26.09.2025

Eine Minderheit im Nahen Osten

Von Tizian Sonnenberg

Titelbild

Foto: kurdishstruggle via Flickr / CC BY 2.0

Im Gespräch mit einem kurdischen Freund erörtert unser Autor die Rolle der Kurden im Zwölftagekrieg zwischen dem Iran und Israel und spricht über den militanten Islam sowie die westliche Linke.

Ciwan, ein Freund und ehemaliger Kollege, wollte eigentlich wie jedes Jahr seinen Sommerurlaub in Irakisch-Kurdistan verbringen. Doch als der Zwölf-Tage-Krieg zwischen Israel und der Islamischen Republik Iran ausbrach, wartete er in Sulaimaniyya nur noch auf das „Go“, um die Grenze zum Iran zu überqueren und sich dem Stoß gegen das Mullah-Regime anzuschließen. Bei unserem Wiedersehen sprachen wir über seine Perspektive auf den Krieg – über Mossad-Verbindungen, Minderheitenrechte in der Region und die kurdische Solidarität mit Israel. Dabei zeigte sich eine tiefe Kluft zwischen postkolonial-westlichen und undogmatisch-kurdischen Linken. Ein Gespräch inklusive Nachtrag zu Katar.

Unser Treffen begann in einem linken Szenecafé in Hamburg. Dort befanden wir uns stets im Blickfeld woker – nicht nur erwachter, sondern eben auch wachsamer – Beobachter. Später, beim Spaziergang zum Spielplatz in einem Migranten- und Malocherviertel, wo das Korrektheitsmilieu eher nicht sein Biotop hat (die andere Seite der Parallelgesellschaft), konnten wir freier sprechen. Nicht, weil wir unbeobachtet waren, sondern weil wir in Gesellschaft einer Runde unverschleierter kurdischer Frauen saßen, die Gesprächsfetzen aufschnappten und mit stillem Nicken bestätigten.

Ein Sprung zurück in den Juni: Israel sorgte international für Aufsehen, als es die als Journalistin getarnte Propagandistin Sahar Emami samt Studio des iranischen Staatsfernsehens IRIB vor laufender Kamera in die Luft jagte – just in dem Moment, als sie wieder gegen den jüdischen Staat hetzte. Hinter den Kulissen liefen bereits die Vorbereitungen Israels und der Vereinigten Staaten für die spektakuläre Operation „Midnight Hammer“ gegen die iranischen Nuklearanlagen in Natanz, Fordow und Isfahan.

Zur gleichen Zeit stand ich im engen Austausch mit meinen exil-iranischen Freunden in Deutschland. Ihre Reaktionen schwankten zwischen Freude über die längst verdiente Strafe für die Mullahs, Hoffnung auf einen Regimewechsel, Angst um Angehörige, Furcht vor einer Eskalation und Sorge vor Repressionen gegen die Zivilbevölkerung.

Der Freund

Ich wollte von meinem Freund Ciwan hören, wie er all das sieht. Wir kennen uns aus der Arbeit in einer Asylbewerberunterkunft. Er ist Kurde aus dem Iran, hatte dort Psychologie studiert und war 2010, nach den Protesten der Grünen Bewegung, mit Ende zwanzig nach Deutschland gekommen. Kern der Aufstände war damals die Wahlrechtsfrage. Die Kurden hatten sich mit Forderungen nach Autonomie und Minderheitenrechten angeschlossen. Ciwan und sein Bruder wurden in diesem Zuge von Regimeschergen entführt, verhaftet und gefoltert. Nach der Haft gelang ihm die Flucht nach Deutschland.

„Auf Grundlage seiner Informationen konnten sogar einige Abschiebungen durchgeführt werden.“

In der Unterkunft arbeiteten wir beide als Sozialarbeiter. Ciwan erwies sich als besonders verlässlich darin, islamistisch orientierte Bewohner zu identifizieren und entsprechende Hinweise an die Behörden weiterzugeben. Auf Grundlage seiner Informationen konnten sogar einige Abschiebungen durchgeführt werden. Anders als die „linken“ Kollegen, die er – ähnlich wie Sahra Wagenknecht mit ihrer Kritik an den „Linksliberalen“ – schlicht „Liberale“ nannte, gemeint sind die Vorturner des woken Kapitalismus, hatten wir damit kein Problem. Unsere Vorarbeit durfte im Team jedoch niemals die Runde machen.

