15.08.2025

Dschihadisten in Nadelstreifen

Von Jürgen Neucölln

Titelbild

Foto: kurdishstruggle via Flickr / CC BY 2.0

Manche bejubeln die neuen Machthaber in Syrien, bei denen es sich aber um Islamisten handelt. Eine einseitige geopolitische Sicht verschleiert diese Bedrohung.

Am 6. Dezember 2024 titelte Der Spiegel angesichts der Einnahme von Aleppo durch islamistische Gotteskrieger: „Die Welt hat Assad nie aufgehalten beim Töten. Jetzt tun es die Syrer“. Nur drei Tage später, also einen Tag nach der Einnahme von Damaskus und dem Sturz des syrischen Diktators Baschar Assad, legte die Zeit mit der Schlagzeile „Der Mauerfall-Moment des Nahen Ostens“ nach, als ob Syrien nun blühende Landschaften und ein Ende der Geschichte bevorstünden, unmittelbar nachdem die Syrer – wie von Zauberhand zum homogenen Volk vereinigt – Assad in die Flucht geschlagen hatten. Solche und ähnliche Schlagzeilen waren nach dem 8. Dezember 2024 der Tenor in der deutschen Medienlandschaft. So wenig solche Schlagzeilen dem Leser über die wahren Verhältnisse in Syrien Auskunft gaben, so viel verraten sie allerdings über das Denken (und Wünschen) in den zumeist linksliberal gesinnten Redaktionen. Die Sehnsucht nach einer syrischen Wiedervereinigung in der Post-Assad-Ära, stellt sich in Wahrheit als interessierte Verdrängung der diffusen Bürgerkriegsgeschichte wie auch der tribalistischen Gesellschaftsstruktur in Syrien dar.

Gespenster des Bürgerkriegs

Die Tendenz zu diesem Verdrängungsmechanismus war dem westlichen und ganz spezifisch dem deutschen Blick auf die syrische Katastrophe allerdings schon von Anbeginn an eingeschrieben. Man erinnere sich an die mediale Berichterstattung über die Belagerung und brutale Bombardierung des von islamistischen Gruppen besetzten Aleppo durch syrische und russische Truppen 2016, während der die deutsche Öffentlichkeit sich in bedingungsloser Solidarität mit den in der Stadt ausharrenden und als Rebellen verharmlosten Dschihadisten übte. Es ging schließlich um nichts Geringeres als um die Verhinderung eines vermeintlichen Genozids an den Syrern, wobei diese Identifikation der in Aleppo eingeschlossenen islamisch-sunnitischen Milizen mit dem syrischen Volk in toto nicht nur dazu diente, die inneren Widersprüche der syrischen Gesellschaft zu tilgen, obgleich diese durch die unübersichtlichen Frontverläufe während der gesamten Dauer des Bürgerkriegs mehr als deutlich zutage getreten waren, sondern in dieser Verdrängung sich auch ein islamophil-romantischer Blick auf den Orient ausdrückte, demzufolge nur der Islam als imaginierte Religion des Friedens das Land nach dessen Befreiung von Assad würde befrieden können.

