05.12.2025
Ein Paradox wird aufgelöst
Muss die offene Gesellschaft gegenüber Intoleranz ihrerseits intolerant sein, wie Popper in seinem Toleranz-Paradox behauptet? Nicht, wenn das die Rede- und Meinungsfreiheit einschränkt.
„Keine Toleranz für die Intoleranten“ ist eine paradoxe, weil intolerante Aufforderung. Darum ist es höchste Zeit für liberale Denker, das Paradox aufzulösen.
Im ersten Band seines einflussreichen Werkes „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” hat Karl Popper dieses „Paradox der Toleranz“ stringent auf den Begriff gebracht. Seiner Ansicht ist es dem „Paradox der Freiheit“, das bereits Plato entdeckt hat, strukturell gleich: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“1
Popper lässt in der Begründung des von ihm beschriebenen Paradox keinen Zweifel daran, dass es ihm nicht allein um Handlungen gegen eine tolerante Gesellschaftsordnung geht, sondern um Gedanken, Ideen und Reden, die sich gegen eine offene Gesellschaft in seinem Sinne richten. Er plädiert zwar ausdrücklich dafür, dass intolerante Philosophen nicht gewaltsam an der Äußerung ihrer philosophischen Ansichten gehindert werden. Solange die Möglichkeit besteht, ihnen durch rationale Argumente beizukommen und solange die öffentliche Meinung in Schranken gehalten werden kann, sollte auf Zwang und Gewalt verzichtet werden. In diesem in jeder Hinsicht günstigen Fall wäre die Unterdrückung intoleranter Philosophien sogar höchst unvernünftig, da sie weit über das Ziel der friedlichen Auseinandersetzung hinausgehen würde.
Intoleranz und Grenzziehung
Doch die offene und tolerante Gesellschaft bzw. genauer gesagt: die Regierung einer offenen und toleranten Gesellschaft muss seiner Auffassung nach – falls es notwendig ist – ihr Recht in Anspruch nehmen, derartige intolerante Äußerungen mit Zwang und Gewalt, Verbot und Zensur zu unterdrücken. Es könnte sich nämlich herausstellen, dass die intoleranten Philosophen an einem friedlichen Meinungsaustausch auf der Ebene rationaler Argumentation gar nicht interessiert sind. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass sie die Möglichkeit rationaler Diskussion insgesamt bekämpfen. Unter diesem Gesichtspunkt können sie ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente zu hören und darauf einzugehen und stattdessen einen expliziten Irrationalismus verkünden. Schließlich werden sie ihren Gefolgsleuten empfehlen, mit Gewalt gegen rational gesinnte Mitglieder der offenen und toleranten Gesellschaft vorzugehen.
Im Namen der Toleranz nimmt deshalb die Regierung einer offenen und toleranten Gesellschaft das Recht in Anspruch, intolerant zu sein und die Intoleranten nicht zu dulden. Jede Bewegung, die in irgendeiner Form Intoleranz predigt, stellt sich außerhalb der Gesetze einer offenen und toleranten Gesellschaft. Rhetorische Aufforderungen zur Intoleranz und zur Verfolgung Andersdenkender sollten daher nach Ansicht des kritischen Rationalisten von den verantwortlichen Politikern als Verbrechen behandelt werden, die auf eine Stufe zu stellen sind wie Aufforderungen zur Wiedereinführung des Sklavenhandels, zu Mord und Totschlag sowie zum Raub.
„Der ‚Kampf gegen rechts‘ z.B. schließt, wie wir wissen, jede Toleranz aus.“
Damit ist das Paradox der Toleranz knapp beschrieben: Die Regierung einer toleranten und offenen Gesellschaft ist intolerant gegenüber intoleranten Äußerungen und unterdrückt sie intolerant, nämlich mit Zwang und Gewalt, Verbot und Zensur. Die einzige Rechtfertigung für dieses intolerante Verhalten, das einzige Recht, das sie dafür in Anspruch nehmen kann, ist das Recht auf Selbstbehauptung und Selbsterhaltung – als Regierung einer offenen und toleranten Gesellschaft. Popper gibt mit dem Begriff „Paradox“ wohl zu verstehen, dass er mit dieser Lösung selbst nicht glücklich ist.
