14.05.2021

Die unerkannten Immunen

Von Julius Felix

Titelbild

Foto: José Martin via Unsplash / CC0

Eine große Zahl von Menschen ist durch Corona-Infektion bereits natürlich immunisiert. Noch ein Grund weniger, wahllos zu impfen und Ungeimpfte zu diskriminieren.

Inzwischen zeichnet sich deutlich ab, dass die Politik eine Form der Zweiklassengesellschaft etablieren will: Die „Freien“ sind die Geimpften und Genesenen und der Rest soll weiterhin an der Ausübung der Grundrechte gehindert werden, wodurch aus Grundrechten Privilegien werden. Warum solche Sonder-Milieus, primär für Geimpfte, für die Verbreitung des Virus sehr problematisch sein können, habe ich im vorigen Artikel schon behandelt.

Schauen wir nun aber mal zuerst auf den problematischen Begriff der „Genesenen“. Dieser ist auch deshalb problematisch, weil ja nur Kranke genesen, asymptomatisch positiv getestete Personen aber nie krank waren. Dieses im politischen Diskurs entstandene, eigentlich falsche, Framing soll aber im Folgenden zur besseren Verständlichkeit beibehalten werden.

Zahl der Genesenen unbekannt

Keiner weiß, wie viele Menschen in Deutschland zu den Genesenen gezählt werden können. Das wäre aber wichtig. Der Forscher Florian Deisenhammer von der Medizinischen Universität in Innsbruck, der an der Immunität gegen Covid-19 forscht, erklärt, dass „in aller Regel [...] die durchgemachte Erkrankung aus Immunisierungssicht viel wirksamer als eine Impfung“ sei. Eine Infektion sorge für eine protektive Immunität und eine Übertragung sei „unwahrscheinlich“. Auch eine großangelegte Studie aus Großbritannien kommt zu dem Ergebnis, dass positiv Getestete einen ebenso großen Schutz haben wie vollständig Geimpfte.

Aktuell will man – völlig ungerechterweise – nur die Genesenen berücksichtigen, die mal einen positiven PCR-Test hatten. Das ist deshalb sehr ungerecht gegenüber denjenigen, und das gilt besonders für die Anfangsphase des Virus, die keinen solchen Test erhalten haben, weil sie präventiv zu Hause blieben. Es ist aber auch ungerecht gegenüber Menschen mit einem falsch negativen Test.

Der Test, der also bei den Genesenen als „Eingangstür“ für die Grundrechte genommen wird, hat seine Fehler und es war ja ohnehin nie Ziel der Teststrategie, alle Infizierten zu finden – zumindest nicht die ganze Zeit lang. Man ist in Deutschland sehr weit davon entfernt, alle jemals Infizierten identifiziert zu haben. Dass es eine Dunkelziffer gibt, war ja immer Konsens.

„Eine zweistellige Millionenzahl von Menschen in Deutschland sind vermutlich als Genesene zu zählen, ohne es zu wissen.“

Eine Idee von dieser Dunkelziffer bekommen wir anhand der Infection Fatality Rate (IFR, Infektionssterblichkeit). Die WHO teilt in ihrem Bulletin eine Studie, die die korrigierte IFR bei 0,23% festlegt. Das bedeutet: von allen Infizierten sterben 0,23%, was umgekehrt bedeutet, dass rund 99,8% die Infektion überleben. In Deutschland haben wir über 83.000 Menschen, die als Coronatote gezählt werden. Nimmt man das als 0,23% an, kommt man auf über 36 Millionen insgesamt vermutlich Infizierte. So viele hat man bei Weitem nicht identifiziert.

Die neuste Kalkulation der IFR vom gleichen Forscher kommt auf eine IFR von 0,15%. Das würde dann bedeuten, dass in Deutschland bereits über 55 Millionen Menschen infiziert gewesen wären. Natürlich gibt es bei der Rechnung gewisse Unsicherheiten, zum Beispiel, dass nicht jeder Coronatote auch an Corona gestorben ist. Was die Rechnung aber zeigt: Wir unterschätzen in jedem Fall die Zahl der Genesenen sehr, sehr deutlich – außer die Todeszahlen wären so kolossal falsch.

