einem Nacktscanner auszusetzen.
Das ist der Hintergrund der Verfassungsklage Gauweilers: Mit dem Einstieg Europas in das Lissabonner Vertragswerk bekäme die ohnehin schon undemokratisch organisierte Europäische Union die juristische Möglichkeit einer flächendeckenden und gleichzeitig nicht kontrollierbaren Regulation aller erdenklichen Lebensbereiche. In dem vom Freiburger Staatsrechtler Dietrich Murswiek formulierten Gutachten wird dargelegt, dass sich die Europäische Union mittels der im LV eingefügten „Flexibilitätsklausel“ in Zukunft selbst neue Kompetenzen geben könnte, ohne dass es eines langwierigen Ratifikationsverfahrens durch die nationalen Parlamente noch bedürfte. Denn für den Fall, dass ein Tätigwerden der Union „erforderlich erscheint“, um eines der im LV genannten unzähligen Ziele der EU zu verwirklichen, „erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften“ (Artikel 352 AEUV). Auf diese Weise würde dem Trend, wonach eine extensive Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs durch eine „kreative“ Auslegung der europäischen Verträge zugunsten einer Kompetenz der EU den Zentralisierungsschub in Europa befördert, endgültig zum Durchbruch verholfen. Hinzu kommt, dass es im Lissabonner Vertrag von Normen, die „Maßnahmen“ der Europäischen Union zum „Schutz“ vor verschiedenartigsten Gefahren vorsehen, nur so wimmelt. Insbesondere in der vertraglich vorgesehenen „Grundrechtecharta“ werden den Grundrechten, die ursprünglich zur Abwehr staatlichen Handelns verankert wurden, solche Grundrechte entgegengestellt, die staatliches Handeln verlangen. So sind der EU-Gesetzgebung immer neue Aufgabenfelder zur Schaffung von Rechtsgrundlagen eröffnet, die den staatlichen Aktionsradius beträchtlich ausweiten können.
Dass die Linke den Neoliberalismusvorwurf dermaßen stark in den Vordergrund rückt, zeigt, wie sehr sie den hochgradig ausufernden „Schutzcharakter“ europäischer Regulationen ausblendet. Denn mittlerweile erlässt die Europäische Union serienweise Regelungen, die auf den „Schutz“ der Arbeitnehmer vor „Diskriminierungen“ oder „Belästigungen“ durch Mobbing oder Zigarettenrauch und dergleichen zielen. Indem sie den Trend zu einer haltlosen Regulation in der EU ignoriert, verleiht sie ihrer Verfassungsklage einen teilweise unglaubwürdigen Charakter und schadet so indirekt auch ihrem Anliegen, die Interessen der Arbeitnehmerschaft in Zeiten eines globalisierten Konkurrenzdrucks zu vertreten. Am Beispiel des Militarismusvorwurfs der Linken lässt sich aber wiederum erkennen, wie sich auch auf dem Gebiet der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Tendenzen der Selbstermächtigung europäischer Organe entfalten können: Wie auf der Ebene der Vertragsänderung die nationalstaatlichen Parlamente aus dem konstitutiven Ratifikationsprozess ausgeschaltet werden, so zeigt sich eine ähnliche Entwicklung auch bei der Entscheidung über militärische Einsätze überall auf der Welt, an denen die nationalstaatlichen Volksvertretungen, wenn möglich, nicht verzögernd intervenieren sollen.
Sündenbock Brüssel
Kein Geringerer als der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog hat in letzter Zeit wiederholt auf den zentralistischen und undemokratischen Charakter der Europäischen Union hingewiesen. Doch so sehr der EU-Kritik beizupflichten ist, was vor allem ihre rechtsstaatliche und demokratietheoretische Argumentation betrifft, so ist vielmehr die Frage entscheidend, was zu einer derartigen Auszehrung der demokratischen Legislative beigetragen hat. Dass es so weit gekommen ist, liegt auch an der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das mit seinem bahnbrechenden Urteil zum Maastrichter Vertrag (1993) die an den Interessen der Exekutive orientierte Organisationsform der EU letztlich akzeptierte. Die Verortung des Demokratieproblems in „Brüssel“ greift jedenfalls schon deshalb zu kurz, weil es die Nationalstaaten sind, die nach wie vor den Kern des staatlichen Gewaltmonopols innehaben. Erst durch die Übermittlung der zusehends auf globale und europäische Politik ausgerichteten nationalstaatlichen Apparate lässt sich die Politik der Europäischen Union in die Wirklichkeit übertragen. „Brüssel“ ist eher Symptom als Ursache der gegenwärtigen Malaise der Demokratie. Dass sich trotz der anschwellenden Kritik an der Bürgerferne der EU an ihrer autoritären Entwicklung bisher wenig geändert hat, liegt vor allem in der Schwächung des demokratischen Lebens in den Nationalstaaten selbst.
Hintergrund der zunehmenden „Auslagerung“ politischer Befugnisse an die EU ist eine nach Ende des Kalten Krieges immer stärker zunehmende programmatische Orientierungslosigkeit der politischen Führungen. Seit dieser Zeit greift die Wahrnehmung um sich, dass sich die Parteiprogramme angleichen und sie zugleich verwässern. Ein verblassendes politisches Personal stößt auf immer geringere Wertschätzung bei den Bürgern. Folge dieses Umstandes ist ein Rückgang an Partizipation an den etablierten Instanzen politischer Mitwirkung wie Parteien und Parlamenten. Erst diese Entwicklung erklärt, warum viele Leute die sattsam bekannten Probleme des „Demokratiedefizits“ der EU achselzuckend hinnehmen. Der Neoliberalismus-Vorwurf der Linken verkennt die wahre Gestalt der EU: Die liegt in der juristischen Ermöglichung ausufernder Interventionsmöglichkeiten zugunsten einer tendenziell prinzipienlosen Politik. Das Wuchern von EU-Kompetenzen wird von den liberal-konservativen Klagen hingegen durchaus präzise erfasst. Was keiner thematisiert: dass im nationalen Rahmen die Möglichkeiten einer gemeinschaftstiftenden Sinngebung schwinden, weil die politischen Programme an Substanz verloren haben. Hieraus ergibt sich die Wirkungsmacht der EU, die politische Fragen in technische Angelegenheiten verwandelt.