In der weiteren Diskussion wurde behauptet, dass das als „Paradoxie der Selbstzerstörung“ verstandene „Paradox der Toleranz” beseitigt und aufgehoben wird, wenn Toleranz als begrenzte Einstellung und Haltung begriffen wird. Sie soll demnach als Sache der Reziprozität und Gegenseitigkeit aufgefasst werden – der Tolerante ist tolerant gegenüber Toleranten und intolerant gegenüber Intoleranten –, so dass seitens eines toleranten Menschen Intoleranz nicht toleriert werden muss und unter Umständen nicht toleriert werden darf.
Als Begründung wurde angeführt, dass Toleranz neben der Ablehnung des schädigenden Redens einerseits und der dennoch gegebenen Akzeptanz dieses Tuns und Lassens andererseits eine dritte Komponente aufweist, die Zurückweisung von störenden und unannehmbaren Äußerungen, die nicht mehr akzeptiert und damit toleriert werden können. Diese Grenzen der Toleranz sollen bereits in der Akzeptanz der abgelehnten Gedanken, Ideen und Reden impliziert sein.
Auch in diesem Fall erweckt der Akt der Grenzziehung allerdings den Eindruck von Intoleranz und willkürlichem Ausschluss unliebsamer Überzeugungen. Aus dem „Paradox der Toleranz“ ist die „Paradoxie der Grenzziehung“ geworden, ohne dass viel gewonnen ist. Wo sollen denn die Grenzen der Toleranz gegenüber der Intoleranz liegen? Nach einem weitverbreiteten Vorschlag ist nicht zu tolerierende Intoleranz dann gegeben, wenn die Mitglieder einer partikularen Gemeinschaft (und sei es auch die Mehrheit der Bevölkerung) das Recht anderer Menschen, d.h. Mitglieder einer anderen Gemeinschaft, auf Rechtfertigung ihrer Überzeugungen und Praktiken entweder verletzen oder es ihnen sogar absprechen. Diese Definition der Intoleranz ist jedoch so vage und unbestimmt, dass viele Äußerungen als „Intoleranz” interpretiert und damit intolerant zurückgewiesen werden können. Wann und wie soll noch Toleranz geübt werden, wenn jede spontane Ablehnung ohne große Mühen zur intoleranten Zurückweisung ‚ausgeweitet‘ und ‚emporgestuft‘ werden kann? Der „Kampf gegen rechts“ z.B. schließt, wie wir wissen, jede Toleranz aus.
Kelsen und die Rolle des Staates
Gegen den misslungenen Umgang mit dem Paradox ist festzuhalten, dass Toleranz zum ersten aus Ablehnung und Akzeptanz besteht, zum zweiten keine Zurückweisung kennt und zum dritten unbegrenzt ist. In aller Konsequenz hat diese radikale Position, soweit mir bekannt ist, bisher allein der große liberale Jurist Hans Kelsen vertreten, der in seiner leider wenig bekannten Schrift: „Was ist Gerechtigkeit?” schreibt: „Kann Demokratie tolerant bleiben, wenn sie sich gegen anti-demokratische Umtriebe verteidigen muss? Sie kann es! In dem Maße, als sie friedliche Äußerungen anti-demokratischer Anschauungen nicht unterdrückt. Gerade durch solche Toleranz unterscheidet sich Demokratie von Autokratie. Wir sind berechtigt, Autokratie abzulehnen und auf unsere demokratische Staatsform stolz zu sein, nur solange wir diesen Unterschied aufrechterhalten. Demokratie kann sich nicht dadurch verteidigen, dass sie sich selbst aufgibt.”2