Also schrieb ich Ciwan per WhatsApp, schilderte ihm meine Wahrnehmung, dass die Stimmung unter den Iranern zwischen Hoffnung und Angst schwankte, und wollte seine Gedanken dazu hören. Er antwortete knapp: „Tizian, mein Lieber. Ich bin in Kurdistan. Habe viele Gedanken. Freue mich auf ein Treffen. Melde mich, wenn ich wieder in Deutschland bin.“

Mitte August trafen wir uns schließlich – ausgerechnet in einem linksalternativen Szenecafé, dessen Name irgendetwas mit Randale beinhaltete. Mein Vorschlag. Ein Fehler. Keine Ahnung, warum ich darauf kam. Vielleicht hatte ich mich vom Kulturlinken nie ganz verabschiedet. Die vermeintliche Anziehungskraft des rauen, aufständischen, subversiven Milieus entpuppt sich am Ende doch fast immer als angepasst, gratismutig, lumpenbildungsbürgerlich.

Ich war zuerst da. Deutsche Pünktlichkeit versus orientalische Gelassenheit – Hofstede hätte seine Freude gehabt. Ciwan kam eine halbe Stunde später. In der Zwischenzeit beäugte ich die Belegschaft und das Publikum. Auf dem T-Shirt der Kellnerin stand vorne „beyond borders“, hinten „sea-watch“. Aha: die gutmeinende Erfüllungsgehilfin des Schleppergeschäfts, die wohl kaum reflektiert, ob die Passagiere gen Europa nicht auch jene radikal-islamische „beyond borders“-Ideologie vertreten – die Umma –, die auf nichts Rücksicht nimmt, schon gar nicht auf die durch Grenzen geschützte Unversehrtheit des Einzelnen, dachte ich.

„Jetzt allerdings entsetzte Blicke vom Nebentisch.“

Gegenüber ein Paar: Die Frau mit Antifa-Shirt und Melonen-Anstecker, mindestens letzteres Symbol jeder palästinensischen Zumutung seit dem 7. Oktober; der Mann in zu langer Jeans und Flip-Flops, weniger szenig. Gesprächsthemen: Diagnosen, „Red Flags im Datinggame“ und „Leistungszwang“.

Dann kam Ciwan ums Eck. Er, so gar nicht passend ins Bild: Olivgrünes Hemd, schwarze Levi’s 501, fetter Schnurrbart bis über die Lippen, wie ihn die Kurden tragen, Armani-Sonnenbrille, nach hinten gegelte Haare. Feste Umarmung – zwei Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Fast automatisiert lief das Wiedersehen ab: herzlich, aber doch routiniert, denn wir wollten ja schnell zum Eingemachten vordringen. Kind, Frau, Gesundheit, Job – ein paar Gratulationen hier, gute Wünsche dort, schon waren wir beim eigentlichen Thema angelangt: Israel.

Das Gespräch beginnt

 „Na, Tizian, bist du immer noch pro-Israel oder hast du dich inzwischen dem liberalen Mainstream angepasst? Und, wie stehst du zum Krieg mit dem Iran?“ Zur Erinnerung: Er meint die linke (!) Hegemonie.

