14.06.2016
„Feministinnen interessieren sich nicht für Wahrheitsfindung“
Interview mit Christina Hoff Sommers
Der heutige westliche Feminismus bauscht Probleme auf und schwächt Frauen, indem er sie zu Opfern erklärt.
Marco Visscher: Im Rahmen der „Hollaback“-Kampagne entstand 2014 ein Film, der zeigt, was eine Frau beim Gang durch New York City an Reaktionen zu hören bekam (z.B. „Hey beautiful!“, „Hi sweetie!“, „Daaamn!“).
Christina Hoff Sommers: Dass das nervt, verstehe ich schon. Was mich daran stört und was ich für den modernen Feminismus exemplarisch finde, ist, dass diese Kampagne darauf abzielt, Gesetzgebung zu beeinflussen, um Belästigung auf der Straße verbieten zu lassen.
Was stört Sie daran, wo Sie das doch auch nervig finden?
Na, dann müsste man ziemlich viele Gefängnisse bauen. Dass man auf der Straße in bestimmten Situation von anderen ungefragt angesprochen wird, ist unvermeidlich. Das mag man unangenehm finden, aber es gehört nun mal dazu. Einer Juraprofessorin zufolge müsse es zum Menschenrecht werden, ungehindert über die Straße zu gehen. Das ist unmöglich.
Es geht hierbei natürlich nicht um den Touristen, der nach dem Weg fragt, sondern um Männer, die Frauen etwas nachrufen.
Etwas mehr Etikette würde ich selbstverständlich begrüßen. Männern sollte klar sein, dass Frauen das grundsätzlich daneben finden – wenngleich umgekehrt auch gilt, dass ein kultiviertes Lächeln oder ein Kompliment sehr nett sein können. Gibt es denn wirklich keine kreativeren Wege, soziale Umgangsformen zu verändern, als bei irgendwelchen alltäglichen Begegnungen gleich nach der Polizei zu rufen?
Menschen sollten angespornt werden und lernen, mit dem Leben umzugehen. Und zum Leben gehört auch, dass es immer Menschen gibt, die tun und sagen, was einem selbst nicht passt. Ein Gesetz, das diese Form von Belästigung auf der Straße kriminalisiert, geht mit weit mehr Unterdrückung einher, als die heutige Situation, in der manche von uns eben hinzunehmen haben, dass ihnen ab und zu jemand nachpfeift. Nicht zuletzt geht es hier übrigens um eine Klassenfrage.
„Frauen in Amerika und Westeuropa gehören zu den freiesten und unabhängigsten Menschen auf der Welt.“
Wie meinen Sie das?
Die Männer, die auf der Straße den meisten Kontakt zu Frauen suchen, sind Obdachlose und Arbeitslose. Sie sprechen mit jedem. Das Hollaback-Video zeigt das sehr deutlich, aber auch in der guten alten Zeit, als mir noch gelegentlich nachgepfiffen wurde, war das nicht anders. Wenn wir uns Frauen vor Augen führen, die eine gemütliche Shoppingtour unternehmen oder im Kostüm zu ihrer Anwaltskanzlei gehen, während ihnen Männer ohne Arbeit und Wohnung etwas hinterherrufen – sind dann die Frauen die Unterdrückten?
Gehen Sie nicht davon aus, dass in unserer Gesellschaft Frauen unterdrückt werden?
Frauen in Amerika und Westeuropa gehören zu den freiesten und unabhängigsten Menschen auf der Welt. Innerhalb unserer Gesellschaften sind sie gesünder und leben länger als Männer, sind sie in der höheren Bildung überrepräsentiert und überhaupt auf vielen Gebieten besser dran als Männer. Sie können sich entscheiden, ob sie arbeiten oder zu Hause bleiben, das steht ihnen alles offen.
Glauben Sie mir, in mehr als genug Ländern werden Frauen unterdrückt und gesetzlich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, dürfen keine Schule besuchen und sich in der Öffentlichkeit nicht frei äußern. Das ist bei uns überhaupt nicht der Fall. Deshalb ist es lächerlich, wenn bei uns immer irgendwelche Kontroversen durch die Nachrichten geistern, bei denen Feministinnen in den lautesten Tönen ernste Missstände beklagen.
„Der Feminismus von heute betont die Unterschiede. Es geht ihm um Beschuldigung, Unterdrückung und Bestrafung.“
Erinnern Sie sich noch an den britischen Biochemiker Tim Hunt, einen Nobelpreisträger, der bei einer Konferenz einen misslungenen Scherz machte, der als sexistisch verstanden wurde? Die Royal Society hat sich sofort von ihm distanziert und seine Universität zwang ihn zum Rücktritt. Oder man denke an den armen Matt Taylor, der als Projektleiter der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) eine Weltraumsonde auf einem Kometen hat landen lassen, der mit 150.000 Stundenkilometer durchs All fliegt. Bei der Pressekonferenz trug er ein Hemd mit halbnackten Frauen drauf. Das führte zu den heuchlerischsten Reaktionen. Frauen sagen doch immer, dass sie nicht nach ihrer Kleidung beurteilt werden wollen. Nun, da stand ein Mann, der ein technisches Wunder vollbracht hatte, und ein Twittermob von Meckerfeministinnen hatte nichts besseres zu tun, als den Spaß zu verderben.