Ohne dass Kelsen dies selbst beansprucht, ist damit das „Paradox der Toleranz” aufgelöst. Grundlegend ist dabei, wie der liberale Jurist betont, die Unterscheidung zwischen Reden und Handeln. Während nach liberaler Anschauung alle Meinungen, alle Gedanken und Ideen so frei wie möglich – Ausnahmen allein nach Art. 5 Abs. 2 GG – geäußert werden dürfen, ist jeder Staat, auch der demokratische Verfassungsstaat, verpflichtet, bestimmte gesellschaftlich abgelehnte und zurückgewiesene Handlungen zu unterbinden und zu bestrafen. Der Staat, wenn wir ihn als Akteur und damit als Person betrachten, kann gegenüber bestimmten sozial geächteten Verhaltensformen nur in der Weise der Intoleranz (als „zero tolerance“ hat die unter diesem Begriff gefasste Strategie der Kriminalitätsbekämpfung und -prävention einige Aufmerksamkeit erlangt) reagieren und in diesem Vorgehen seine Existenzberechtigung nachweisen. Zu Recht gilt die Feststellung: Nicht z.B. der Staat, „nur Menschen können streng genommen tolerant sein.“3
„Die Bürger demokratischer Verfassungsstaaten haben sich die Räume der Freiheit, vor allem die Rede- und Meinungsfreiheit, in einem mit der Reformation einsetzenden Prozess erkämpft.“
Um diese Reflexionen noch etwas weiter auszuführen: Das äußerste und zweifellos wirksamste Mittel der sozialen Kontrolle, zu deren Zweck jede politische Ordnung und damit jeder Staat im weitesten Sinne errichtet worden ist, stellt die physische Gewalt dar. Sogar in den demokratischen Verfassungsstaaten, die ihren Bürgern jedmögliche Freiheit nicht nur in den Äußerungen, sondern auch im Handeln zu gestatten suchen, ist die Gewalt, allen offenen und toleranten Umgangsformen zum Trotz, die ultima ratio. Kein Staat, auch nicht der demokratische Verfassungsstaat, kann ohne Polizei bzw. Militär existieren, die im Zweifelsfall eingreifen und intervenieren können. Zwar braucht der Staat in einer Demokratie nicht allzu oft in der direkten Gewalt seine Zuflucht zu nehmen, doch kann auch er auf ungezählte Vorstufen – Warnungen, Drohungen, Verweise usw. – zurückgreifen, um in einem Konflikt – letzten Endes: in einem Machtkampf – seinen Willen durchzusetzen und in intoleranter Repression störende und unannehmbare Handlungen und Verhaltensweisen zu unterdrücken.
In den demokratischen Verfassungsstaaten der westlichen Welt, in denen im Sinne des herrschenden Kontraktualismus der freiwillige Konsens und die freiwillige Zustimmung der Bürger zu der in ihrem Namen erlassenen Gesetzgebung betont wird, unterschätzt man bewusst oder unbewusst die ständige Präsenz der Amtsgewalt. Doch Gewalt ist, wie schon hervorgehoben, das Fundament jeder politischen Ordnung. Da sie auf die Dauer aber ziemlich unpraktisch ist und ihren angestrebten Erfolg zwangsläufig verfehlt, vertrauen staatliche Behörden in vielen Fällen auf die Einschüchterung, die vom bloßen Wissen um die Existenz der Gewaltmittel ausgeht. Aus mancherlei Gründen ist ein derartiges Vertrauen in jeder Gesellschaft gerechtfertigt, die nicht gerade am Rande des Zusammenbruchs steht. Gerade in demokratischen, offenen und toleranten Gemeinschaften halten sich die meisten Bürger für Vertreter eben jener Werte, also z.B. der Offenheit und der Toleranz, in deren Namen staatliche Gewalttaten begangen werden. Das heißt ganz einfach, dass die große Masse staatliche Gewaltanwendung als solche billigt. Nahezu alle Menschen leben deswegen in Gesellschaften, in denen, wenn alle anderen Mittel versagen, offiziell und legal mit Gewalt gegen gesellschaftsschädigendes Verhalten vorgegangen wird.