Ups – weiß er, wo wir hier sitzen, und was die Frau am Nachbartisch für einen Button trägt? Also antwortete ich zunächst behutsam:

„Zuerst einmal betrauere ich jedes zivile Opfer. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass es zum Sturz der Ayatollahs und zur Übernahme säkularer Kräfte gekommen wäre. Aber das war offenbar nicht Israels Ziel. Dennoch: Nicht Israel hat dem Iran den Krieg erklärt, sondern das islamische Regime im Iran 1979 Israel.“

Noch keine bösen Blicke. Ciwan nickte und legte los:

„Was Israel da geleistet hat, war fulminant. Endlich rollten die Köpfe der IRCG-Top-Terroristen. Wir haben gejubelt, als wir von ihrem Tod hörten, und sind Israel unendlich dankbar. Das sind genau die Leute, die die Morde an uns Kurden und Demonstranten befohlen haben. In diesem hochgejagten Fernsehsender liefen die erzwungenen Geständnisse von Unschuldigen und die Propaganda-Inszenierungen von Hinrichtungen sogenannter ‚gottloser Marxisten‘, wegen angeblicher ‚Korruption auf Erden‘.“

Jetzt allerdings entsetzte Blicke vom Nebentisch. Jedoch keine verbale Intervention. Also fuhr ich fort: „Stimmt schon. Israels Militär hat auch das iranische Nuklearprogramm um mindestens zwei Jahre zurückgeworfen. Dieses Programm war einzig darauf ausgerichtet, den jüdischen Staat per Atombombe auszulöschen. Nur habe ich den Eindruck, dass nicht alle Iraner die israelischen Schläge so feiern wie du. Eine Freundin aus Teheran – sie ist eher sozialistisch geprägt – meinte, jeder Krieg treffe irgendwann auch die Unschuldigen, nehme eine Eigendynamik an und gehe dann nicht mehr nur gegen Terror- und Nuklearinfrastruktur vor. Sie sagte sogar: ‚Unser schönes Land leidet.‘“

„Die Bande des Blutes sprengt zumindest schon der Kapitalismus.“

Weiter erinnerte ich an die deutsch-iranische Journalistin Gilda Sahebi. Sie hatte im Podcast von Paul Ronzheimer behauptet, dass bei den israelfeindlichen Demos während des Zwölf-Tage-Kriegs in Teheran und anderen Metropolen ausschließlich Regimeanhänger marschierten, bezahlt und orchestriert von den Ayatollahs. Und schloss an: „Ich glaube, Sahebi irrt. Ich spüre jetzt auch bei vielen Regimegegnern einen gewissen iranischen Nationalismus. Da heißt es dann: Wir – das Volk der Iraner – gegen Israel. Der äußere Feind eint.“

Ciwan widersprach halb:

„Sahebi hat Recht und Unrecht zugleich. 50 bis 60 Prozent der Iraner sind längst keine Muslime mehr. 80 Prozent lehnen das Regime ab. Diese Leute laufen nicht bei den Propaganda-Demos mit, das stimmt. Aber automatisch Israelfreunde sind sie deshalb noch lange nicht. Was deine iranische Freundin betrifft: Das ist das alte antiamerikanische, antizionistische Ressentiment der sozialistischen Iraner. Es war schon 1979 der Grund, warum sie diesen suizidalen Pakt mit den Mullahs eingingen: Israel als angeblicher Vorposten des Kapitalismus im Nahen Osten. Wenn’s hart auf hart kommt, kippen diese Leute. Sie identifizieren sich immer noch zu stark mit dem Iran und geben den Mullahs am Ende heimlich die Hand. Bei uns Kurden ist das anders.“

Kurden im Iran

Ciwan ist auch links, irgendwo zwischen kommunistisch und anarchistisch. Jedenfalls undogmatisch und freiheitsorientiert. Einmal sinnierten wir über den Weg zur „befreiten Gesellschaft“. Ich kritisierte, dass die Sozialisten islamischer Despotien direkt von feudalen Strukturen in die klassenlose Gesellschaft springen wollen. Archaisch geprägte Gesellschaften sollten aber erst einmal Zivilisation lernen und Aufklärung walten lassen, war mein Statement. Ciwan, der anders gestrickt war als die klassischen Parteigänger des Marxismus-Leninismus im Mittleren Osten, stimmte mir zu. Seiner Meinung nach müsse zuerst Gott entthront, die Macht der Väter gebrochen und dann das Wertgesetz eingeführt werden. Weg mit Okkultismus, Sippe und Clan. Erst ein harter Kapitalismus, damit die Menschen Individualismus verinnerlichen. Anschließend könne man über Kommunismus reden. Denn die Utopie solle das Subjekt schließlich befreien, nicht neue Fesseln anlegen. Die Bande des Blutes sprengt zumindest schon der Kapitalismus. Da wurde mir klar, dass Ciwan – bei aller Kritik – kapitalistische Akteure in der Mena-Region eher als Vorboten von etwas Besserem denn als imperiale Ausbeuter sah – womit er sich liberaler positionierte, als ihm vermutlich lieb war.

