08.06.2015
Fünf Mythen über Pegida
Analyse von Sabine Beppler-Spahl
In Dresden holt Pegida-Aushängeschild Tatjana Festerling bei der OB-Wahl zehn Prozent der Stimmen. Grund genug sich Pegida noch einmal näher anzusehen. Ist die Bewegung nationalistisch, folgen ihre Anhänger Rattenfängern? Sabine Beppler-Spahl geht auf Spurensuche.
Mythos 1: Pegida ist nationalistisch
„Das sind keine Patrioten, das sind Nationalisten und Rassisten, die Ängste der Menschen schüren und die Gesellschaft spalten wollen“ [1], sagte der Fraktionsvorsitzende der SPD, Thomas Oppermann, im Dezember letzten Jahres über die Pegida-Organisatoren. Das zeigt, wie wenig präzise der Begriff „Nationalismus“ noch ist. Was ist von einer vermeintlich „nationalistischen Bewegung“ zu halten, die sich ganz bewusst als „patriotische Europäer“ (und eben nicht als „patriotische Deutsche“), bezeichnet? Ist von ihr zu erwarten, dass sie erklärt, was uns als Nation verbinden und auszeichnen sollte? Gibt es unter den Pegida-Anhängern überhaupt eine einheitliche Meinung darüber, was es heißt, Deutscher zu sein, und wie sie sich das „Vaterland“ vorstellen?
Damit kein Missverständnis aufkommt: Zu kritisieren ist nicht, dass Herr Oppermann auf Pegida schimpft. Das ist sein gutes Recht. Zu kritisieren ist, dass er die falschen Worte wählt und damit nur zur allgemeinen Verwirrung über das Phänomen beiträgt.
„Der Begriff ‚Nationalismus‘ wird benutzt, um eine inhaltliche Auseinandersetzung zu vermeiden“
Begeisterung für eine wegweisende, einende Vision, wie dies bei nationalistischen Bewegungen der letzten Jahrhunderte der Fall war, geht von Pegida nicht aus. (Das gilt sowohl im Guten wie im Schlechten, denn wir sollten nicht vergessen, dass der Nationalismus zeitweise eine progressive Bewegung war.) Die Abgrenzung zum Islam und das Schimpfen auf die „Lügenpresse“ haben wenig Substanz.
Der Begriff „Nationalismus“ (wie auch der des „Rassismus“) wird als moralischer Kampfbegriff benutzt, um die eigene Überlegenheit (und damit die Unterlegenheit der Gegner) zu demonstrieren, ohne sich dabei einer inhaltlichen Auseinandersetzung stellen zu müssen. Wer das Phänomen Pegida verstehen und kritisieren will, muss mehr leisten, als Worthülsen zu bemühen.
Mythos 2: Pegida-Anhänger folgen einem „Rattenfänger“
„Man muss wissen, welchen Rattenfängern man da auf den Leim geht“, sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im WDR. [2] Sie betrachtet die Demonstranten als Kinder, die sich zu etwas verführen lassen, was sie nicht richtig durchschauen. Das ist eine abwegige Annahme, die zur Konsequenz hat, dass man sich mit den Motiven der Teilnehmer nicht weiter zu beschäftigen braucht. Tatsächlich gibt es aber genügend Anlass zu ernsthafter Kritik. Beispiele für eine Infantilisierung der Protestierenden gibt es viele. Dazu gehört auch das paternalistische: „Wir wissen, dass das einfache Menschen sind, müssen ihre Ängste aber ernst nehmen“. Das klingt, als habe man es nicht mit Bürgern, sondern mit bockigen Kindern zu tun.
Der herablassende Blick des verärgerten Erziehungsberechtigten wird dem Phänomen Pegida keinesfalls gerecht. Beachtliche 159.247 Likes weist die Facebook-Seite der Bewegung aus (Stichtag: 07. März 2015) und auch wenn die Teilnehmerzahl an den Demos zurückgegangen ist, war sie mit mehreren Zehntausenden Woche für Woche erstaunlich groß. Viel zu groß, um es mit bloßem Hinterherlaufen zu erklären. Angesichts der massiven Kritik und Verurteilung durch Politik und Medien müssen wir schon stärkere Motive annehmen, um zu erklären, warum so viele Menschen so ausdauernd auf die Straße gegangen sind.
