30.04.2015

Einladung zur Selbstzerstörung

Analyse von Andreas Müller

Nach der Befreiung der Tiere ist der Effektive Altruismus das neueste Anliegen des Philosophen Peter Singer. Seine Bewegung setzt sich für „rationales“ Spenden ein. Die zerstörerische Ethik des Denkers hat mit dem echten Leben aber nichts zu tun, kritisiert Andreas Müller

Der „Effektive Altruismus“ ist gerade bei sozial engagierten Bürgern im Westen en vogue. Es handelt sich um eine ethische Idee, die sich zu einer sozialen Bewegung entwickelt hat. Jeder von uns soll demnach seine Zeit und sein Geld „optimal einzusetzen, um das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend zu verbessern“, wie man auf der Website der Giordano Bruno Stiftung (GBS) zum Thema erfährt. [1] Die GBS bezeichnet sich als „Denkfabrik für Humanismus und Aufklärung“ [2] und beherbergt eine bunte Truppe wie die Tierrechtler Colin Goldner und Volker Sommer, aber ebenso die Öko-Kritiker Beda M. Stadler und Udo Pollmer in ihrem Beirat. [3] Trotz der ideologisch widersprüchlichen Besetzung hat man sich auf gemeinsame Positionen geeignet, die von den Beiratsmitgliedern zumindest toleriert werden. Die Stiftung unterstützt unter anderem den „Effektiven Altruismus“.

Der Effektive Altruismus geht auf die präferenz-utilitaristische Ethik des australischen Philosophen Peter Singer zurück, der mit der Stiftung zusammenarbeitet. Wir alle sollen laut dieser Ethik die „gleichartigen“ Interessen aller empfindsamen Wesen da draußen gleichermaßen berücksichtigen. Zu den empfindsamen Wesen gehören Menschen und höher entwickelte Tiere. Unsere eigenen Interessen sollten demnach in unserer Entscheidungsfindung nicht schwerer wiegen als vergleichbare Interessen von armen Kindern in der Dritten Welt – oder von Hunden oder Delfinen oder Kamelen.

Was bedeutet diese Ethik in der Praxis? Ob wir schlafen, frühstücken oder auf die Toilette gehen: Wir – oder ein dafür zuständiger Philosoph – müssen für jeden Augenblick unseres Lebens überlegen, ob wir nicht besser hungernden Kindern in Afrika geholfen hätten. Sollen wir unser eigenes Kind zur Schule fahren oder besser eine Schule in Somalia bauen? Was auch immer mehr empfindsamen Wesen auf der Welt insgesamt mehr Freude bereitet. Singer kommt im Kapitel „Weshalb ist Töten unrecht?“ seines Hauptwerks Praktische Ethik auf den Gedanken, dass die Abwägung aller Folgen sämtlicher unserer Handlungen für alle Menschen und viele Tiere auf dem ganzen Planeten – möglicherweise ein wenig unpraktisch sein könnte. „Im wirklichen Leben können wir normalerweise nicht alle komplexen Auswirkungen unserer Wahlmöglichkeiten vorhersehen“ [4], schreibt Singer. Am Maßstab seiner Ethik ändert der Philosoph darum aber noch lange nichts. Vielmehr schließt er sich einer Unterscheidung seines Kollegen R.M. Hare an, der die kritische und die intuitive Ebene des Denkens voneinander abgrenzt.

„Die Grundrechte gelten nur, soweit sie mit Singers Ethik vereinbar sind“

„Für Philosophen oder auch nachdenkliche, selbstkritische Personen“ [5] ist demnach die kritische Denkebene vorgesehen. Leute wie Peter Singer denken zum Beispiel über die Umstände nach, „unter denen man den Nutzen maximieren kann, wenn man jemanden tötet, der gern weiterleben möchte.“ [6] Der einfache Mensch, der nicht viel nachdenkt, benötigt hingegen moralische Prinzipien. Zu den geistig simpel gestrickten Zeitgenossen zählen demnach auch einige von Singers Philosophenkollegen, nämlich Tugendethiker wie Aristoteles oder Immanuel Kant. Deren Ethik läuft schließlich auf solche Moralprinzipien hinaus.