Weiter fragte ich: „Trifft euch Kurden das nervöse Um-sich-Schlagen der iranischen Fanatiker nicht besonders, wenn sie – wie jetzt – einen massiven Machtverlust erleben? Wir sehen doch heftige Repressionen und zahllose Hinrichtungen gegen alle, die man verdächtigt, mit Israel zu kollaborieren. Ihr seid doch am stärksten im Visier.“

„‚Wir Kurden sind Verbündete Israels‘, sagte Ciwan stolz.“

Ciwan seufzte: „Mein Lieber, mit oder ohne Israels Aktionen – die Islamisten finden immer einen Vorwand, uns zu töten. Mal drehen sie uns das Wasser ab, dann kappen sie den Strom oder blockieren Lebensmittelwege. Sie tun das, weil wir Kurden sind. Die Kooperation mit Israel ist nur die nächste Ausrede. Wir seien Eindringlinge, tückische Separatisten, der Feind im Inneren. Manche sagen: ‚Das Regime nehme jetzt Rache an Unbeteiligten. Schaut, was Israel da losgetreten hat.‘ Andere meinen, Israel habe zu viele Zivilisten getroffen. Aber wie viele waren es wirklich?“

„Etwa hundert, hörte ich.“

„Na siehste. Die Angriffe waren äußerst akkurat. Erinnerst du dich an Nazanin, unsere ehemalige Kollegin? Sie war in Teheran und beobachtete, wie gegenüber von ihrer Unterkunft eine Rakete zielgenau nur ein Stockwerk eines Hochhauses zerstörte. Das muss man erstmal schaffen. Zum Vergleich: 2019, bei den Benzinprotesten, erschossen die Basidschis über zweitausend unschuldige Menschen. Dagegen müsste sich die Wut richten, nicht gegen Israel.“

Kurden und der Mossad

Interessiert bohrte ich nach: „Und die Vorwürfe der Kollaboration? Ich gucke da gerade eine Serie – ‚Kampf um den Halbmond‘ heißt die, läuft auf Arte. Sie handelt von Allianzen der Kurden mit dem Mossad: in einem Fall gegen das iranische Atomprogramm, in einem anderen gegen den IS. Ist das realistisch?“

„Klar, unsere Leute arbeiten mit den Israelis zusammen. Sie spionieren, liefern Informationen, helfen bei militärischen Operationen. Wir haben dasselbe Interesse: die Mullahs ausschalten, einen Nahen Osten ohne Islamisten schaffen, demokratische Strukturen an der Seite Israels stärken. Natürlich verdächtigen die Mullahs jeden Kurden der Spionage und übertreiben maßlos. Aber Tatsache ist: Beim Zwölf-Tage-Krieg spielte unsere Zuarbeit für den Mossad eine entscheidende Rolle. Ich kenne die Serie. Israel war an der Produktion beteiligt. Nur eines war unrealistisch“, erklärte Ciwan mit unerschütterlicher Mine.

„Was denn?“, fragte ich.

„Die Soldatin der kurdischen Truppen hätte im Leben nicht mit dem Franzosen geschlafen. Unsere Kämpferinnen ziehen das Keuschheitsding wirklich durch, um sich nicht ablenken zu lassen.“

„Schon übertrieben, diese Strenge, oder?“

„Ja, klar, du kennst mich doch. Deswegen sind meine Frau und ich auch unter anderem in Deutschland. Hier müssen wir zum Glück nicht der Disziplin der kurdischen Einheiten folgen“, antwortete er.

