01.06.2023

Europa: Der Populismus ist zurückgekehrt

Von Sabine Beppler-Spahl

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Foto: Metropolico.org via Flickr / CC BY-SA 2.0

Überall dort, wo in den letzten Monaten gewählt wurde, feierten Parteien Erfolge, die das Ziel haben, die Politik aufzurütteln.

Wenn im Juni nächsten Jahres die Europawahlen stattfinden, könnte es spannend werden. Wir dürfen mit Überraschungen rechnen, denn der Populismus ist nach Europa zurückgekehrt. Die jüngsten Wahlen in Italien, Schweden, den Niederlanden und Finnland haben die Richtung vorgegeben. In all diesen Ländern wurden Parteien an die Macht gespült, deren Ziel es ist, die herkömmliche Politik aufzurütteln. Und auch wenn es viele Kommentatoren hierzulande nicht so richtig wahrhaben wollen: Der Populismus ist gekommen, um zu bleiben.

Es begann im September, 2022 als die Wähler in Italien Giorgia Meloni von der Partei Fratelli d’Italia ins höchste Amt hievten und den früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi vom Hof scheuchten. Im gleichen Monat erzielten die populistischen Schwedendemokraten mit über 20 Prozent  der Stimmen ein Rekordergebnis, was das Ende der sozialdemokratischen Regierung in Schweden einleitete. Im März dieses Jahres errang dann die neue Bauer-Bürger-Bewegung (BoerBurgerBeweging) bei den Provinzwahlen in den Niederlanden einen fulminanten Sieg. Die Partei, die erst 2019 aus den Bauernprotesten hervorgegangen war, wurde daher nun die stärkste Kraft in der Ersten Kammer des niederländischen Parlaments (Senat). Sie bedroht somit den seit über 12 Jahren in wechselnden Koalitionen regierenden Ministerpräsidenten Mark Rutte. Bei den Wahlen in Finnland im April, konnte die Vorsitzende der Partei „Die Finnen“ mehr Einzelstimmen auf sich vereinigen als die von vielen Kommentatoren so hochgelobte sozialdemokratische Ministerpräsidentin. Auch in diesem nördlichsten Land Europas steht eine Regierungsneubildung an.Und zuletzt wurde nun, im Mai, in Spanien die herrschende Koalition bei den Kommunal- und Landtagswahlen "grausam abgestraft", wie es in einem Beitrag hieß. Aufgrund der deutlichen Niederlage, hat der Ministerpräsident vorgezogenen Neuwahlen angekündigt. 

All diese Wahlergebnisse kommen einem kleinen politischen Erdbeben gleich. Sie bringen die Unzufriedenheit vieler Bürger mit der Politik einer abgehobenen globalen Elite zum Ausdruck. In der hiesigen Presse stoßen sie zumeist auf tiefe Ablehnung. Viele Kommentatoren versuchen, die Wahlausgänge als seltsame Verirrungen von der Norm darzustellen. Von einem „verblüffenden Siegeszug“ der Rechtspopulisten spricht der Spiegel in einem Beitrag über die Bauern-Bürger-Partei. Tiefere Analysen oder auch längere Interviews mit den Repräsentanten der neuen Bewegungen bleiben die große Ausnahme, Es scheint, als wolle man die Populisten und ihre Wähler absondern. Oder, wie es der britische Soziologe Frank Furedi, der sich seit Jahren mit dem Populismus beschäftigt, ausdrückt: unter Quarantäne stellen.

„Der Populismus stellt eine notwendige Neujustierung einer Politik dar, die immer einseitiger wurde."

Erfolg werden die Populismusgegner damit nicht haben. Stattdessen laufen Europas Eliten, wie Furedi warnt, ernsthaft Gefahr, den Blick für die Realität zu verlieren. Schon die Unkenrufe über das Ende des Populismus, die während der Corona-Zeit aufkamen, haben sich als reines Wunschdenken erwiesen. So verkündete z.B. die Bertelsmann-Stiftung 2020 in ihrem Populismus-Barometer eine Trendwende und schrieb hoffnungsfroh: „Umfang und Intensität populistischer Einstellungen sind stark rückläufig, vor allem in der politischen Mitte. Der abschwellende Populismus bringt die Populisten in die Defensive.“

