08.02.2021
„Es wird massenhaft gelöscht, was nicht gelöscht werden darf“
Interview mit Joachim Steinhöfel
Das NetzDG und die Sozialen Medien schränken die Meinungsfreiheit massiv ein. Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel hat einen Fonds mitgegründet, aus dem Prozesse für die freie Rede finanziert werden.
Novo: Herr Steinhöfel, wir leben in einer Zeit, in der das Internet es uns ermöglicht, schnell und in großen Teilen billig bis kostenlos einen Zugang zu Informationen aus verschiedenen Quellen zu bekommen, und in der eine Vielzahl neuer Medienangebote entstanden ist. Hinzu kommen die Möglichkeiten der Sozialen Medien. Das heißt, es bestehen heute eigentlich ideale Voraussetzungen für die Entstehung einer neuen digitalen Gegenöffentlichkeit. Und trotzdem scheint etwas schiefzulaufen. Sie haben sich als „Facebook-Anwalt“ einen Namen gemacht, als jemand, der dafür streitet, dass Internetplattformen wie YouTube und Facebook weiterhin ein Raum des freien Informations- und Meinungsaustausches bleiben können. Warum haben Sie so viel zu tun?
Joachim Steinhöfel: Weil so viel rechtswidrig gelöscht wird. Wobei man damit anfangen muss, dass überhaupt dagegen rechtlich mit Aussicht auf Erfolg vorgegangen werden kann, wenn dort Inhalte gelöscht werden, die – nehmen wir das mal als Arbeitsthese – von der Meinungsfreiheit gedeckt sind und auch nicht gegen die Gesetze verstoßen. Das war ja keineswegs selbstverständlich. Und in der Rechtsprechung und in der Literatur herrschte in erster Linie die Auffassung, Facebook und die anderen Sozialen Medien (Twitter, YouTube und so weiter) hätten Hausrecht, und könnten dort nach eigenem Gutdünken und den von ihnen meistens als „Gemeinschaftsstandards“ formulierten Grundsätzen so eine Art Paralleljustiz implementieren, der dann Milliarden von Menschen, die auf diesen Medien aktiv sind, Folge zu leisten hätten.
Das hatte im April 2018 ein Ende, als wir die erste einstweilige Verfügung überhaupt erwirkt haben, die Facebook das Löschen und Sperren eines legitimen Inhaltes untersagte. Kurze Zeit später gab es ein richtungsweisendes, in eine ähnliche Richtung gehendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Kern aussagte, dass Medien wie Facebook oder andere große Player, die eine wesentliche Rolle bei der Daseinsvorsorge spielen, unter bestimmten Voraussetzungen mittelbar an die Grundrechte gebunden sind. Das heißt, dass sie Artikel 3 – also den Gleichheitsgrundsatz, wonach alle Kunden/Nutzer gleich zu behandeln sind – vor allem aber Artikel 5 – die Meinungs- und Pressefreiheit – beachten müssen. Häufig kann man dies im Zivilrecht abbedingen, die Grundrechte sind im Kern Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.
Diese Entscheidung, und kurze Zeit später die von uns gegründete Initiative „Meinungsfreiheit im Netz“, waren ein Dammbruch, und führten dann in der Folge zu einer ganzen Reihe von wichtigen Entscheidungen. Kürzlich haben wir beim Oberlandesgericht Dresden wieder zwei richtungsweisende Entscheidungen erwirkt, die für den ganzen Freistaat Sachsen von großer Bedeutung sind.