Dabei musste stets radikal ausgeblendet werden, dass der Bürgerkrieg keine einheitliche Erhebung des Volkes oder ein gar zu romantisierender Freiheitskampf gegen ein brutales und unterdrückerisches Regime bedeutete, sondern unterschiedliche religiöse, ethnische und politische Gruppierungen von Beginn an eigene Agenden verfolgt hatten und der Konflikt zwischen dem Assad-Regime und der säkularen Opposition einerseits sowie islamistischer Banden andererseits bald zu einem Kampf aller gegen aller ums nackte Überleben eskaliert war. Der häufig changierende Status von Bündnis oder Todfeindschaft zwischen den unterschiedlichen Fraktionen in einzelnen Regionen war zumeist primär durch sich verschiebende Frontverläufe und wechselnde militärische Kräfteverhältnisse bestimmt. Die säkulare Opposition kämpfte je nach Ort, Zeitpunkt und konkreten Frontverläufen mal gegen konkurrierende islamistische Milizen, ein andermal an der Seite von Islamisten unterschiedlicher Couleur gegen Assads Truppen; die Kurden im Nordosten des Landes bekämpften Assads Truppen oder aber arrangierten sich mit ihnen gegen die Bedrohung durch den Islamischen Staat (IS); viele zu Beginn des Aufstands eher der säkularen Opposition nahestehende Christen unterstützten im späteren Verlauf notgedrungen die Regierungsseite, weil nur diese einigermaßen Schutz vor den fundamentalistischen Gotteskriegern vom IS oder der al-Nusra-Front gewährte, während die Jesiden zunächst Opfer der barbarischen Ausrottungs- und Versklavungspolitik des IS wurden und schließlich Schutz im Gebiet der Kurden fanden, die den IS schlussendlich unter massiver Hilfe eines von den USA angeführten westlichen Militärbündnisses zu bezwingen in der Lage waren. Diese multiplen Bündnisse waren zwar einerseits häufig rein taktischer Natur bzw. folgten der Logik existentieller Notwendigkeit, wurden aber auch stets durch den partikularistischen Charakter der syrischen Gesellschaft befördert, in der die ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten – zusätzlich durch familiale auf Sippe und Clan bezogene Loyalitäten strukturiert – mitunter auch überlagert wurden.1

Vom Terroristen zum Staatspräsidenten

Was also schon zu Beginn als sogenannter Arabischer Frühling mit trügerischen Hoffnungen belegt und dann von vielen westlichen Beobachtern zum Freiheitskampf der Syrer verkitscht wurde, war zu kaum einem Zeitpunkt mehr als ein Schlachtfest, in der die durch das einigende Band des sunnitischen Islam mehr schlecht als recht zusammengehaltenen diversen islamistischen Rebellen schnell die Oberhand gewannen. Das ließ aus dem 2011 beginnenden und schnell in den Bürgerkrieg übergehenden Aufstand gegen den verhassten Diktator vor allem für die zahlreichen Minderheiten im ethnisch und religiös zersplitterten Syrien einen nunmehr vierzehnjährigen Überlebenskampf werden, der für sie allerdings auch heute noch nicht beendet ist. So lebten 2011 vor Beginn des Bürgerkriegs etwa 1,5 Millionen Christen im Land, während es heutigen Schätzungen zufolge nur noch weniger als 250.000 sind. Besonders sie sind nun erneut von Ermordung und Vertreibung seitens der mittlerweile in Damaskus herrschenden Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS) bedroht, einem Bündnis verschiedener islamistischer Milizen unter Führung der salafistischen Gruppe Dschabhat Fath asch-Scham, einer Nachfolgeorganisation des syrischen Zweigs von al-Qaida, besser bekannt unter ihrem früheren Namen al-Nusra-Front. Diese hat sich mittlerweile formal von al-Qaida losgesagt und ihr vom gesuchten Terroristen zum Staatspräsidenten mutierter Kommandeur möchte heute lieber wieder unter seinem Geburtsnamen Ahmed al-Scharaa angesprochen werden, statt unter seinem früheren Kampfnamen Abu Muhammad al-Dschaulani aus der Zeit, als die USA noch ein Kopfgeld in Höhe von zehn Millionen Dollar auf ihn ausgelobt hatten, wodurch sich nun zahlreiche Nahost-Experten in ihren Analysen und Einschätzungen neuerdings wieder inflationär solch paradoxer Begriffsbildungen befleißigen wie jener von den „gemäßigten Islamisten“.

„Die ehrliche Freude über den Sturz der Assad-Herrschaft bekommt angesichts solcher eher düsteren Zukunftsaussichten einen mehr als schalen Beigeschmack.“