Schauen wir auf die Fallsterblichkeit: Diese liegt in Deutschland bei rund 2,4 Prozent (Stand: 1. Mai 2021). Das bedeutet, wir unterschätzen die Zahl der tatsächlich Infizierten aktuell um mindestens mehr als den Faktor 10, wenn man von der IFR ausgeht. Das ist natürlich erstmal eine grobe Kalkulation, um einen Horizont diesbezüglich zu eröffnen und klar zu machen, wie wichtig es ist, genauer hinzusehen, aber eine zweistellige Millionenzahl von Menschen sind vermutlich als Genesene zu zählen, ohne es zu wissen.

Zahl der Immunen unbekannt

Wir wissen also gar nicht, wie viele bereits natürlich immunisiert worden sind. Von den Erleichterungen für ertestete Genesene, unter denen sich ja vermutlich auch einige falsch positive verstecken, profitieren diese aber nicht. Diese Zahl der Falsch-Positiven wäre anhand der oben skizzierten vermutlich großen Verbreitung der Krankheit sehr hoch. Daher ist die Datenbasis, auf die sich die Erleichterungen schützen, sehr dürftig und auch sehr leicht juristisch angreifbar. Eigentlich wären diese Erleichterungen nur dann gerechtfertigt, wenn wirklich sicher wäre, dass die Menschen, die sie bekommen, nicht weiter ansteckend sein können. Sie wären aber vor allem auch nur dann gerechtfertigt, wenn sicher wäre, dass die, die sie nicht bekommen, tatsächlich eine Gefahr darstellen würden. Bei einer hohen Zahl von unentdeckt Genesenen ist das nicht Fall.

Jetzt kommt aber ein weiteres Problem für diese Datenlage: Es gibt einen protektiven Effekt gegenüber SARS-CoV-2 nach Infektion mit dem endemischen Coronavirus OC43. Deutsche Forscher haben nachgewiesen: „Frühere Infektionen mit saisonalem HCoV OC43 wirken schützend gegen schweres COVID-19.“ Also sorgt eine Infektion mit anderen Coronaviren wohl auch ungefähr für das, wozu eine Impfung dienen soll: Schutz gegen schwere Verläufe. Auch das zeigt: Wer immun ist und wer nicht, weiß niemand. Vor dem Hintergrund macht auch eine Zweiklassengesellschaft keinen Sinn – neben massiven ethischen Problemen und den beschriebenen infektiologischen.

„SARS-CoV-2 kann sich nicht unsichtbar mutieren vor einer natürlich entstandenen Immunität. Bei der Impfung aber sind bereits durchbrechende Varianten bekannt.“

Diese Studie steht längst nicht allein auf weiter Flur. Bonifacius et al. betonten bereits zuvor, dass zelluläre Immunität gegen endemische Coronaviren für die Entwicklung der SARS-CoV-2-T-Zell-Immunität und für den Krankheitsverlauf von Vorteil sein könnten. Die T-Zellen-Immunität ist also quasi der Schüssel. Von SARS-CoV-1 weiß man, dass die entsprechend instruierten T-Zellen noch 17 Jahre später nachweisbar sind.

Die Rolle der T-Zellen

Es hält sich die landläufige Meinung, dass einzig Antikörper Immunität nachweisen. Das ist nicht richtig. Deisenhammer erklärt es wie folgt: „Das Virus, der ‚Bösewicht', wird vom Immunsystem als körperfremd und gefährlich registriert. Daraufhin werden sämtliche typischen Merkmale des Virus erfasst und gespeichert. Diese Daten speichert der Körper längere Zeit und teils lebenslang in sogenannten ‚Gedächtniszellen'.“ Diese Gedächtniszellen gehören zur Gruppe der so genannten T-Zellen.

Der Körper vergeudet keine Energie damit, dauernd Antikörper gegen alles Mögliche zu produzieren. Das wäre nicht effizient. Antikörper werden nach Bedarf erzeugt. Dazu hat der Körper ein Frühwarnsystem. Wird also SARS-CoV-2 oder jedes andere Coronavirus erkannt, werden die Antikörper bedarfsgerecht produziert. Der Körper hat also gelernt, ein Virus zu bekämpfen. So entsteht dann auch der protektive Effekt durch andere Coronaviren, weil sich die Viren dieser Gruppe eben ähneln.