Lächelnd warf ich ein: „Lass uns zurück zum Thema kommen, das interessiert mich zu sehr. Über die Kooperationen zwischen Kurden und dem Mossad habe ich kürzlich auch im Cicero gelesen. Der Mossad setzt stark auf ethnische Minderheiten im Iran, heißt es dort. Der israelische Geheimdienst nutzt die Opposition der Minderheiten gegen die Islamische Republik, aber auch ihre soziale Lage. Die Aktionen des Zwölf-Tage-Kriegs im iranischen Inland konnten unmöglich allein von eingeschleusten israelischen Agenten durchgeführt werden. Spione infiltrierten Drohnenbasen und Raketenstellungen und lockten Kommandeure des Regimes in unterirdische Bunker, die später gezielt bombardiert wurden. Ohne lokale Helfer wäre das nicht möglich gewesen.“

„Wir Kurden sind Verbündete Israels“, sagte Ciwan stolz.

Krieg vor der Haustür

Verdutzt bemerkte ich plötzlich: „Ach ja…, du warst ja ganz in der Nähe. Ey, da sind wir hier in unserem Politik-Talk völlig drüber hinweggekommen.“

„Wir hatten unseren Sommerurlaub wieder bei der Familie meiner Frau in Sulaimaniyya im irakischen Teil Kurdistans geplant. Zwei Tage vor dem Krieg sind wir in Erbil gelandet.“

„Krass. Lass uns zahlen und ein bisschen spazieren gehen. Die Kleine muss sich auch bewegen. Vielleicht finden wir einen Spielplatz.“ Also gingen wir los: „Hattet ihr irgendeine Vorahnung, dass der Krieg ausbrechen würde?“

„Nicht wirklich. Wir spürten nur, dass etwas in der Luft lag. Aber diese Unsicherheit, dass jederzeit etwas passieren kann, kennen wir. Auffällig war nur, dass das islamische Regime in den Monaten vor dem Krieg mehr als ein Dutzend Leute verhaftet hatte – angeblich Mossad-Agenten.“

„‚Palästinenser haben in Saddam Husseins Gefängnissen Kurden gefoltert. In Ramallah steht bis heute eine Statue zu Ehren Saddams‘, entgegnete Ciwan.“

 „Und als es dann losging?“

„Moment. Am 12. Juni, einen Tag vor der israelischen Operation, sperrte der Iran seinen Luftraum komplett. Das wurde schon in den Nachrichten als Reaktion auf die wachsenden Spannungen mit Israel und Möglichkeit eines israelischen Luftangriffs gedeutet. Gleichzeitig veröffentlichte der Verwaltungsrat der Internationalen Atomenergiebehörde eine Resolution, in der der Iran für die Nichteinhaltung seiner nuklearen Verpflichtungen verantwortlich gemacht wurde. Beides zusammen an einem Tag – da wussten wir, dass etwas passieren würde.“

„Das war für euch bestimmt aufregend und verängstigend zugleich, oder?“

„Wir dachten: zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die religiösen Familienmitglieder beteten für Israels Sieg. Ab dem 13. Juni saßen wir dann eigentlich nur noch mit der Familie vor Fernsehern und Handys und warteten auf positive Nachrichten – auf Unruhen im Iran, um die Grenze zu überqueren und bei der Befreiung mitzuwirken.“

„Oha, wie war die Stimmung?“

„Wir waren richtig gespannt, bereit für den entscheidenden Stoß. Deshalb schrieb ich dir damals so knapp.“

„Hattest du Kontakt zu Kurden im Iran?“

„Ja, aber nur, um mich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen. Die Verhaftungswellen des Regimes liefen ja schon. Israel ließ unsere Leute natürlich unversehrt.“