Wegen solcher Äußerungen nennt man Sie wohl „Antifeministin“.
Ach, ich bin für einen Gleichheitsfeminismus, damit Männer und Frauen gleichwertig behandelt werden, nicht weil sie gleich wären – das ist nämlich nicht der Fall –, sondern weil wir Menschen sind. Mein Feminismus ist Humanismus: Er will für Frauen das Gleiche erreichen wie für alle Menschen, nämlich Freiheit, Würde, Offenheit.
Der Feminismus von heute betont stattdessen die Unterschiede. Es geht ihm um Beschuldigung, Unterdrückung und Bestrafung. Die modernen Feministinnen fordern den Schutz des „schwachen Geschlechts“ gegen männliche Raublüsternheit. Sie tun gerade so, als ob Frauen so furchtbar schwach sind, dass sie ständiger Warnungen und ständigen Beistands bedürften. Wir leben ohnehin in einer Zeit der „Trigger-Warnungen“, wo jedes Ereignis im Leben irgendwelcher Warnungen bedarf, um die zerbrechliche Frauenseele zu schonen.
Studentinnen haben dafür gesorgt, dass Dapper Laughs, ein für seine anzüglichen Scherze bekannter Komiker, seine Auftritte absagen musste. Es ist ihnen gelungen, dass der Popsong „Blurred Lines“ nicht gespielt wird, weil er zu Vergewaltigungen aufrufe. Sie boykottieren Debatten, z.B. wenn zum Thema Abtreibung ein Mann eingeladen wurde, denn wie könne es denn sein, dass ein Mann eine Meinung über Abtreibung haben darf. In Harvard hat man einen Juraprofessor gebeten, nicht über Vergewaltigungsfälle zu sprechen, da dies Traumata hervorrufen könnte. In den Literaturwissenschaften sind einige Klassiker auf einer schwarzen Liste gelantet, wie Dostojewskis „Schuld und Sühne“ oder „Der große Gatsby“ von F. Scott Fitzgerald, weil diese Bücher angeblich zur Gewalt gegen Frauen anspornen. Und so weiter.
„Moderne Feministinnen setzen sich dafür ein, dass Frauen bemitleidet werden.“
Anders betrachtet handelt es sich dabei um eine Form zivilen Ungehorsams, um als auf vielen Gebieten systematisch benachteiligte Gruppe anerkannt zu werden.
Keineswegs. Die Suffragetten setzten sich damals dafür ein, dass Frauen endlich ernst genommen werden. Die modernen Feministinnen setzen sich dafür ein, dass Frauen bemitleidet werden. Das ist meiner Meinung nach nicht nur unsinnig, sondern auch für die Frauen selbst schädlich. Feministinnen haben es zur Tugend erhoben, sich selbst als Opfer und Männer als verdächtig zu betrachten. Sie ermutigen Frauen, sich beleidigt und benachteiligt zu fühlen. Das ist furchtbar! Eine Frau sollte Männer lieben und positiv zum Leben stehen. Sie sollte etwas Humor haben und das Leben mit allen seinen Paradoxien und Unsicherheiten genießen lernen.
Feministinnen würden die ganze Gesellschaft am liebsten in einen „Safe Space“ verwandeln, aus dem jede mögliche Bedrohung verbannt wird. So schaffen sie eine Kultur, die den Eindruck erweckt, als seien Frauen in großem Umfang Opfer sexueller Gewalt und große Gruppe Männer potentielle Vergewaltiger.
Einer oft zitierten amerikanischen Studie zufolge wurde jede fünfte Studentin vergewaltigt. Tun Sie das als marginale Gruppe ab?
Das basiert auf einer wertlosen Studie. Die kenne ich. Die Forscher haben viele tausend Fragebögen verteilt und nur ein paar Dutzend zurück bekommen. Es geht also um eine sehr kleine Gruppe Befragter, die nicht repräsentativ ist, weil man in erster Linie Antworten derjenigen Frauen erhält, die gerne etwas zu dem Thema loswerden wollten.