In manchen Fällen werden nicht einmal Antikörper produziert. Das an der Immunität forschende Karolinska Institut mit angeschlossenem Krankenhaus hat schon Mitte vergangenen Jahres über solche Fälle berichtet. In diesem Video spricht eine Forscherin zu diesem Thema. Bereits zu dieser Zeit wurde auch in der wissenschaftlichen Literatur deutlich gemacht: „SARS-CoV-2-spezifische Gedächtnis-T-Zellen werden sich wahrscheinlich als kritisch für den langfristigen Immunschutz gegen COVID-19 erweisen.“

Das bedeutet: Immunität lässt sich also viel eher dadurch nachweisen, ob man die T-Zellen hat, die auf SARS-CoV-2 reagieren können. Wahrscheinlich müssen sie nicht einmal für das Virus spezifisch sein, sondern – wie man nun weiß – bereits generell gegen Coronaviren reaktive T-Zellen können hier helfen. Die deutschen Forscher, die zu OC43 beispielhaft geforscht haben, erklären auch: „Wir nehmen an, dass eine vorherige Exposition gegenüber dem HCoV OC43-Virus eine T-Zell-basierte Immunantwort auf SARS CoV-2 ermöglicht.“

„Bei einem großen Ausrollen der Impfkampagne auch auf Nicht-Risikogruppen würden die Nebenwirkungen zweifelsohne sehr viele Menschen treffen.“

Das Frühwarnsystem des Körpers ist dabei erstaunlich leistungsfähig. Inzwischen ist bekannt, dass der Körper das Virus an mindestens 30 Merkmalen erkennt. SARS-CoV-2 kann sich also nicht unsichtbar mutieren vor so einer natürlich entstandenen Immunität. Bei der Impfung aber sind bereits durchbrechende Varianten bekannt. Das belegt wieder Deisenhammers Ausführungen zur Überlegenheit natürlicher Immunisierung.

Aktuell wird also geimpft, was das Zeug hält, was für die Hersteller sehr lukrativ ist, aber nicht unbedingt für die Gesundheit der Menschen; es gibt im Deutschland ziemlich sicher Millionen von Menschen, die das, nach aktuellem Stand geringe, Risiko schwerer Impfnebenwirkungen in Kauf nehmen, obgleich sie längst immun sind. Bei einem großen Ausrollen der Impfkampagne auch auf Nicht-Risikogruppen würden die Nebenwirkungen aber zweifelsohne sehr viele Menschen treffen. Gleichzeitig fehlt dieser Impfstoff dann Menschen, die nicht immun sind, aber in der Impfreihenfolge recht weit hinten stehen. Eventuell ist nämlich das Nichtvorhandensein von etwa einer OC43-Immunantwort ein höheres Risiko für einen schweren Covid-Verlauf als das Alter. Vielleicht wüsste man das aber bereits, wenn man das Thema Kreuzimmunität nicht gleich in eine bestimmte Ecke gestellt hätte.

Was es also braucht, ist ein Test auf T-Zellen. Viele wird überraschen, dass es solche Tests bereits heute gibt und sie in Deutschland angeboten werden. Die Politik nutzt sie aber nicht, obgleich sie zur Identifizierung der Genesenen und damit zur Effizienzsteigerung der Impfkampagne genutzt werden könnten. Dann wüsste man nämlich wirklich, wer bereits immun ist. Vielleicht fürchtet die Politik an dieser Stelle auch, dass durch eine breite Testung das Virus, in dessen Angesicht sich so einfach an Parlamenten vorbei regieren lässt, seine Angstwirkung verlieren könnte. Das ist aber natürlich spekulativ.

Sollte es also zu dieser Zweiklassengesellschaft, etwa durch grüne Pässe, kommen, wird sich bald die Frage stellen, was mit den Millionen unerkannt immunen Menschen ist. Unklar ist, ob diese Frage erst in der Politik oder erst in der Justiz aufkommen wird. Die Beantwortung wird der Schlüssel zur Herdenimmunität sein. Allein anhand der IFR und den Todeszahlen kann man schätzen, dass bis zu zwei Drittel der Bevölkerung bereits eine Immunität aufgebaut haben könnten. Wie wird man mit diesem Elefanten im Raum künftig umgehen?

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