„Der zweite Dammbruch war der Umstand, dass Facebook eine Petition, die auf der Bundestags-Petitionsseite veröffentlicht war, als ‚Hassrede‘ gelöscht hat.“
Der zweite Dammbruch war der Umstand, dass Facebook eine Petition, die auf der Bundestags-Petitionsseite veröffentlicht war (die also den Petitionsausschuss des Bundestages durchlaufen hat und die dann vom Petitionsausschuss auf der Webseite des Bundestages veröffentlicht wurde), als „Hassrede“ gelöscht hat. Jemand hatte sie verbreitet und nur mit dem Zusatz versehen: „Ich hab das unterschrieben. Solltet ihr auch tun.“ Die Petition sei „Hassrede“. Das war der Anlass, den Fonds zu gründen, um mit einer Kriegskasse massiv gegen diese Einschränkungen der Meinungsfreiheit vorgehen zu können. Die Kosten dieser Verfahren sind hoch, der Einzelne kann sich das nicht leisten; wenn wir Grundsatzurteile erstreiten, profitieren alle davon. Der Fonds ist in Zusammenarbeit mit Vera Lengsfeld, Alexander Wendt und Henryk M. Broder ins Leben gerufen worden, hat erhebliche Unterstützung aus der Zivilgesellschaft erfahren und macht es uns so möglich, viele Prozesse zu führen.
Sind solche Prozesse immer notwendig, um seine Meinungsfreiheit durchzusetzen?
Die Notwendigkeit ergibt sich einfach daraus, dass auch durch den Druck des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) die Sozialen Medien, wie aber auch schon vorher, massenhaft, teilweise automatisiert durch so genannte künstliche Intelligenz, die ihrem Namen nicht immer alle Ehre macht, in die freie Rede eingriffen. Ich habe das immer etwas martialisch „digitale Massenvernichtung“ freier Rede genannt. Das passiert so oft, dass damit letztlich bei 32 Millionen Deutschen potentiell in deren Kommunikationsgewohnheiten – die Grundrechtsschutz besitzen – eingegriffen wird. Dem muss man juristisch einen Riegel vorschieben und das ist uns in sehr, sehr vielen Fällen gelungen. Unsere Erfolgsquote ist enorm, die liegt bei über 90 Prozent.
Sie erwähnten bereits das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das im Oktober 2017 in Kraft getreten ist. Was macht gerade dieses Gesetz so problematisch?
Der verfassungswidrige Kern des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes besteht darin, dass er nicht nur den Netzwerken selber, sondern auch dem führenden Management Geldstrafen bis zu 50 Millionen Euro androht, für den Fall, dass bestimmte Inhalte nicht innerhalb sehr kurzer Fristen dort gelöscht werden, wenn sie „offensichtlich rechtswidrig“ sind. Was immer das sein mag. Allein die zwischenzeitlich teilweise korrigierte „Künast-Entscheidung“ belegt, wie umstritten vieles im Bereich der Meinungsfreiheit ist. Vor dem Hintergrund, dass solche Entscheidungen von Kammern, die sich in der Sache eigentlich auskennen, getroffen werden, weiß ich nicht mehr, was da überhaupt noch eindeutig rechtswidrig sein soll. Wenn man also nicht in sehr kurzen Fristen löscht, drohen Bußgelder bis zu 50 Millionen Euro, was automatisch – für jeden nachvollziehbar – dazu führt, dass Sie sich als Adressat einer solchen Summe sagen: „Dann lösch ich lieber, bevor ich für mich oder das Unternehmen ein solches Risiko eingehe.“
„Ich habe das immer etwas martialisch ‚digitale Massenvernichtung‘ freier Rede genannt.“
Das führt natürlich dazu, dass insbesondere im Grenzbereich dessen, was zulässig ist und was nicht zulässig ist, massenhaft gelöscht wird, was nicht gelöscht werden darf. Das ist die verfassungswidrige Folge. Unter namhaften Verfassungsrechtlern ist es ja unstreitig, dass dieses Gesetz vor dem Verfassungsgericht keinen Bestand haben würde, nur ist noch kein Verfahren dorthin gelangt. Die Netzwerke haben gekniffen, weil sie wohl Angst haben – vielleicht nicht ganz unbegründet –, dass wenn dieses Gesetz kassiert wird, noch massivere Regulierung aus Brüssel droht. Man hatte die Verfassungsbeschwerden teilweise schon fertig, von namhaften Juristen erstellt, hat dann aber davon abgesehen, sie einzureichen. Das ist also die Folge der Kernvorschrift: enorme Geldbußen, die, 200-mal so hoch sind als das maximale Ordnungsgeld bei einem Verstoß gegen eine einstweilige Verfügung. Das steht alles in überhaupt keinem Verhältnis zu dem, was dort geschieht oder geschehen kann, und was den Pflichten eines sozialen Netzwerks obliegt.