Laut Singer gehören die individuellen Rechte, die uns vor dem Staat und übel gesinnten Mitmenschen schützen, sowie die Menschenrechte, die Forderungen an den Staat (wie einen Anspruch auf Bildung oder Wasser) stellen, zu diesen untergeordneten, „intuitiven“ Moralprinzipien. [7] Der kritisch denkende Philosoph nach Singers Definition meint zu wissen, dass diese Rechte in bestimmten Fällen nicht gelten (jedenfalls für den Menschen). Es ist lediglich für den normalen Wenig-Denker praktisch, wenn er im Alltag von der naiven Überzeugung ausgeht, dass Grundrechte allgemeingültig wären. „Ich bin nicht überzeugt davon, dass der Begriff eines moralischen Rechts hilfreich oder sinnvoll ist, außer man verwendet ihn als Kürzel, um auf fundamentalere moralische Erwägungen zu verweisen“ [8], schreibt Singer. Diese fundamentaleren Erwägungen laufen auf den Präferenz-Utilitarismus hinaus: Jene Idee, man solle seine Handlungen daran ausrichten, „das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend zu verbessern.“ Wir haben also laut Singer nur Rechte, sofern und soweit sie mit diesem grundlegenderen Ziel der Ethik vereinbar sind. Aus irgendeinem Grund fordern Singer und die GBS trotzdem einige Menschenrechte ein – für Menschenaffen. [9]

Nach der maßgeblich von Singers Ethik beeinflussten modernen Tierrechtsbewegung – mit seinem Klassiker Animal Liberation gehört Singer zu deren Gründern – ist nun also seine gesamte Ethik zu einer Bewegung geworden. Der Präferenz-Utilitarismus alias Effektiver Altruismus ist nicht länger nur etwas, das in philosophischen Fakultäten in irgendeinem Aktenordner verstaubt. Stattdessen macht sie nun Vätern ein schlechtes Gewissen, wenn sie mit ihrer kleinen Tochter in den Zirkus gegangen sind. Sie hätten schließlich die Zeit auch nutzen können, um Spenden für die Dritte Welt zu erarbeiten. Außerdem hatte Singer bereits klargestellt, dass die Haltung von Zirkustieren unethisch ist. [10] Also kann man nun zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen (praktischerweise gehören Fliegen für Singer nicht zu den „empfindungsfähigen Wesen“, sonst müsste man die Präferenz der Fliegen, nicht erschlagen zu werden, einbeziehen). Man sollte besser Spenden organisieren und sie nach Singers Vorgaben verteilen, statt mit der Tochter in den Zirkus zu gehen. Auch ansonsten sollte man es vermeiden, seine eigene Tochter gegenüber allen anderen Kindern auf der Welt zu bevorzugen.

Peter Singers Katastrophenethik

Leider ist die Gleichsetzung des eigenen mit allen anderen Kindern – und von sich selbst mit allen anderen Menschen – in dem Sinne, das wir bei unseren Entscheidungen alle gleichermaßen beachten müssen, keine übertriebene Darstellung einer Implikation des Präferenz-Utilitarismus. Peter Singer hat als Veranschaulichung seiner Ethik das inzwischen berühmte Beispiel des „ertrinkenden Kindes“ gewählt. Die Wahl ist typisch für seine Beispiele, die von einem katastrophalen Weltbild zeugen – in dem Sinne, dass Singers Welt eine einzige Katastrophe, ein riesiger Unfall, ein ununterbrochenes moralisches Dilemma ist, in dem Kinder und Tiere millionenfach leiden und sofort gerettet werden müssen. Fällt ein Sack Reis in China um, dann fällt er in Singers Welt auf ein verhungerndes Kind. Die aufopferungsvolle Hilfsethik des Denkers ist an dieses Katastrophenszenario, das für ihn die ganze Welt treffend beschreibt, angepasst.