Solchen bereits in sich widersinnigen Nicht-Begriffen geht zumeist eine vor allem hierzulande landläufige Verwechslung von Ideologie und Strategie (sowie Taktik) voraus. Denn die von Dschabhat Fath asch-Scham im Sommer 2016 vollzogene formale Loslösung vom Terrornetzwerk al-Qaida war zunächst taktischer Natur und sollte vor allem der Fähigkeit der vormaligen al-Nusra-Front dienen, sich nach zahlreichen militärischen Rückschlägen und der Zurückdrängung in das Gebiet rund um Idlib mit anderen weniger radikalen islamistischen Milizen verbünden zu können. In strategischer Hinsicht bedeutete dies zunächst nichts weiter als die Absage an das von al-Qaida vertretene Konzept des globalen Dschihads beziehungsweise eine Beschränkung desselben auf das Gebiet Syriens. Wobei man sich auch diesbezüglich noch nicht endgültig festlegen wollte, denn Dschabhat Fath asch-Scham bedeutet übersetzt „Front für die Eroberung der Levante“, bezieht sich also geographisch auf das gesamte östlich des Mittelmeers gelegene Gebiet zwischen Euphrat und dem Sinai. Und auch im Namen des HTS, jenes Milizenbündnisses, das nach der Vertreibung von Assad nun die Macht in Damaskus innehat, kehrt dieser Bezug wieder. Denn Hai’at Tahrir asch-Scham heißt übersetzt „Komitee zur Befreiung der Levante“. Schon deshalb verbietet es sich, in Bezug auf die genannten Gruppen von syrischen Freiheitskämpfern zu sprechen, was aber durch die westliche Ignoranz gegenüber deren ideologischer Kontinuität verschleiert wird.

Auch wenn sich der zum neuen (Übergangs-)Staatschef verwandelte ehemalige al-Qaida-Terrorist Ahmed al-Scharaa bislang gegenüber dem Ausland betont gemäßigt gibt, innenpolitisch lässt der von den neuen Machthabern in Damaskus inzwischen vorgelegte Verfassungsentwurf bereits jetzt kaum Zweifel daran aufkommen, dass sie Syrien nach Maßgabe einer streng salafistischen Weltanschauung transformieren und das gesamte gesellschaftliche Leben einer sehr strikten Auslegung der Scharia zu unterwerfen planen, die insbesondere den syrischen Frauen das Leben zu einer Hölle machen wird, gegen den sich der durch al-Scharaa gegenüber der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock verweigerte Handschlag wie eine Lappalie ausnehmen dürfte.

Zudem reißen seit dem Machtwechsel die Berichte über Morde, Misshandlungen und Vertreibungen gegenüber den christlichen und alawitischen Minderheiten nicht ab, wobei insbesondere die Alawiten aufgrund ihrer behaupteten kollektiven Nähe zum ehemaligen alawitischen Machthaber Assad von zahlreichen Racheakten betroffen sind, wie nicht zuletzt die blutigen Massaker mit über tausend Toten in der Küstenprovinz Latakia Anfang März 2025 belegen. Die ehrliche Freude über den Sturz der Assad-Herrschaft, deren wahres Ausmaß an Brutalität und Bestialität in den Folterkellern des Regimes nun an die Öffentlichkeit gelangt, bekommt angesichts solcher eher düsteren Zukunftsaussichten einen mehr als schalen Beigeschmack. Vor allem wenn sie dazu verleitet, die mörderischen Übergriffe auf Alawiten und die Massakrierung wehrloser Zivilisten in relativierender Absicht als Gefechte zwischen Anhängern des alten Regimes und sogenannten „Sicherheitskräften“ der neuen islamistischen Übergangsregierung zu verharmlosen2 – oder gar in eine gänzlich ideologische Projektion abrutscht, in der die „Befreiung Syriens von der Assad-Diktatur [als] eine Sternstunde im universalen Kampf für Freiheit und Menschenwürde“ imaginiert wird, wie der Publizist Richard Herzinger es besonders pathetisch, damit zugleich aber auch stellvertretend für den hierzulande herrschenden Diskurs, formulierte.