„Hat euch jemand Informationen gegeben?“

„Nein, da waren wir vorsichtig. Der iranische Geheimdienst war krass unterwegs. Wir in Irakisch-Kurdistan hatten aber Kontakt zu Verwandten in Israel – dort leben auch etliche Iraner und Kurden. Die waren guter Dinge und standen plötzlich alle hinter Netanjahu. Seine Statements klangen richtig nach Regime-Change. Er rief ja zu Protesten im Iran auf, um die Luftangriffe zu unterstützen. Im Nachhinein habe ich allerdings ein paar Kritikpunkte: Der Sturz der Mullahs blieb aus, und die Idee mit den Demonstrationen parallel zu den Luftangriffen war zu kurz gedacht. Außerdem: Netanjahu unterfütterte seine Rede an das Volk im Iran mit ‚Zan, Zendegi, Azadi‘ – Frau, Leben, Freiheit ­– nicht mit ‚Jin, Jiyan, Azadi‘, der kurdischen Version. Unsere wichtige Rolle in der Kooperation mit Israel hätte ruhig mehr gewürdigt werden können.“

„Verstehe. Und wie war die Atmosphäre in Irakisch-Kurdistan?“, wollte ich noch wissen.

„Überwiegend gut, hoffnungsvoll. Die irakischen Kurden stehen zu großen Teilen an Israels Seite. Mit Palästina können sie nichts anfangen. Palästinenser haben in Saddam Husseins Gefängnissen Kurden gefoltert. In Ramallah steht bis heute eine Statue zu Ehren Saddams“, entgegnete Ciwan.

Linke und der Nahe Osten

„Apropos Frau. Leben. Freiheit. Die deutschen Linken, die 2022 noch ‚Jin, Jiyan, Azadi‘ gerufen haben, skandieren jetzt ,Free Palestine‘. Ich wette, auch die Kellnerin und die Frau links neben uns im Café. Hast du nicht gesehen, wie sie geschaut haben, als wir Israel erwähnt haben und du die Schläge auf den Iran gelobt hast?“

„Nein. Ist mir auch egal. Ich habe die ,richtige Hautfarbe‘“, grinste Ciwan schelmisch.

„Ja. Hätte ich das gesagt, hätten sie sich sicher eingemischt. Früher meinte ich immer: ,Ich bin selbst Linker, aber meine größten Gegner sind Linke.‘ Seit dem 7. Oktober schäme ich mich nur noch für die deutschen Linken – und kann Ersteres auch nicht mehr mit Gewissheit behaupten“, erklärte ich.

„Es ergibt einfach keinen Sinn. Mit dem 7. Oktober wollte der Iran von der ,Jin Jiyan Azadi‘-Revolution ablenken, die begann, das Mullah-System zu destabilisieren. Im Westen hat man es geschafft, die Unterstützerinnen der feministischen Proteste auf die scheinbare Seite Palästinas zu ziehen und zu Handlangern des Terrorregimes im Iran zu machen“, sagte Ciwan.

„Krass. Du definierst dich als Linker und sagst solche Dinge so selbstverständlich“, merkte ich an.

„‚Kurden und Israelis sind beide Minderheiten in feindlicher Umgebung‘, sagte Ciwan.“

„Warum auch nicht? Linke sehen sich als Anwälte von Minderheiten. Kurden und Israelis sind beide Minderheiten in feindlicher Umgebung. Sie sind gezwungen, Souveränität zu erkämpfen, weil sie sich auf niemanden verlassen konnten und können. Kurden und Juden wird die Existenzberechtigung im Nahen und Mittleren Osten abgesprochen. Uns sagt man: ‚Kurdistan gibt es nicht‘, den Juden: ‚Israel ist ein koloniales Konstrukt‘.“

„Auf Palästina-Demos brüllen Linke gemeinsam mit Islamisten ,From the river to the sea‘ – also genau dort, wo heute Israels Kernland liegt. Und rufen hinterher ,Falastin Arabiye‘: Palästina ist rein arabisch. Der Anspruch richtet sich auf ganz Israel. Juden sollen ins Meer getrieben werden, Israel von der Landkarte verschwinden“, bemerkte ich.