„Diese Ethik hatte noch nie etwas mit dem Leben echter Menschen zu tun“

Auf jeden Fall besagt das Beispiel des ertrinkenden Kindes, dass wir doch gewiss in einen See springen würden, in dem wir ein Kind beim Ertrinken sehen, um es zu retten. Angenommen, wir können schwimmen, so wäre es für uns kein großes Problem, das Kind sicher an Land zu bringen. Lediglich unsere Kleider würden nass werden. Nun die zentrale Frage von Singer: „Würde es irgendeinen Unterschied machen, wenn das Kind weit entfernt wäre? Vielleicht in einem anderen Land, aber ebenso vom Tode bedroht und Sie könnten es ebenso retten. Es würde Sie nicht viel kosten und es wäre für Sie absolut ungefährlich.“ [11]

Damit möchte Singer aussagen, dass wir dieselbe Verpflichtung haben, das Kind im See zu retten wie das verhungernde Kind in Afrika. Der Effektive Altruismus greift diese Idee auf und entwickelt daraus eine systematische, „wissenschaftlich fundierte“ Handlungsanweisung. Warum nur ein Kind in einem See, an dem wir vorbeilaufen, oder in Afrika retten? Warum nicht hunderte oder tausende Kinder irgendwo auf der Welt? Wenn wir die Pflicht haben, das eine Kind zu retten, wenn wir es können, haben wir nicht auch die Pflicht, tausend Kinder zu retten, wenn wir es können? Und was ist mit den ganzen Tieren, die wir auch noch retten könnten?

„Mehr und mehr Menschen erkennen, dass sie bereits mit einem durchschnittlichen Einkommen die real bestehende Möglichkeit haben, hunderte Menschen zu retten und Abertausenden zu helfen“, schreibt die GBS. [12] Wer könnte schon etwas dagegen haben, hunderte Menschen zu retten? Bei einer solchen Rhetorik, die ethische Prämissen verschleiert, fällt es schwer, zu widersprechen. Es lässt sich hier nicht erraten, dass Singer es für eine „Pflicht“ hält – für etwas, das alle Menschen tun müssen, wollen sie nicht als moralische Monster gelten – bei seiner Weltrettungsgeschichte mitzumachen. Tatsächlich erhielt ich vor einer Weile vom Radiosender Bayern 2 einen Anruf, ob ich nicht meine Kritik am Effektiven Altruismus in einem Interview äußern könnte. Es war angeblich niemand anderes in Deutschland zu finden, der ein Problem mit Peter Singers neuer Welterlösungsformel hat.

„Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlimmes zu verhindern, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, dann sollten wir moralisch verpflichtet sein, es zu tun“, schreibt Singer. [13] Wir sind also verpflichtet, andere Menschen am anderen Ende der Welt zu retten. Unser eigenes Leben ist laut dem „Effektiven Altruismus“ lediglich „von vergleichbarer moralischer Bedeutung“ wie das von allen anderen Menschen. Wir sind nur ein Mensch von vielen Menschen, die unsererseits eine gleich große ethische Beachtung verdient haben. Wir sind lediglich ein Eintrag in der großen utilitaristischen Kosten-Nutzen-Rechnung.

Für andere Menschen leben

Wie könnte so etwas wie die Rettung von tausend Kindern in Afrika eine moralische Pflicht sein – und nicht etwas, für das man anerkannt werden mag, aber das man nicht von jedem Menschen verlangen kann? Des Rätsels Lösung ist die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „Altruismus“, wie sie in der Philosophie noch häufig verwendet wird. Das ist nämlich nicht dasselbe wie „Wohlwollen“. Mit „Altruismus“ ist eigentlich etwas anderes gemeint, als dass wir andere Menschen respektieren, sie gut behandeln und erst einmal das Beste von ihnen vermuten sollten. „Altruismus“ meint im philosophischen Sinne auch nicht einfach die Hilfe für andere Menschen.