Wer trotz der Beschimpfungen bei den Demonstrationen mitgeht, tut dies im klaren Bewusstsein. Pegida Anhänger wissen, dass sie sich außerhalb des sogenannten „Mainstreams“ befinden. Deshalb fruchten auch die Hinweise auf die kriminelle Geschichte des Gründers, Lutz Bachmann, nicht. Diese dürften zwar Unbehagen bereiten. Sie bieten aber keinen Grund, sich deswegen dem Druck von „Oben“ zu beugen.
„Die Stärke der Bewegung ist einer weitverbreiteten Distanz zur Politik geschuldet“
Äußerungen wie die der NRW-Ministerpräsidentin zeigen die Hilflosigkeit der Politik. Hier widersetzt sich eine relativ große Gruppe von Bürgern den vorgeschriebenen gesellschaftlichen Werten und sozialen Benimmregeln. Das bringt die Politik in die Defensive. Nicht der Überzeugungskraft und dem Charisma eines Lutz Bachmanns ist die Stärke der Bewegung geschuldet, sondern einer weitverbreiteten Distanz zur Politik (die sich auch in den stets wachsenden Zahlen der Nichtwähler widerspiegelt). Sich ehrlich und offen dem Phänomen zu stellen, würde voraussetzen, dass Politiker wie Hannelore Kraft Verantwortung für das eigene Versagen übernehmen. Die Grundhaltung von Pegida reflektiert Enttäuschung und das Gefühl, von der Politik nicht wahr- und ernstgenommen zu werden, bis hin zu einem ausgeprägten Zynismus gegenüber „denen da oben“. Diese Haltung ist in größeren Teilen der Bevölkerung ausgeprägt. Bei den Pegidademonstrationen kam zum Vorschein, was seit Langem brodelt.
Mythos 3: Es geht um die Gefahr einer Islamisierung
Überall, wo er in Europa hinkomme, beschäftigten sich Menschen mit der Frage der Zugehörigkeit, sagte der Soziologe Frank Furedi bei einer Podiumsdebatte in Stockholm im letzten Jahr. [3] Dass er Recht hat, zeigt sich u.a. an den Bewegungen, die in jedem westlichen Land in den letzten Jahren stark geworden sind und eine scheinbar nationale Sicht pflegen. Dazu gehören Jobbik, Front National, Schwedendemokraten, die wahren Finnen, Syriza, Goldene Morgenröte, UKIP usw. Diese Gruppen sind zwar sehr unterschiedlich (Jobbik z.B. begeistert sich für die Türkei [4], andere sehen in Russland ein Vorbild, wieder andere sind islamfeindlich, manche bezeichnen sich als links, andere als rechts). Ihr Entstehen aber ist eng mit der Frage verbunden, wer wir sind und wie wir in unseren jeweiligen Ländern leben wollen. Eine Variante dieser Suche nach Zugehörigkeit und Identität ist die vieldiskutierte Frage, ob der Islam zu Deutschland passe.
Offensichtlich ist, dass viele Europäer den Verlust von Werten und Lebensgewohnheiten befürchten, die ihnen wichtig sind. Sie sehen (ob berechtigterweise oder nicht) dahinschwinden, was sie an ihrem Land schätzen und lieben, und machen nicht selten Einwanderung dafür verantwortlich. Eine karikierte Form dieser Sorge ist die Behauptung, dass Weihnachten in „Winterfest“ und St. Martin in „Lichtfest“ unbenannt werden sollen, wie dies bei Pegida angeblich oft anklang. Dieses Gefühl des Verlusts griff Thilo Sarrazin in seinem Buch, Deutschland schafft sich ab mit dem Untertitel Wie wir unser Land aufs Spiel setzen geschickt auf. Die Immigration, so Sarrazin, habe unser Selbstverständnis mit „autoritären, vormodernen, auch antidemokratischen Tendenzen“ konfrontiert. [5]
Doch weder Thilo Sarrazin noch die Pegidabewegung können erklären, warum unser Selbstverständnis so leicht ins Schwanken gerät. Wenn jemand auf die Idee kommt, das Martinsfest in „Lichtfest“ umzubenennen, dann bestimmt nicht wegen des Islams. Wenn Traditionen aufgegeben werden oder der Atheismus seltsame Blüten treibt, dann hat das andere Gründe als den Zuzug von Ausländern.