Ciwan holte sichtlich geladen aus: „Diese Linken, wie du sie nennst, übernehmen damit eine islamistische Lesart des Nahen Ostens und folgen damit im Grunde einer imperialen Logik. Blut-und-Boden-Ideologie pur: Die Mena-Region sei arabisch und muslimisch, Punkt. Das stützt sowohl den Panarabismus als auch den islamischen Expansionismus. Juden gelten dort als Störenfriede. Die Erzählung lautet: Vor 1948 war alles harmonisch, dann kam der jüdische Unruhestifter. Ebrahim Raisi sagte am vierten Todestag von Qasem Soleimani: ,Er hat nicht zugelassen, dass in der Region ein zweites Israel entsteht.‘ Gemeint war Kurdistan. Das islamidentitäre Ressentiment trifft Kurden wie andere Minderheiten gleichermaßen. Der gegenwärtige Nahe Osten fußt auf Genoziden: an Christen, Armeniern, Kurden, Jesiden, Juden schon vor Israels Staatsgründung – oder jüngst in Syrien an Alawiten und Drusen. All diese Gruppen sollen nicht dazugehören. So konstruiert man die ,indigene Identität‘ (Ciwan formte mit den Fingern Anführungszeichen) der Region als ,muslimisch‘. Und die Postkolonialen fallen darauf herein.“

„Sie werfen Israel einen Genozid an den Palästinensern vor“, sagte ich.

„Unsinn. Die Hamas beabsichtigte am 7. Oktober einen Genozid an den Juden – mit denselben Methoden wie der IS gegen die Jesiden 2014/15. Weißt du, dass die IDF letztes Jahr eine jesidische Frau aus Gaza befreit hat? Sie war 2014 als Elfjährige aus dem Sindshar-Gebirge verschleppt und als Sexsklavin an einen Hamas-nahen Terroristen im Gazastreifen verkauft worden. Wer hat die Drusen verteidigt, als die Milizen von Al-Jolani sie massakrierten? Israel. Und wir Kurden kämpfen für ihre Gleichstellung in Syrien. In Qamislo, der kurdischen Großstadt in Syrien, gab es Demos für Drusen. Doch jede Autonomiebestrebung wird mit dem gleichen Stereotyp belegt: Alles Separatisten und damit gleichzeitig Zionisten. Das ist der Kern des arabischen Nationalismus und der islamischen Umma-Ideologie“, konstatierte Ciwan.

„Mir scheint, als folgen westliche Linke einer simplen Losung: ‚Gegen den Westen‘ – also unterstützenswert.“

Wir kamen auf dem Spielplatz in einem Hamburger Arbeiterviertel an. Die Kleine spielte im Sand und auf den Schaukeln mit anderen Kindern, während Ciwan und ich weiterredeten. Die Kinder gehörten zu einer Frauenrunde auf einer Decke. Als Ciwan so emotional vom Leid der Minderheiten berichtete, nickten die Frauen zustimmend. Seine positiven Worte zu Israel störten sie nicht. „Es sind kurdische Frauen“, stellte Ciwan fest. Im linken Café wäre diese Zustimmung unmöglich gewesen.

„Ich spiele mal den Advocatus diaboli“, sagte ich und fuhr fort: „Islamisten antworten auf Vorwürfe der Diskriminierung von Minderheiten stets mit: ,Seht, Kurden können doch in der Türkei in Frieden leben, der Iran hat die größte jüdische Gemeinde im Nahen Osten und Drusen müssen doch nur die neue syrische Verfassung anerkennen.‘“

„Ja, und Jesiden sollen sich versklaven lassen und zum Islam übertreten. Augenwischerei. Sie bleiben Bürger zweiter Klasse. Diejenigen Kurden, die in der Türkei akzeptiert sind, definieren sich in erster Linie über den sunnitischen Islam – das verbindet sie mit Erdoğans Autokratie. Die Juden im Iran werden als Feigenblätter des Regimes instrumentalisiert: ,Wir können gar keine Antisemiten sein. Hier leben doch so viele Juden‘. Die Realität ist: Sobald sie sich zu Israel bekennen, werden sie hingerichtet. Nach dem Zwölf-Tage-Krieg stehen auch sie unter Generalverdacht, mit Israel unter einer Decke zu stecken“, so Ciwan.