Dass nun wieder die Gegenseite in die Defensive geraten ist, zeigt, wie illusorisch es war, sich den Populismus einfach „wegzuwünschen“. Stattdessen wäre es an der Zeit, anzuerkennen, dass der Populismus eine wichtige demokratische Funktion erfüllt. Er sorgt dafür, dass sich die Politik wieder mehr an den Vorstellungen und Sorgen aller Bürger orientiert. So ist z.B. die Bauern-Bürger-Partei in den Niederlanden ein Ausdruck für die große Sympathie, die die protestierenden Landwirte in der Bevölkerung genießen. Seit Monaten protestieren niederländische Bauern gegen die harten Stickstoffverordnungen der Regierung Rutte. Die Verordnungen sind Teil der EU-Umwelt- und Klimaschutzvorschriften; um ihnen gerecht zu werden, müssten zahlreiche Bauern ihren Viehbestand drastisch reduzieren. Viele von ihnen fürchten aus gutem Grund um ihre Existenz. Nun fordert die Bauern-Bürger-Partei ein stärkeres Mitspracherecht ihrer Wähler bei Fragen, die die Landwirtschaft betreffen. Sie will eine Öffnung der Debatte und widerspricht dem Mantra, nur eine Verbotspolitik könne das Klima und die Umwelt retten.

Der Populismus stellt, wie Matthew Goodwin – Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kent – schreibt, die notwendige Neujustierung einer Politik dar, die immer einseitiger wurde. In seinem im Frühjahr erschienen Buch „Values, Voices And Virtue“ beschreibt er einen Prozess, den er bis in die 1980er Jahre hinein zurückverfolgt. Während die Politik zunehmend die Werte und Vorlieben einer bestimmten Schicht (er spricht von einer hochgebildeten Technokratie) widerspiegelt, wurden andere Wählergruppen an den politischen Rand gedrängt. Sie wurden zu Zaungästen bei der Durchsetzung von Maßnahmen, die ihr Land und ihr Leben tiefgreifend veränderten – und denen sie skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Nun sei es, so Goodwin, fast überall in Europa zu neuen Wählerallianzen gekommen, die das herkömmliche ‚Rechts-links-Spektrum‘ längst hinter sich gelassen haben.

„Die Versuche, den Populismus einzuhegen oder zu verbannen, sprechen für ein verqueres Verhältnis zur Demokratie."

Natürlich bleibt abzuwarten, ob und wie sich die neuen Protestbewegungen und Parteien etablieren. In den Niederlanden z.B. sind in den letzten Jahrzehnten mehrmals neue populistische Bewegungen gegründet worden. Aus ihrem begrenzten Erfolg speist sich die Hoffnung der Gegner, der Populismus erledige sich selbst. Dass die Unzufriedenheit vieler Wähler jedoch weiter angestiegen ist und sich die Spaltungen innerhalb der Gesellschaft eher vergrößern, statt verringern, wollen sie nicht wahrhaben. Stattdessen begegnen sie dem Populismus mit Gleichgültigkeit oder Verachtung, was kaum zu einer Befriedung der Lage beitragen wird. Als ein Trugschluss hat sich auch die Erwartung erwiesen, die Populisten könnten „wegsterben“, weil sie nur von alten Menschen unterstützt würden. Der Erfolg der „Finnen“ ging z.B. auf die Stimmen zahlreiche jungen Wähler zurück.

Die Versuche, den Populismus einzuhegen oder zu verbannen, sprechen für ein verqueres Verhältnis zur Demokratie. Furedi diagnostiziert eine „Demosphobie“– die Angst vor dem Demos (den Wählern). Die tiefe Abneigung, mit der große Teile des Establishments dem Populismus begegnen, erkläre sich aus ihrer psychologischen Distanz gegenüber dem Leben der normalen, arbeitenden Menschen. Nicht die Populisten schotten sich ab, sondern ihre Gegner. Sie haben kein Verständnis für die Bauern, die auf die Straße gehen und die immerhin dazu beitragen, unsere Lebensmittelversorgung zu sichern. Sie sind überzeugt davon, nur sie könnten die Komplexität der Probleme unserer Zeit richtig einschätzen. Und sie glauben, ihre Politik der Einschränkungen und Verbote sei alternativlos. Hinter dieser Arroganz aber verbirgt sich, laut Furedi, eine innere, psychologische Verunsicherung, die die Demokratie und den offenen demokratischen Geist bedroht.

Es ist kaum zu erwarten, dass die bevorstehenden Europawahlen als Chance genutzt werden, die oft festgefahrenen Fronten zwischen den Populisten und ihren Gegnern aufzulösen. Somit dürfte das, was wir in den letzten Monaten beobachten konnten, erst der Anfang eines spannenden politischen Umbruchs in Europa sein.

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