Sunnitische Bedrohungen

Dementsprechend unterschiedlich fallen auch die internationalen Reaktionen aus. Wenngleich der Sturz Assads im Westen allenthalben begrüßt wird, so betrachten längst nicht alle Staaten die Ereignisse derart projektiv wie manch deutscher Publizist, sondern schaffen Fakten. So wie Israel, das nicht lange fackelte und die Tage nach dem Umsturz dazu nutzte, präventiv Munitionsdepots und die gesamte Luftwaffe sowie Marine der syrischen Armee zu zerstören, damit deren Waffenarsenale nicht in die Hände eines neuen unberechenbaren islamischen Gottesstaates direkt vor der eigenen Haustür fallen. Im Unterschied zu Deutschland weiß man in Israel seit der Staatsgründung aus leidvoller Erfahrung, dass der universale Kampf für Freiheit und Menschenwürde stets einer war, der nur gegen die Islamisten aller Schattierungen und nicht mit ihnen zu führen ist: eine Einsicht, die sich auch darin praktische Geltung verschaffte, dass die israelische Armee im Süden Syriens mittlerweile eine demilitarisierte Zone eingerichtet sowie die dort ansässige drusische Minderheit unter ihren militärischen Schutz gestellt hat.3 Ungeachtet dessen wird in vielen Kreisen israelsolidarischer Linker hierzulande leider weiterhin die Vorstellung gepflegt, der politische Islam sei eigentlich nur dann ein weltpolitisch bedeutsames Problem, wenn er mit dem klerikal-faschistischen Regime im Iran – und damit indirekt auch mit Russland – im Bunde stünde. Die in solchem Denken vorherrschende Vermengung von Ukraine- und Israelsolidarität zu einem geopolitischen wishful thinking, das ausschließlich die durch den Sturz Assads geschwächte Achse Moskau-Teheran im Blick hat, macht sich partiell blind für die weltweit unverändert wirksame Attraktivität vor allem des sunnitischen Islam und der mit ihm einhergehenden massenhaften Subjektdeformationen in auch immer mehr nicht originär islamischen Ländern.

„Ob Recep Tayyip Erdoğans antizionistische Vernichtungsdrohungen auch auf lange Sicht Rhetorik bleiben, ist ebenso ungewiss wie etwa al-Sharaas Offerte, den Abraham Accords beizutreten, mehr als zweifelhaft bleibt.“

Während Israels strategische Lage sich insbesondere an der Nordfront durch die Ausschaltung des Assad-Regimes tatsächlich verbessert hat, insofern die iranisch-syrischen Schmuggelrouten nach Libanon nicht mehr ohne weiteres nutzbar sind und die Hisbollah inzwischen durch Grenzgefechte mit syrischen Soldaten abgelenkt ist, muss es dennoch den Entwicklungen in Syrien mit Misstrauen begegnen, insbesondere auch angesichts des wachsenden türkischen Einflusses: Ob Recep Tayyip Erdoğans antizionistische Vernichtungsdrohungen auch auf lange Sicht Rhetorik bleiben, ist ebenso ungewiss wie etwa al-Sharaas Offerte, den Abraham Accords beizutreten, mehr als zweifelhaft bleibt. Dass Israel (und die USA) dennoch mittelfristig auf die iranische Bedrohung fokussiert bleiben werden, liegt zum einen an der greifbaren Gefahr durch dessen nukleare Bewaffnung, zum anderen an der realistischen Möglichkeit, dass dieses Regime durch ein humanes abgelöst wird: Das iranische Mullah-Regime steht nicht nur außenpolitisch durch die allmähliche Zerschlagung seiner Proxy-Armeen unter Druck, sondern ist auch im Inneren dem wachsenden Widerstand einer zunehmend säkular und islamkritisch gesinnten Opposition ausgesetzt.

Während das iranische Regime sich daheim nur noch auf eine Bevölkerungsminderheit stützen kann, ist die Durchschlagkraft seiner antizionistischen Agenda global betrachtet so groß wie nie. Das ist nicht nur westlichen Akademikern zu verdanken, die den Krieg gegen Israel an der ideologischen Front führen, sondern auch den radikalen Sunniten, die die iranische Revolution von 1979 als einen Weckruf, als Vorbild oder als eine zu übertrumpfendete Konkurrenz ansahen – und die bis heute in der vom Iran geschmiedeten „Achse des Widerstands“ (namentlich in deren Vorkämpfer: der sunnitischen Hamas) die Speerspitze einer Erlösungsbewegung sehen, der sich etwa die um ihre eigenen Pfründe besorgten arabischen Königshäuser nicht anzuschließen gewagt haben. So wie der Aufstieg des Islamismus in den vergangenen Jahrzehnten ohne die iranische Initialzündung nicht denkbar gewesen wäre, so wäre auch umgekehrt die machtpolitische und ideologische Vorreiterrolle des iranischen Regimes nicht denkbar ohne das gewaltige Echo, das dessen Revolution in der weitaus größeren und ausgedehnteren sunnitischen Welt auslöste – jedoch ohne dass deren Destruktivkräfte, die sich insbesondere in den vergangenen zwei Dekaden offenbarten, im Westen als politischer Faktor ernst genug genommen worden wären. Das mangelnde Bewusstsein für diese Bedrohung durch den sunnitischen Islam dürfte auch handlungsleitend für die 9. Internationale Syrien-Konferenz am 17. März 2025 gewesen sein, in deren Rahmen man nur wenige Tage nach den Massenmorden in Latakia der Mörderbande in Damaskus alleine aus Deutschland weitere 300 Millionen Euro an Hilfsgeldern bewilligte.