Rechte und Freiheiten im Verfassungsstaat
Dennoch unterscheiden sich demokratische Verfassungsstaaten von allen anderen politischen Gemeinwesen durch den Faktor, dass sie ihren Bürgern gewisse Rechte, Menschen- und Bürgerrechte, gewähren, die metaphorisch als Räume der Freiheit interpretiert werden können. Historisch zutreffender ist jedoch die Feststellung, dass die Bürger demokratischer Verfassungsstaaten sich diese Räume der Freiheit, vor allem die Rede- und Meinungsfreiheit, in einem mit der Reformation einsetzenden Prozess erkämpft haben, dass sie die Entscheidung darüber erstritten haben, zu bestimmen, in welche Bereiche der Staat eingreifen und intervenieren darf und in welche nicht.
Dieses auf die geschichtliche Entwicklung verweisende Urteil ist wichtig, weil jeder Anschein vermieden werden muss, als ob die garantierten Rechte und Freiheiten allein vom Staat gewährt würden – der sie bei Bedarf auch wieder widerrufen und gewissermaßen zurückholen könnte. Vielmehr sind es die Bürger, die auf ihren Rechten und Freiheiten als einem „Geschenk des Himmels“ (Denis Diderot) bestehen und von ihren politischen Repräsentanten verlangen, diese Rechte und Freiheiten in der Verfassung der politischen Ordnung zu verankern. Andererseits fordern sie vom Staat ebenso, die grundlegende Aufgabe eines politischen Gemeinwesens zu erfüllen, nämlich für die innere und äußere Sicherheit zu sorgen, verständlicherweise auch für die Sicherung der Rechte und Freiheiten, d.h. mit anderen Worten: gegen die abgelehnten und unannehmbaren Verhaltensweisen vorzugehen, die den Interessen, Gefühlen und Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft zuwiderlaufen. Wenn man so will, kann diese Argumentationsfigur, in der au fond zwei widerstrebende Tendenzen zusammengefasst werden, als „der Mythos des demokratischen Verfassungsstaats“ bezeichnet werden.
„Das politische Geschick der Gesetzgebung in demokratischen Verfassungsstaaten besteht darin, Freiheit und Sicherheit der Bürger im Alltagsleben miteinander ins Gleichgewicht zu bringen.“
Heißt das nun, dass mindestens in der Gewährung von Rechten und Freiheiten der Staat tolerant geworden ist? Nein, denn der demokratische Verfassungsstaat toleriert nicht, sondern hält die von ihm anerkannten Rechte und Freiheiten für Adiaphora, für gleichgültige Dinge, die seinen wesentlichen Auftrag nicht berühren. Er verpflichtet sich, die Menschen- und Bürgerrechte zu sichern und sie nicht zu verletzen, weil er in der Ausübung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten, vor allem in friedlichen Reden und Äußerungen, keine Handlungen und Aktionen erkennt, die seinen Interessen und Bedürfnissen zuwiderlaufen. Das ist aber keine Toleranz, sondern Indifferenz und Gleichgültigkeit.
Das politische Geschick der Gesetzgebung in demokratischen Verfassungsstaaten besteht darin, Freiheit und Sicherheit der Bürger im Alltagsleben miteinander ins Gleichgewicht zu bringen. Die Geschichte dieser Staatsform seit der „Glorious Revolution“ 1689 macht deutlich, dass dies auch einigermaßen gelingen kann, wobei manche Parlamente und Repräsentativversammlungen sicherlich geschickter und klüger waren als andere. Ein Paradox der Toleranz zeigt sich darin jedoch nicht.
Und wie kann sich, um die Ängste Poppers noch einmal aufzunehmen, eine Demokratie bzw. ein demokratischer Verfassungsstaat vor der Selbstzerstörung schützen, wie kann er sich gegen undemokratische Anschauungen und Meinungen verteidigen? Mit Sicherheit nicht durch Zwang und Gewalt, durch Verbote und Zensur, durch Ausgrenzung und die Aufhebung von Menschen- und Bürgerrechten, sondern allein durch die besseren Argumente – „sine vi, sed verbo“ sagt der Reformator Martin Luther –, die mindestens die Mehrheit der Bürger überzeugen. Wer diesen Weg nicht einschlagen will, sollte sich eingestehen, dass er die liberale Demokratie nicht für eine geeignete Staatsform hält, und aufhören, vom „Paradox der Toleranz“ zu raunen.