Was ist es, das uns als Deutsche oder „aufgeklärte Europäer“ angeblich so anfällig macht für autoritäre islamistische Tendenzen? Warum sollten wir mittels sogenannter Islamisierung unsere Identität verlieren, unser Weihnachten abschaffen oder Tugenden wie Fleiß und Zuverlässigkeit aufgeben, nur weil Muslime unter uns leben?
„Die Abgrenzung vom Islam schafft keine eigene Identität“
Der Grund für das Unbehagen ist, dass wir uns selber nicht darüber im Klaren sind, was diese „europäischen Werte“ eigentlich sein sollten. Der Antrieb von Pegida ist nicht die eher oberflächliche Angst vor Überfremdung, sondern ein tiefes Gefühl der Entfremdung. Weder in Deutschland noch in Europa gelingt es, Identität und Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Der Anblick offenbar vitaler, fremder Glaubensgemeinschaften führt vielen Menschen schmerzlich vor Augen, was ihnen fehlt, die sie keine Kirche, keine Gewerkschaft, keine Partei, keine Nation und auch keine kosmopolitische Elite als ihre Heimat ansehen können. Schon die Frage, was wir um jeden Preis verteidigen würden, löst große Uneinigkeit aus: Meinungsfreiheit? Die Freiheit der Kunst oder der Religionsausübung? Sie scheinen alles andere als sicher. „Je suis Charlie“ war nur ein höchst flüchtiger Identifikationsversuch, ein Aufflackern eines europäischen Selbstbewusstseins. Immer wieder werden Gründe angeführt, weshalb wir z.B. Einschränkungen der Meinungsäußerung hinnehmen sollten oder weshalb die Toleranz Grenzen haben müsse. Die Angst, andere zu beleidigen und der relativistische Appell, alles und jeden zu respektieren, kommt aus der Mitte unserer eigenen Gesellschaft.
Die zum Dauerbrenner gewordene Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre, kann uns nicht davon befreien, eine Antwort auf die Frage zu finden, wer wir sind. Die Abgrenzung zu anderen bietet keine befriedigende Antwort auf die Frage der Zugehörigkeit. Sie bietet höchstens Muslimen eine Antwort, die im Gegensatz zu uns Säkularen wissen, wo sie hingehören wollen. Um unsere eigenen Fragen zu beantworten, bräuchten wir eine breite, offene Debatte, die sich nicht permanent an dieser einen Religion abarbeitet.
Mythos 4: Pegida ist eine Abwehrreaktion gegen ein multikulturelles Deutschland
„Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!“ [6], sagte Kanzlerin Angela Merkel auf dem Deutschlandtag der Jungen Union im Oktober 2010 in Potsdam. Das ist nicht richtig, denn es hat in Deutschland Multikulti nie gegeben. Zwar gab es Lippenbekenntnisse für ein „bunte Republik“, aber an der Realität einer scharfen Trennung von Inländern und Ausländern änderte dies nichts. Selbst die Enkel türkischer Gastarbeiter sind bei uns bis heute „Türken“, auch wenn sie in Deutschland geboren sind und das Land ihrer Vorfahren nur aus Urlauben kennen.
Die Kanzlerin hat allerdings Recht, wenn sie meint, dass die Ideologie von Multikulti gescheitert ist. Als solche kann die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner des Zusammenlebens in Kombination mit einem weitreichenden Relativismus verstanden werden. Statt Differenzen zu überwinden und die Ursachen der anhaltenden Aus- bzw. Abgrenzung vieler Zugezogener abzubauen, wurden die Probleme durch eine staatlich geförderte Multikulti-Ideologie überdeckt. Die Forderung nach gleichen Rechten für alle wich dem abstrakten Traum von der „Einheit in Vielfalt“. Diese wurde zum Problem, weil am Ende die Vielfalt dominierte und von Einheit zu wenig zu spüren war. Am härtesten trifft dies die Immigranten selber, die sich zum Teil tatsächlich gefährlich von der Mehrheitsgesellschaft isoliert haben.