Der Altruismus fordert, dass wir grundsätzlich nicht für uns selbst, sondern für andere Menschen leben sollen. Wir sollen also nicht ethisch handeln, weil wir selbst davon profitieren, sondern weil wir verpflichtet sind, anderen zu dienen. Urheber des Begriffs war der französische Philosoph Auguste Comte, ein Gründungsvater der Soziologie (1798-1857). Comte erläuterte den Grundgedanken seiner Ethik wie folgt: „Der soziale Standpunkt kann die Idee von Rechten nicht tolerieren, denn eine solche Vorstellung beruht auf dem Individualismus. Wir werden mit einer Bürde von Verpflichtungen jeder Art geboren, gegenüber unseren Vorfahren, unseren Nachfahren, unseren Zeitgenossen. Nach unserer Geburt nehmen diese Verpflichtungen zu oder sie sammeln sich an, denn es dauert eine Weile, bevor wir irgendeinen Dienst zurückgeben können. […] Dieses ultimative Rezept für die menschliche Moral – für andere zu leben – sanktioniert unmittelbar ausschließlich unsere Instinkte des Wohlwollens, die gemeinsame Quelle des Glücks und der Pflicht. Der Mensch muss der Menschheit dienen, der wir vollständig gehören.“ [14] Der Altruismus richtet sich also explizit gegen den Individualismus und gegen die Grundrechte. Wir sind laut Comte das Eigentum der „Menschheit“.

Wie für den Utilitarismus gibt es auch für den Altruismus à la Comte keine individuellen Rechte. Das Wohl anderer nimmt in beiden Fällen eine höhere Gewichtung oder zumindest eine gleich hohe Gewichtung ein wie unser eigenes, individuelles Wohl. Darum passen die beiden Moralphilosophien auch gut zueinander – und bei Peter Singer findet zusammen, was zusammengehört. Der Mensch erwirbt sich sein Existenzrecht laut dem Altruismus durch seinen Dienst an anderen Menschen. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, betonten einst die Nazis. „Du bist nichts, die Menschheit ist alles“, schrieb sinngemäß schon Auguste Comte. Der Wert des individuellen Menschen wird stets theoretisch negiert und praktisch ausgelöscht. Wie der britische Autor Theodore Dalrymple in seiner Kritik an Singers Philosophie bemerkt: „Es ist kaum eine neue Beobachtung, dass den größten Liebhabern der Menschheit konkrete Menschen ziemlich egal sind.“ [15]

Sind Grundrechte „Unsinn auf Stelzen“?

Philosophen sind Menschen, die Ideen ernst und beim Wort nehmen. Sie wissen nämlich, welche gravierenden Folgen Ideen in der realen Welt haben können. Nehmen wir den Effektiven Altruismus also ernst und beim Wort. Um den Hauptgedanken noch einmal auf den Punkt zu bringen: „Der effektive Altruismus (EA) ist eine Philosophie und eine soziale Bewegung, die darauf abzielt, die beschränkten Ressourcen Zeit und Geld optimal einzusetzen, um das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend zu verbessern.“ Auch mit wenig Geld lässt sich laut der GBS viel ausrichten, zum Beispiel: „Schon mit einer Spende von 200 Euro kann man mehrere hundert (!) Kinder vor schlimmen Wurmkrankheiten schützen“, betont die Stiftung. [16]

Nehmen wir an, Sie sind kein gutverdienender Bestseller-Philosoph wie Peter Singer. Sie sind vielmehr ein Straßenkehrer oder eine Bäckereifachverkäuferin und möchten aber trotzdem die Welt verbessern – alleine schon deshalb, weil sie laut Singer dazu verpflichtet sind. Um etwa monatlich 200 Euro zusätzlich aufzubringen, müssen Sie sich etwas einfallen lassen. Es ist für einen guten Zweck. Ein höherer Zweck als Ihr eigenes Leben – schließlich besagt der Altruismus, dass wir für andere Menschen leben sollen. Ich möchte nun ein bekanntes Beispiel anführen, mit dem die utilitaristische Ethik schon häufiger kritisiert worden ist: Warum überfallen Sie nicht einfach eine Bank?

