29.07.2020

Die Viruslast und das Kippfenster

Von Christian Saalberg

Gegen die Ansteckung mit dem Coronavirus hilft Lüften und sich draußen aufhalten. Von Masken und Social Distancing sollten wir uns weitgehend verabschieden.

Wo bleibt sie eigentlich – die Sommerpause von Corona? Im Frühjahr wurde uns doch erklärt, nach der ersten Welle ist Pause und dann geht es im Herbst wieder weiter. In Deutschland hat es ja auch geklappt, da hat wohl der „totale Lockdown“ das Virus fast besiegt. Aber was ist mit den aktuellen Zahlen aus Texas, Florida, Brasilien oder nun schon wieder Spanien? Sind die Politiker in Katalonien unfähig und nur wir in Mitteleuropa sind so wohlorganisiert, dass die Welle brach?

Nein, wohl eher nicht. Bei den neuen Hotspots des Virus gibt es ein erkennbares Muster. Aber bevor ich das erklären kann, muss ich erst eine Meldung von Anfang des Monats vorstellen. Die WHO, also die Organisation, die für unser aller gesundheitliches Wohl zuständig sein möchte, hat nun endlich die Verbreitung des Coronavirus über Aerosole anerkannt. Das hat ein paar Monate gedauert. Bislang ging man nur von der Möglichkeit der Tröpfcheninfektion aus.

Was bedeutet das? Tröpfchen fliegen durch die Luft und landen direkt auf einer anderen Oberfläche, einer Türklinke, dem Einkaufswagen oder der Haltestange im Bus oder am besten gleich in Mund und Nase des Gegenübers. Seit vier Monaten wird nun desinfiziert, was das Zeug hält. Überall könnten Tropfen von Corona draufgehustet worden sein und diese müssen weg. Als fleißiger Hörer von Drostens Corona-Podcast konnte man aber schon Mitte Mai hören, dass die Übertragung über Flächen eher unwahrscheinlich ist; ja, dass es noch keinen einzigen Fall gab, bei dem eine Infektion nachweislich über eine Oberfläche erfolgt wäre.

Die WHO müsste folglich bis vergangene Woche davon ausgegangen sein, dass alle Infektionen über Husten oder feuchte Aussprache gingen. Obwohl mehr als 80 Prozent der Infizierten symptomlos waren und definitiv nicht husteten. Langsam verstehe ich Trumps Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Organisationen und seinen Rückzug von deren Finanzierung.

„Wir können mit diesem ganzen gesellschaftszerstörenden Distanzieren endlich aufhören.“

In Drostens Corona-Update konnte man aber auch etwas Spannendes zu den Aerosolen lernen und zwar bereits Ende März: Da ging es um eine Person, die mit einem Infizierten Rücken an Rücken in einer Kantine saß und sich im Zeitlauf von einer Viertelstunde das Virus einfing. Das spannende Wort, das man hier kennenlernen durfte, heißt „Viruslast“. Es reicht nicht, zwei, drei kleine Viren abzubekommen. Damit kommt jedes Immunsystem klar. Es geht um viel, viel mehr. Und dies kann anscheinend entweder über den Tropfen erreicht werden, der vom Sprecher direkt rüberfliegt, oder über die Aerosolwolke, die sich unweigerlich um jeden Sprecher bildet, solange kein Wind sie wegbewegt. In dieser reichert sich mit der Zeit genügend Virus an, um einen anderen Menschen zu infizieren. Die Chance dabei krank zu werden, ist bei 15 Minuten in unmittelbarer Umgebung in geschlossenen Räumen trotzdem nur 5 Prozent.

Wir können also mit diesem ganzen gesellschaftszerstörenden Distanzieren endlich aufhören. Pi mal Daumen kann man sagen: Solange ein Coronakranker keinen Husten hat, steckt er niemanden an, außer bei längerer Aufenthaltsdauer in Räumen ohne bewegte Luft, in denen er viel redet oder singt. Also, keine Angst vor Kranken, macht das Fenster auf! Öffnet die Schulen unbegrenzt und öffnet in jedem Klassenzimmer zwei Fenster. Vermutlich kann ein Kind mit Coronainfektion aber ohne Symptome problemlos in so einem Klassenzimmer lernen, mit Freunden quatschen und normal leben, ohne ein anderes Kind oder einen Lehrer anzustecken. Nach zwei Wochen ist die symptomlose Erkrankung (das klingt sehr nach einem Oxymoron) wieder vorbei.