„Es gibt nur noch wenig, was ein Gefühl der Gemeinschaft hervorrufen kann“
Statt sich der wichtigen Frage zu stellen, was unser Land zusammenhält und welche Grundsätze wir alle (unabhängig von unserer Herkunft) vertreten sollten, wurde aus der Segregation eine Tugend gemacht: Multikulti war die Fassade einer Politik, die das Ziel echter Zusammengehörigkeit längst aufgegeben hatte. Nicht nur das: Vor dem Hintergrund einer vorgegaukelten Toleranz (denn als richtig gleichwertig wurden die Kulturen natürlich nicht angesehen), wurden wichtige Debatten gar nicht erst geführt. Wenn heute die Immigration abgelehnt wird, dann liegt das vor allem an der Schwammigkeit und dem Relativismus der Multikulti-Ideologie, verbunden mit dem Dünkel ihrer Verfechter. Der Appell an Immigranten, sich besser zu integrieren, wird vor diesem Hintergrund zu einer leeren Floskel, denn in was sollen sie sich integrieren? Welche attraktive, gefestigte und für sie offene europäische Identität haben wir ihnen zu bieten?
Pegida ist somit auch eine (hilflose) Reaktion auf die Multikulti-Ideologie, die fordert, kulturelle Unterschiede zu tabuisieren und zu konservieren, statt in einer konstruktiven Debatte auf Basis starker Gemeinsamkeiten über sie zu streiten.
Mythos 5: Wir sind alle „Weltbürger“
„Politik, Medien und Sport tun so, als ob der Nationalstaat ewig bestehen müsste. In Wahrheit sind wir längst alle Weltbürger, gestehen es uns aber nicht ein“ [7] heißt es in einem FAZ-Einführungstext zu einem Beitrag des Soziologen Ulrich Beck. Doch dem Weltbürgertum steht eine ganze Menge Menschen gegenüber, die nach wie vor lokal verwurzelt sind. Das sind diejenigen, die sich nicht so leicht einen internationalen Lebensstil zulegen können und die die ganze Leere des Zeitalters der Globalisierung am deutlichsten spüren. Sie merken auch, dass sie wenig ernst genommen werden von einer wohlsituierten, urbanen „Elite“, die über ihre „Rückständigkeit“ die Nase rümpft. Der englische Publizist David Goodhart spricht von einer „städtisch-liberalen Schicht“, die hochnäsig auf andere herabschaue, die den Preis der Zuwanderung zu zahlen hätten (zum Beispiel in Form höherer Mieten oder einer Verschlechterung ihres Wohnumfelds). Ganz falsch liegt Goodhart mit seiner Beschreibung nicht. Die „anderen“ sind die eher traditionell orientierten Teile der Bevölkerung, die von einem kosmopolitischen, „multikulturellen“ Lebensstil, wie wir ihn in Berlin-Mitte finden, nicht begeistert sind. Die Konsequenz ist, dass wir statt Solidarität eine zunehmende Segregation in unterschiedliche Schichten beobachten, die zudem immer weniger miteinander ins Gespräch kommen.
Jeder Mensch, meint der Soziologe Frank Furedi, brauche etwas, mit dem er sich identifizieren könne, das größer sei, als nur das eigene „Ich“ [8]. Doch in Zeiten, da alte Bewegungen (Sozialdemokratie, Gewerkschaften, Kirchen usw.) nicht mehr in der gleichen Form existieren, gibt es nur wenig, was ein Gefühl der Gemeinschaft hervorrufen kann. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir im 21. Jahrhundert solidarische Verbindungen wiederherstellen können, die nicht künstlich sind, sondern eine wirkliche Basis in unserer Gesellschaft haben. Das Phänomen „Pegida“ stellt diese Frage, kann sie aber ebenso wenig beantworten wie seine Gegner.
Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#119 - I/2015) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.