Leidtragende dieses Appeasements gegenüber den neuen islamistischen Machthabern in Damaskus dürften nicht zuletzt auch wieder die Kurden sein, deren autonome Region Rojava sich seit dem Sturz Assads massiven Angriffen seitens der mit der HTS verbündeten und maßgeblich von der Türkei unterstützten und gesteuerten islamistischen Söldnertruppe Syrische Nationale Armee (SNA) ausgesetzt sieht. Dass die von Erdoğan islamistisch regierte Türkei die Gunst der Stunde des partiellen Machtvakuums in Syrien zu ihrem Vorteil auszunutzen bestrebt ist, offenbart sich dabei nicht nur an ihrem militärischen Vorgehen gegen das von der als PKK-nah geltenden PYD regierte Kurdengebiet in Nordostsyrien, deren autonomer Status auch den um ihre Machtkonsolidierung bemühten regierenden Islamisten in Damaskus ein Dorn im Auge ist. Besondere Brisanz bekommt das militärische Vorgehen der Türkei und ihrer militärischen Proxys nicht zuletzt auch dadurch, dass in den kurdischen Gefängnissen und Gefangenenlagern seit der Niederschlagung des IS nach wie vor über 10.000 ihrer Kämpfer festgehalten werden, deren infolge der Kampfhandlungen drohende unkontrollierte Freisetzung ein Wiedererstarken des Islamischen Staates mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Region zur Folge hätte. Auch dass Erdoğan ausgerechnet jetzt versucht, mit der Verhaftung von CHP-Präsidentschaftskandidat Ekrem Imamoglu, dem einzigen ernstzunehmenden innenpolitischen Rivalen des Staatspräsidenten, die Restbestände des republikanisch-demokratischen Staatswesens in der Türkei abzuräumen, dürfte in der Wahl des Zeitpunktes kaum zufälliger Natur sein.

„Der sunnitische Islam gewinnt damit an geopolitischem Gewicht. Und das ausgerechnet im Namen einer vorgeblich wertegeleiteten Verteidigung des Westens.“

Zudem spielt es Erdoğan in die Hände, dass die militärisch hochgerüstete Türkei als Partner in den neuen sicherheits- und rüstungspolitischen Überlegungen Europas infolge der angespannten transatlantischen Beziehungen noch unverzichtbarer geworden ist, er derzeit also weder wegen der fortgesetzten militärischen Aggression gegen die syrischen Kurden noch wegen seines Vorgehens gegen die größte Oppositionspartei in der Türkei die Verhängung von Sanktionen seitens Europas fürchten muss. Der sunnitische Islam gewinnt damit auch an geopolitischem Gewicht. Und das ausgerechnet im Namen einer vorgeblich wertegeleiteten Verteidigung des Westens.

Notwendige Unterscheidungen

Dieser Entwicklung kommt entgegen, dass es der über das spezifisch israelsolidarische Milieu hinausgehenden politischen Linken in diesem Land ohnehin an jedem kritischen Begriff des Islam mangelt, weil dessen Vor- und Nachbeter vornehmlich als Opfer eines „antimuslimischen Rassismus“ von rechts imaginiert werden. Obgleich der subsidiäre Schutzstatus, auf dessen rechtlicher Grundlage ein großer Teil der hierzulande lebenden Syrer sich in Deutschland aufhält, durch den Wegfall der ihn ursprünglich begründenden Fluchtgründe zumindest für einen signifikanten Teil dieser Syrer zur Disposition stehen müsste, gibt es auch mehrere Monate nach dem Fall des Assad-Regimes bzw. dem scheinbaren Ende des Bürgerkrieges noch keine wahrnehmbare Debatte geschweige denn ernsthafte politische Schritte zur Rückführung all jener Syrer, deren subsidiäre Schutzbedürftigkeit infolge der veränderten politischen Lage in ihrem Heimatland entfallen sein dürfte.