Doch wie hängt diese Erkenntnis mit den Coronaausbrüchen weltweit zusammen? Schalten wir mal unseren Alltagsverstand an; Frage an den Leser: Wann lüften Sie ein Zimmer, zum Beispiel Ihr Büro oder ein Klassenzimmer? Wann lassen Sie mal das Fenster auf Kipp und stören sich nicht daran, dass da Luft herein- und herauszieht? Natürlich nur, wenn draußen angenehme Temperaturen herrschen. Außer Sie sind einer dieser im Büro verhassten Frischluftfanatiker. Und auch in der Freizeit treffen Sie sich draußen auf ein Bier mit Freunden nur in einem eng umrissenen Temperaturbereich, sagen wir mal zwischen 15ºC und 25ºC, aber sicher nicht bei unter 5ºC oder über 35ºC, da geht es in die Bar oder den Hobbykeller. Sie steigern also bei bestimmten Außentemperaturen Ihre Frischluftzufuhr exponentiell, ansonsten lieben Sie die vier Wände um sich herum.

Und jetzt schauen wir uns passend dazu die Klimatabellen für die USA an. Im Frühjahr war da ja in New York mächtig was los! Die meisten Infektionen der damaligen Welle müssten schon etwa im März erfolgt sein, bei Tageshöchsttemperaturen zwischen 5º und 18ºC und ab und zu noch Nachtfrösten. Also größtenteils Indoor-Wetter. Mittlerweile ist es wesentlich angenehmer. Wie ist das Wetter in einem der aktuellen Hotspots? Nehmen wir Austin/Texas mit sonnigen 39ºC – da surrt die Klimaanlage und keiner bewegt sich nach draußen. Mit Bill Clintons Worten gesprochen: „It’s the temperature, stupid!“.

„Ein Schutz vor dem Mund müsste nur noch für Menschen mit Husten vorgeschrieben sein.“

Eine Ausnahme bei der weltweiten Virusausbreitung ist weiterhin Afrika, warum? Die Temperatur ist hier doch sicher noch höher als in Texas? Aber bei dieser Betrachtung geht es nicht allein um die Temperatur, sondern auch um so manche zivilisatorische Errungenschaft: geschlossene Räume, luftdichte Fenster, ergänzt um Klimaanlagen bei Hitze und Heizungssystemen bei Kälte, so dass sich Menschenansammlungen über längere Zeit richtig wohl fühlen und keiner das Bedürfnis verspürt, den Raum zu verlassen. Diesen Luxus bietet in Afrika für die breite Bevölkerung eigentlich nur ein Land: Südafrika. Und voilà, es ist das einzige Land südlich der Sahara mit entsprechenden Zahlen.

Das Fazit für Deutschland wäre also: Selbst wenn wir nicht dem sympathischen Weg Schwedens folgen – mit einer langsamen Durchseuchung der jungen Bevölkerung, bei zeitgleicher Abschirmung der Alten und Gefährdeten – kann man doch eine weitere Welle verhindern, durch Verlagerungen der meisten Aktivitäten nach draußen und ausgiebiges Lüften. Wir könnten sogar auf den Mundschutz verzichten, draußen sowieso, aber auch beim Einkauf und in 95 Prozent unseres Alltags. Ein Schutz vor dem Mund müsste nur noch für Menschen mit Husten vorgeschrieben sein.

Aus dieser Betrachtung fällt jedoch eine Risikogruppe raus: die Super-Spreader mit ihren Super-Spreader-Events. Also diejenigen Ereignisse in unserer Gesellschaft, in denen die Menschen mal richtig aus sich rausgehen, singen, brüllen, lachen, sich umarmen und angeregt miteinander reden. Diese Events mit engen menschlichen Kontakten sind in Deutschland rar gesät, ein weiterer Grund für den milden Verlauf der Pandemie hierzulande, der nichts mit der Politik zu tun hat. Aber Corona verrät uns auf listige Weise, wo in Deutschland noch richtige Lebensfreude herrscht: bei Sportveranstaltungen und Volksfesten, in Klubs und Freikirchen.

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