Welche gerichtliche Handhabe hat man als Bürger überhaupt gegen dieses Gesetz?
Keine. Sie haben nur die Möglichkeit, sich gegen die Sozialen Medien zu wehren, wenn Sie gelöscht werden und das nicht legitim ist. Das Problem besteht auch noch darin, wo man wohnt. Denn zuständig ist entweder das Gericht in Dublin, am Sitz von Facebook, Google usw., da will keiner hin, wegen Übersetzungen, Kosten und so weiter – oder am eigenen Wohnsitz. Das heißt, wenn Sie in Hamburg wohnen, ist für Sie das OLG Hamburg zuständig. Ich rate niemandem, in Hamburg Prozesse zu führen, weil die Rechtsprechung dort (die Trittbrettfahrer leider verursacht haben) bislang – wir versuchen das gerade zu ändern –, sehr nutzerunfreundlich ist. In anderen OLG-Bezirken ist es unproblematisch, mit einstweiligen Verfügungen gegen diese Löschungen vorzugehen, beispielsweise München oder Stuttgart oder Dresden oder Köln, überall dort geht das. Einige OLGs sagen „Nein, keine einstweilige Verfügung, man kann ja auch klagen“, und da kriegt man in drei Jahren oder in vier Jahren ein Ergebnis, das einem sagt: „den Post hätten Sie aber nicht löschen dürfen“. Eine Rechtseinschätzung, die letztlich auf die Verweigerung staatlichen Rechtsschutzes hinausläuft. All das muss schnell geregelt werden und muss im Eilverfahren geregelt werden. Wir kämpfen dafür, dass das sich langsam bundesweit durchsetzt.
Nun soll das NetzDG auch noch verschärft werden. Was plant die Bundesregierung hier genau, und befürchten Sie, dass diese Verschärfungen widerstandslos durchgewinkt werden?
Natürlich wird das, was an Änderungen vorgesehen ist, durchgewinkt, weil Schwarz-Rot eine Mehrheit hat, und wenn die das im Kabinett entscheiden, geht das durch. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in der letzten Legislaturperiode irgendwas den Bundestag nicht passiert hat. Vielleicht wird durch den Bundesrat noch ein bisschen rumredigiert, aber da ist auch kein Widerstand zu erwarten. Es sind bei Schwarz-Rot alle auf einer Linie, und erstaunlicherweise sämtliche Oppositionsparteien komplett – oder jedenfalls in wesentlichen Punkten – gegen dieses Gesetz; von der AfD bis zur Linken spannt sich also ein Bogen von weitestgehend identischen politischen Positionen, was sehr interessant ist.
Die ganzen Details der Änderungen habe ich mir noch nicht angesehen. Eine Änderung dürfte jedenfalls auch auf meine massiven Interventionen, auch im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages, zurückzuführen sein. Nämlich die, dass jetzt für sämtliche Streitigkeiten, die man mit den Netzwerken überhaupt hat, ein Zustellungsbevollmächtigter in Deutschland zu benennen ist. Bislang gab es unterschiedliche Rechtsprechung zu der bisherigen Regelung, die jetzt völlig eindeutig formuliert wird. Man musste bisher Abmahnungen nach Irland schicken, was genau so schnell geht wie in Deutschland, aber die Zustellung von einstweiligen Verfügungen bei 30-Tages-Sperren nach Irland war vor Ablauf der Sperre sehr schwierig. Demnächst ist es so: Wenn man sofort reagiert und sofort eine Abmahnung rauschickt und schnell eine einstweilige Verfügung bekommt, kann man in ein paar Tagen den Titel Facebook in Deutschland zustellen oder YouTube in Hamburg bei Google, Twitter dann in München (je nachdem, wo die Bevollmächtigten sitzen), und dann ist die Sperre aufzuheben.