Außerdem wurde nicht direkt gefragt, ob man schon mal vergewaltigt wurde, sondern um den heißen Brei herumgeredet. Eine Frage lautete beispielsweise, ob man schon mal mit jemanden Sex gehabt hat, obwohl man es eigentlich nicht wollte, etwa, nachdem man zuviel getrunken hatte. Nun gut, ich kann mir schon Szenarien vorstellen, wo man solchen Sex als Vergewaltigung einstufen kann. Wahrscheinlich aber hat die Frau einfach eine schlechte Entscheidung getroffen. Gleich, nachdem sie losgelegt hatte, tat es ihr schon leid. Ach herrje, dumm gelaufen. Gilt das als Vergewaltigung? In einigen Studien offenbar schon. So wird die Bedeutung des Begriffs ziemlich ausgedehnt. Und wenn man solche Ergebnisse dann auf die ganze Gesellschaft hochrechnet, entsteht Panik über eine Vergewaltigungsepidemie, die es gar nicht gibt.
„Feministinnen verfrachten uns zurück ins Viktorianische Zeitalter.“
Und doch fühlen sich immer mehr Studentinnen nach einigen Angaben sehr gefährdet.
Ja, wundert Sie das, wenn man ständig von solchen Statistiken hört? Natürlich denkt man dann, dass alle Männer so sind. Die neuen Feministinnen sind dabei, Sexualität zu regulieren und zu kriminalisieren. Sie verteilen Zustimmungsformulare, die beide Parteien unterzeichnen, bevor sie Sex miteinander haben. Kalifornien hat ein Gesetz verabschiedet, dass Hochschulen verpflichtet, z.B. obglitarorische Lehrveranstaltunge für männliche Studenten abzuhalten, wo sie lernen sollen, dass nein nein heißt und ja ja. Also wirklich! So verfrachten die Feministinnen uns in Viktorianische Zeitalter zurück. Das hat uns gerade noch gefehlt.
Gibt es Ihrer Meinung denn vertrauenswürdige Statistiken über Vergewaltigung?
Die zuverlässigsten zu diesem Thema kommen vom Staat. Dahin gehen die meisten Forschungsfelder und dort sitzen die besten Statistiker an den tauglichsten Kriminalitätsstatistiken. Sie zeigen, dass an Hochschulen eine von 52 Studentinnen vergewaltigt wurde. Jeder Vergewaltigungsfall ist natürlich einer zu viel und man muss hart dagegen durchgreifen, aber das steht in keinem Verhältnis zu den Zahlen, die die Feministinnen verbreiten.
Feministinnen interessieren sich nicht für Wahrheitsfindung, sondern führen Kampagnen durch. Wenn sie mit ihren akademischen Handlangern in den Gender Studies „Forschung“ betreiben, legen sie erst fest, was herauskommen soll – in der Regel irgendein Ausfluss der dominanten Männerkultur mit schlimmen Folgen für Frauen – und suchen anschließend nach einem Weg, das zu beweisen.
Lässt sich dem entnehmen, dass Sie Gegnerin der Gender Studies sind?
Oh nein, im Gegenteil. Das einzige, woran mir liegt, ist, dass Gender Studie auf einer wissenschaftlichen Basis erfolgen, damit sie ein objektives Bild über Männer und Frauen wiedergeben. Das ist derzeit nicht der Fall. Es herrscht keine kritische Kultur, es gibt nur Ideologen, die gegenseitig ihre Arbeit begutachten und absegnen. Ich sehe eine große Entschlossenheit, die eigene Ideologie zu verteidigen. In beinahe religiöser Form: Frauen sind gut und heilig, Männer sind schlecht und sündig.
„Wir brauchen mehr Debatten mit größerer Meinungsvielfalt.“
Wie reagieren diese Forscher auf Ihre Kritik?
Sobald man Kritik an ihren Erkenntnissen übt, schreien sie sofort, dass man sich vom Patriarchat hat einwickeln lassen, also von etwas, das in Ländern wie dem Iran fraglos besteht, hier aber ein Hirngespinst ist. Oder sie behaupten, dass Frauen so stark unterdrückt seien, dass sie nicht mal wüssten, wie sie merken, dass sie vergewaltigt worden sind. So macht man es sich leicht.
Was würden Sie den Feministinnen, die so kritisieren, sagen wollen?
Wissen Sie, mit ihnen zu reden finde ich sehr schwierig. Die lassen sich immer so schnell hinreißen... Ich bin überzeugt, dass eine Bewegung viel Unterstützung erhält, wenn sie über gute Information, positive Energie und eine gesunde Portion Humor verfügt. Der moderne Feminismus jedoch zeichnet sich durch untaugliche Propaganda, ein Gefühl moralischer Überlegenheit und verbissene Boshaftigkeit aus. Man erkennt, dass viele Feministinnen dabei sind, die Welt in einen sehr unglücklichen Ort zu verwandeln: für Männer, aber auch für sich und andere Frauen.
Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit sich das ändert?
Wir brauchen mehr Debatten mit größerer Meinungsvielfalt. Gegenreden von Forschern und Philosophen, von Männern und Frauen, müssen ihren Platz haben. Wer anderer Meinung ist, soll aufstehen und das sagen, aber nicht andere zensieren oder beklagen, dass man sich verletzt fühlt. Wir müssen sagen können, was wir denken.