„Mir scheint, als folgen westliche Linke einer simplen Losung: ‚Gegen den Westen‘ – also unterstützenswert. „Gegen die ,weiße Mehrheitsgesellschaft‘“ – also unterstützenswert. „Anti-Kolonialismus“ – also unterstützenswert. So öffnen sie sich jedem antimodernen Akteur, aus Schuld oder Selbsthass. Dabei vergessen sie, dass sie selbst ins Visier der Islamisten geraten, die sie hier gerade unterstützen. ,Jin, Jiyan, Azadi‘ war eine Generation-Z-Bewegung im Iran. Hier begeistert sich die Gen Z für Antisemitismus, Bin Ladens ,Brief an Amerika‘ und ,Hands off Iran‘-Slogans“, sagte ich.

„Katar ist neben Iran einer der Hauptfinanziers des internationalen militanten wie legalistischen Islamismus.“

„Es sind die militanten islamischen Revolutionsgarden, die den Aufstand im Iran niederschlugen, im Ausland Oppositionelle verfolgen und Anschläge gegen kurdische, jüdische, israelische Einzelpersonen oder Einrichtungen planen. Die Hamas als iranischer Proxy hat am 7. Oktober Technofans und Friedensaktivisten massakriert, deren Lebensstil den islamischen Extremisten verhasst ist. Natürlich ist es selbstmörderisch, dass Westler sich mit dem Islamismus verbünden. Noch greifen Islamisten ihre linken und liberalen Rivalen im europäischen und amerikanischen Westen nicht direkt an – weil sie ihre Deckung nicht verlieren wollen. Aber das wird kommen. Wir kennen das aus dem Iran: Nach der islamischen Revolution 1979 knüpften die Mullahs ihre linken Unterstützer auf“, warnte Ciwan.

„Es ist so absurd. 48 Geiseln sind noch in Gaza, darunter 6 Deutsche. Von 25 vermutet man, dass sie tot sind. Interessiert unsere Regierung das überhaupt, wenn sie gleichzeitig die Waffenlieferungen an Israel stoppt?“, fragte ich.

„Neben der deutschen Staatsräson ist auch die deutsche Staatsbürgerschaft nichts mehr wert. Jamshid Sharmahd, ebenfalls ein Deutscher, wurde letztes Jahr im Iran hingerichtet“, erinnerte Ciwan zum Abschied.

Nachtrag

Israel hat nun die Köpfe des Politbüros der Hamas in Katar angegriffen – eine ähnlich präzise Aktion also, wie zuvor im Iran die Eliminierung von Ismail Haniyya oder die hier diskutierte Operation „Rising Lion“. Das Raunen der antizionistischen Weltgemeinschaft ist dasselbe: „Bruch des Völkerrechts“, Warnungen vor „Flächenbrand“ oder „Eskalation“. Wieder sollte sich eigentlich der Westen für die „Drecksarbeit“ der Israelis bedanken: Katar ist neben Iran einer der Hauptfinanziers des internationalen militanten wie legalistischen Islamismus. Moscheen und Universitäten werden auch hierzulande von den Muslimbrüdern Katars auf Linie gebracht, und in vielen arabischen Haushalten Deutschlands läuft Tag ein, Tag aus der katarische Hetzsender Al Jazeera. Anders als im Iran ist dort mit keiner nennenswerten Zustimmung der Bevölkerung zu den Militärschlägen zu rechnen.

Die Bevölkerung in Katar ist zahlenmäßig stark unausgeglichen: Auf einen katarischen Staatsbürger kommen acht bis neun Gastarbeiter. In konservativ-religiösen Kreisen existieren Sympathien für die Muslimbruderschaft und die Hamas, gleichzeitig muss die gesamte Bevölkerung dem Emir absolute Loyalität zollen, der die Hamas hofiert und die Muslimbruderschaft strategisch nutzt. Jede Auflehnung ist tabu und lebensgefährlich. Ökonomisch besteht für die ‚native‘ Bevölkerung auch kein Grund zur Revolte: Sie lebt privilegiert vom Reichtum des Staates, mit Subventionen, sicheren Jobs und ohne Steuern.

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