„Warum verkaufen Sie nicht Ihre eigenen Kinder und finanzieren vom Erlös eine Entwurmung für tausende andere Kinder?“

Wenn Sie eine Bank überfallen, schaden Sie einigen Menschen. Sie nehmen ihnen einen Teil ihres Eigentums weg. Vielleicht wird sogar jemand beim Überfall verletzt. Der Utilitarist muss seine Kosten-Nutzen-Rechnung jedoch um eine Habenseite ergänzen. Sie haben jetzt nicht nur 200 Euro, sondern viele tausend Euro, um etwa hunderttausend Kinder vor schlimmen Wurmkrankheiten zu schützen. Insgesamt, so könnte man als Utilitarist durchaus argumentieren, verbessern Sie das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen – und Sie sparen dabei auch noch an den Ressourcen Zeit und Geld. Die Wissenschaft gebietet es geradezu, dass Sie eine Bank überfallen. Wo wir schon dabei sind: Warum verkaufen Sie Ihre eigenen Kinder nicht an Menschenhändler und finanzieren vom Erlös eine Entwurmung für tausende andere Kinder?

Aber was ist mit den Grundrechten? Was ist mit den Rechten auf Leben und Eigentum, die hier von der banküberfallenden Bäckereifachverkäuferin verletzt werden? Wie oben erwähnt: Rechte gibt es für Utilitaristen nicht – oder höchstens als Mittel zum Zweck, nämlich dem Zweck, ein möglichst großes Glück für eine möglichst große Zahl zu erreichen (klassischer Utilitarismus). Oder: Um die Präferenzen empfindungsfähiger Wesen zu erfüllen (Präferenz-Utilitarismus). Rechte sind eigentlich „Unsinn auf Stelzen“ [17], wie der einflussreiche Utilitarist Jeremy Bentham (1748-1832) notierte. Tatsächlich müssen sich Philosophen wie Peter Singer also die Frage gefallen lassen, warum man keine Verbrechen begehen sollte, um anderen Menschen und Tieren zu dienen. Wenn es in der Bilanz zu weniger Leid für empfindsame Wesen führt – warum nicht?

Der „Effektive Altruismus“ greift diese Idee auf. Die Menschen sollen demnach nicht, individuell entscheiden, wer ihre Almosen verdient hat. Selbst Wohlwollen gegenüber den schwächsten Mitgliedern unserer Gesellschaft wird dem persönlichen Urteil entrissen. Stattdessen entscheiden einige Organisationen auf „wissenschaftlicher“ Grundlage, wohin unsere Spenden zu fließen haben.

„Wir sind demnach lediglich ein Eintrag in der utilitaristischen Kosten-Nutzen-Rechnung“

Es ist übrigens keineswegs der Fall, dass diejenigen, denen die Wohlfahrt am Herzen liegt, alle bereitwillig auf Singers Zug aufgesprungen wären. Ken Berger und Robert M. Penna von der großen amerikanischen Wohlfahrtsorganisation Charity Navigator verfassten eine einflussreiche Kritik am Effektiven Altruismus. Sie betonen, dass sich Menschen häufig aus persönlichen Gründen für Bedürftige einsetzen und bestimmte Anliegen unterstützen. Man denke etwa an den Mann, dessen Tochter an Autismus leidet und der darum Geld für die Autismusforschung spendet. Die angeblich „objektiv“ richtigen Anliegen, die der Effektive Altruismus vorschreibt, führen schlimmstenfalls dazu, dass sich Menschen gar nicht mehr engagieren. Überhaupt ist der Effektive Altruismus elitär, autoritär und herablassend. „Die oberflächlich verführerische ‚Logik‘ des Effektiven Altruismus führt letztlich zu einer moralistischen, hyper-rationalistischen, von oben nach unten gerichteten Wohlfahrt. Diese Logik kann den wohlwollenden Geist abtöten, den sie angeblich fördern möchte“, schreiben Penna und Berger. [18]