„Da kriegt man in drei Jahren oder in vier Jahren ein Ergebnis, das einem sagt: ‚den Post hätten Sie aber nicht löschen dürfen‘. Eine Rechtseinschätzung, die letztlich auf die Verweigerung staatlichen Rechtsschutzes hinausläuft.“
Man erreicht also wirklich, dass diese Restriktionen mit gerichtlicher Hilfe unterbunden werden können. Und das ist für die Nutzer ein gigantischer Schritt in die richtige Richtung. Die Abgeordneten im Rechtsausschuss waren relativ fassungslos, dass man von den bisherigen deutschen Bevollmächtigten der Netzwerke die Zustellungen zurückbekam. Auch einstweilige Verfügungen wurden zurückgeschickt, Zustellungen vom Gerichtsvollzieher, es wurde alles einfach immer in einen Umschlag gesteckt und zurückgeschickt. Und das brachte eine Rechtsunsicherheit, die jetzt endgültig behoben ist. Das ist eine richtig positive Änderung in der Novelle. Der Rest ist letztlich aber nur das nochmalige Verschärfen eines ohnehin schon verfassungswidrigen Gesetzes.
Nun erleben wir im Zuge der Coronakrise eine bis dato präzedenzlose Einschränkung von Freiheitsrechten, zum Beispiel im Bereich der Versammlungsfreiheit. Zudem hören wir alle möglichen ziemlich illiberal anmutenden Vorschläge, zum Beispiel hat der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) angeregt, man sollte staatlich, vielleicht sogar strafrechtlich, gegen Personen vorgehen, die auf YouTube oder Facebook so genannte „Fake News“ über die Gefährlichkeit des Coronavirus verbreiten. Befürchten Sie, dass es auf diese Weise immer schwieriger werden könnte, das Phänomen Corona – das ja als Grund für die vorübergehende Aussetzung von Bürgerrechten angeführt wird – überhaupt kritisch zu beleuchten?
Herr Pistorius hat ja noch ganz andere Probleme, wie die „Achse des Guten“ sehr schön aufgearbeitet hat, mit verschwundenen Akten in seinem Ressort 1. Ich meine, er sollte den Kern seiner Tätigkeiten auf die Zustände in seinem Ministerium fokussieren.
Davon abgesehen gibt es den berühmten Satz von Rahm Emanuel, dem Stabschef der ersten Obama-Administration: „Never let a crisis go to waste“, was sinngemäß heißt, dass man in einer Krise Sachen durchsetzen kann, die man sonst niemals durchsetzen könnte. Etwas übertrieben formuliert: Nutze die Gunst der Stunde, wo du machen kannst, was du willst. Und wenn wir sehen, was im Rahmen der Coronakrise an Meinungsfreiheit redigiert wird, muss ich eigentlich nur auf ein Interview der YouTube-Chefin bei CNN Ende April 2020 verweisen, die dort gesagt hat: „Alles, was nicht auf der Linie der WHO liegt, der Weltgesundheitsorganisation, löschen wir.“ Was nichts anderes ist als das Subordinieren unter eine internationale Organisation, deren Chef Korruptionsvorwürfen ausgesetzt ist, weil er in seiner Heimat Äthiopien Choleraepidemien vertuscht hat und der mit chinesischer Hilfe an seinen Posten gekommen ist und noch Wochen, nachdem China international bereits erheblicher Kritik ausgesetzt war, China für seine „transparente“ Politik im Rahmen der Coronakrise gelobt hat. Dass eine solche Institution dann entscheidet, was man über Corona sagen darf und was nicht, möglicherweise auch noch, ob manche Länder das richtig behandeln oder nicht, ist ein unglaublicher und schon quasi totalitärer Eingriff in die Meinungsfreiheit. Natürlich würde der in Deutschland auch keinen Bestand haben. Wenn man zu sachkundigen Gerichten geht, könnte man dort auch solche Beiträge wieder von einer etwaigen Sperre befreien.
Gerade wenn solcher Overreach droht oder stattfindet, muss man gleich den Anfängen wehren, wie es so schön heißt. Diese Krise und dieses Vorgehen, abweichende wissenschaftliche Meinungen, die ja auch aus Stanford, Harvard oder Princeton stammen können, also von renommiertesten Stimmen, einfach alle zu eliminieren, ist ungeheuerlich.