Das ist auch insofern irritierend, da ausgehend von der These einer angeblich „islamophoben“ Stimmung im Lande, wie sie vom linksliberal geprägten öffentlichen Diskurs häufig unterstellt wird, es doch theoretisch dringend geboten sein sollte, die Sunniten, die mehr als fünfzig Prozent der infolge des syrischen Bürgerkriegs nach Deutschland gekommenen Syrer ausmachen, nicht mehr länger „Hass und Hetze“ der autochthonen Bevölkerung auszusetzen, sondern sie in das Land zurückzuführen, in dem der Islam zur neuen Staatsreligion sich aufzuschwingen anschickt. Solche Unlogik erkennt aber natürlich nur, wer seine politische Urteilskraft nicht dem „Kampf gegen rechts“ als einem alles übergeordneten moralischen Dogma untergeordnet hat, in dem Migration als etwas generell Bereicherndes und schlechthin Gutes, Remigration hingegen als Ausgeburt des Bösen vorgestellt wird. Aus dem Blick gerät dabei auch, welches Gefährdungspotential von denjenigen sunnitischen Syrern, deren Loyalität im Zweifel eher dem neuen Regime in Damaskus als deutschen Gesetzen gilt, für die hiesige innere Sicherheit ausgeht, vor allem wenn die dortigen Machthaber sich nach einer Konsolidierungsphase doch wieder dem Konzept eines globalen Dschihads zuwenden sollten.

„Aus dem Blick gerät auch, welches Gefährdungspotential von denjenigen sunnitischen Syrern, deren Loyalität im Zweifel eher dem neuen Regime in Damaskus als deutschen Gesetzen gilt, für die hiesige innere Sicherheit ausgeht.“

Doch auch die AfD samt ihrem politischen Umfeld präsentiert sich in dieser Frage keineswegs als die „Rechtsstaatspartei“, als die sie gerne wahrgenommen werden möchte, sondern lässt mit der aus ihren Reihen erhobenen spiegelverkehrten Forderung nach nun sofortiger Remigration aller Syrer ebenfalls jedes Differenzierungsvermögen und eine sich an den Maßstäben rechtsstaatlicher Verfahrensweisen orientierende Urteilsfähigkeit vermissen. Denn die im Raum stehende Frage ist genau genommen gar keine originär politische, geschweige denn moralische Frage, sondern politisch nur in dem Sinn, dass das Aufenthaltsrecht als gesetzliche Norm eindeutigen Vorgaben und Regelungen unterworfen ist, auf deren rechtsstaatskonformen Vollzug zu pochen wäre. Bei einem Individualrecht wie dem Bleiberecht hätte daraus infolge der politischen Umwälzung im Herkunftsland einzig die Forderung nach erneuter zügiger Einzelfallprüfung in allen betreffenden Fällen zu resultieren, wobei das Ergebnis angesichts der sich abzeichnenden politischen Gemengelage in Syrien individuell höchst unterschiedlich ausfallen dürfte, je nachdem ob es sich im konkreten Fall um jesidische, christliche, alawitische, kurdische, drusische oder sunnitische Syrer handelt.

Aber mit markigen Sprüchen hier und moralisierender Empathiesimulation dort lässt sich nun mal leider besser an die Affekte der je eigenen ideologisierten Klientel appellieren als mit dem nachdrücklichen Verweis auf die Einhaltung bzw. die Wiederherstellung und Durchsetzung der seit 2015 hierzulande vielfach außer Kraft gesetzten bürgerlich-rechtsstaatlichen Kodizes und Verfahrensweisen. Dabei wäre das Bewusstsein für deren Notwendigkeit die Minimalvoraussetzung, die jeder Parteinahme für das freiheitliche und säkulare Erbe des Westens zwingend vorauszugehen hätte.

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