Für Tiere leben

Wenn wir nur ein Rädchen im Getriebe sind, dann ist unser eigenes Leben nicht so wichtig. Wir sollen unser Leben konsequenterweise im Dienste einer „größeren“ Sache aufopfern – also unser eigenes Wohl für das Wohl anderer aufgeben. Es geht hier nicht darum, sich für etwas zu engagieren, das einem selbst wichtig ist, wie die Verbreitung eigener Ideen oder die Unterstützung einer bestimmten Wohltätigkeits- oder Forschungsorganisation. Man soll seine individuellen Bedürfnisse und Interessen vielmehr für etwas vermeintlich „Höheres“ aufgeben. In den „Zehn Angeboten“ der Giordano Bruno Stiftung wird der Gedanke mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: „Stelle dein Leben in den Dienst einer „größeren Sache“, werde Teil der Tradition derer, die die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort machen woll(t)en! […] Es scheint so, dass Altruisten die cleveren Egoisten sind, da die größte Erfüllung unseres Eigennutzes in seiner Ausdehnung auf Andere liegt.“ [19] Es könnte natürlich auch sein, dass die Egoisten die cleveren Egoisten sind. Schließlich sind ihnen die Werte, die ihr eigenes Leben bereichern, wichtiger als andere. Egoisten interessieren sich mehr für das Wohl ihrer eigenen Kinder als für das Wohl von armen Kindern in Afrika. Altruisten sind nicht cleverer, wenn sie das anders sehen.

Im Gegenteil. Wie Theodore Dalrymple schreibt: „Es gibt sicherlich niemanden auf der Welt, der nicht für die Leute, die er kennt und mag, im Vergleich zu jenen voreingenommen ist, die er entweder nicht mag oder die ihm völlig unbekannt sind. Gäbe es tatsächlich eine solche Person, dann sollten wir ihn bestenfalls als […] jemanden ansehen, der an einer seltsamen Form des Asperger-Syndroms leidet – und schlimmstenfalls als ein Monster der Unmenschlichkeit.“ [20] Akzeptiert man die Idee, dass man als individueller Mensch als solcher keinen Wert hat, sondern seinen Wert lediglich durch den Einsatz für andere erwirbt, kommt es in der Tat nicht mehr darauf an, wer oder was dieses „andere“ ist, für das man sein Leben aufopfert. Da verwundert es nicht, dass die GBS zu den förderungswerten Organisationen auch Animal Charity Evaluators (ACE) und Sentience Politics (SP) zählt.

„Die Aufwertung der Tiere und die Abwertung des Menschen sind zwei Seiten derselben Medaille“

Animal Charity Evaluators schätzt die Kosteneffizienz von Tierrechtsorganisationen ein und „berät SpenderInnen, Hilfswerke, Berufstätige und Freiwillige bezüglich effektivem Tierrechtsengagement.“ [21] Die ACE tut also gar nichts für Tiere, sondern sie berät Menschen, ist dabei aber bestimmt sehr kosteneffizient. Sentience Politics engagiert sich für politische Tierschutzmaßnahmen und lanciert gerade „politische Initiativen für mehr vegetarische und vegane Menüs in öffentlichen Kantinen.“ [22] Die GBS würde mit Sicherheit niemals auf die Idee kommen, das Angebot der vegetarischen oder veganen Menüs in den jeweiligen Kantinen den Betroffenen zu überlassen. Wer glaubt, er wüsste, wie unser Geld auf die Menschheit und Tierwelt zu verteilen ist, der weiß auch, was in öffentlichen Kantinen zu servieren ist. Es ist nur schade, dass es noch private Kantinen und Restaurants gibt, die man nicht auf wissenschaftlich-altruistischer Grundlage, also nach eigenem Gutdünken, regulieren kann.

Die Aufwertung der Tiere und die Abwertung des Menschen sind zwei Seiten derselben Medaille. Beide passen zu einer Ethik, die das Individuum – den Menschen, wie er wirklich existiert – zu einem Rädchen im Getriebe herabsetzt. Ein Rädchen, das sich nach der rationalistischen Ethik eines Elfenbeinturm-Denkers und seiner elitären Unterstützer zu drehen hat, will es nicht als unmoralisch und pflichtvergessen ausgesondert werden.

Tatsächlich gehört unser Leben nicht anderen Menschen. Wir müssen unser Existenzrecht keineswegs erst durch den Dienst an anderen verdienen. Unser Leben gehört uns. Ob und wem wir etwas spenden möchten, werden wir von daher selbst am besten wissen.


Dieser Artikel ist zuerst in der Novo-Printausgabe (#119 - I/2015) erschienen. Kaufen Sie ein Einzelheft oder werden Sie Abonnent, um die Herausgabe eines wegweisenden Zeitschriftenprojekts zu sichern.

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