14.08.2017

Die Tücken des Populismus

Essay von Michael von Prollius

Titelbild

Foto: Michael Vadon via Flickr / CC BY 2.0

Liberale sollten den heutigen Populismus mit großer Skepsis betrachten. Gleichzeitig bietet die Debatte über ihn die Chance, notwendige Reformen anzugehen

Ein Gespenst geht um in Europa und auf anderen Kontinenten. Starke, unangepasste Männer und Frauen nutzen zusammen mit ihren Parteien oder Bewegungen die Schwächen des etablierten politischen Personals und der politischen Institutionen aus. Würden sie eine demokratische, rechtsstaatliche Alternative darstellen, wäre das kein Problem. Ein politischer Wettbewerb wäre vielmehr begrüßenswert, wenn eine bessere Politik angestrebt würde. Indes birgt echter Populismus erhebliche Gefahren.

Populisten gerieren sich als alleinige, als ausschließliche Vertreter eines diffusen Volkswillens. Die Parole „Make America Great Again!“ bündelt diesen Volkswillen in nationaler Diktion besonders prägnant. Amerika war groß, wurde heruntergewirtschaftet und kann nun nur von Donald Trump wieder zu wahrer Größe geführt werden. Zugleich lässt sich der sogenannte Volkswille je nach Bedarf formulieren und verändern. Schließlich gibt es den Willen eines Kollektivs nicht und bereits das angenommene Kollektiv ist keins. Das Volk und die Nation sind Konstruktionen, keine homogenen Realitäten. Ein Kollektiv hat keinen Willen. Allenfalls über eine Mehrheit ließe sich sagen, die Menschen würden diese oder jene Ansicht eben mehrheitlich vertreten. Indes hat Präsident Trump nicht einmal die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten. Das ist allerdings auch nicht das Ziel des Präsidentschaftswahlkampfs. Zurück zum Problem: Zusammen mit der Frontstellung – hier die Volksvertreter, dort das gegen das Volk handelnde Establishment – lässt sich ein Prozess entfesseln, der seinen Fluchtpunkt in der Usurpation des politischen Systems findet, das zur dauerhaften Machtsicherung der Populisten umgestaltet werden soll.

Was ist Populismus?

Populisten verhalten sich nicht nur antidemokratisch, sondern vor allem antipluralistisch. Das ist eine wesentliche Erkenntnis, die der in Princeton lehrende Politologe Jan-Werner Müller in seinem lesenswerten Essay „Was ist Populismus?“ 2016 herausarbeitet hat. Wilders, Orban, Le Penn, Kaczynski, Trump, Morales, Correa, Chavez, Pegida, Teile der AfD und andere treten bzw. traten mit einem Alleinvertretungsanspruch auf, der auch noch moralisch aufgeladen ist. Was sie nicht sagen ist: Wir sind auch das Volk. Stattdessen behaupten sie: Nur wir sind die legitimen Volksvertreter. Alles, was dieser Behauptung entgegensteht, lehnen sie ab. Folglich geraten sie mit den Institutionen in Konflikt, die sie zuerst erobern und dann umbauen wollen. Das ist das eigentlich Gespenstische. Populisten spüren nicht nur Strömungen der Unzufriedenheit in der modernen Massengesellschaft auf, sondern sie nutzen sie, um ihre Weltanschauung zur allein maßgeblichen zu machen.

„Populisten verhalten sich nicht nur antidemokratisch, sondern vor allem antipluralistisch.“

Mit dem philosophischen Ökonomen Hartmut Kliemt ist „Demokratie nichts anderes als gezähmter Populismus“. In Deutschland gilt das aktuell für den roten Populismus von Martin Schulz und seit langem für Merkels Mutti-Sozialdemokratismus. In den USA hat Bernie Sanders sich als Stimme des Volkes und Verteidiger des kleinen Mannes inszeniert. Nicht immer ist der gefährliche Umbau des politischen Systems so klar zu erkennen wie das beim türkischen Möchtegernsultan Erdogan der Fall ist.

In den USA gibt es bislang nur Befürchtungen, dass Trump eine institutionelle Umwälzung anstreben könnte. Indes hat die Trump-Administration massive Probleme bei der politischen Gestaltung. Das zeigen die doppelte Niederlage beim sogenannten Muslim Ban, der nicht so rasch erwartete Rücktritt des Nationalen Sicherheitsberaters Michael Flynn sowie das innenpolitische Desaster Trumps und der Republikaner um die Abschaffung von Obamacare. Im politischen Alltag zählt nicht die Absicht, sondern die Fähigkeit, politisch zu gestalten und das bedeutet, Mehrheiten organisieren zu können. Bislang bewähren sich die Checks and Balances der amerikanischen Verfassung. Nach wenigen Wochen wird deutlich, wie eng begrenzt die Handlungsspielräume des mächtigsten Manns der Welt sein können.

Warum ist Populismus attraktiv?

Krisen gehören (inzwischen) zum Alltag: Weltwirtschafts- und Finanzkrise, Euro-Krise, Krise der EU, Klimakrise, Arabischer Frühling, Flüchtlingskrise und Demokratiekrise, erschütterte öffentliche Sicherheit. All das hat sich in nur einem Jahrzehnt zugetragen. Zugleich decken die Schlagworte nicht die Bandbreite der Veränderungen ab, die beispielsweise durch technologische Fortschritte allmählich zu anderem Kommunikations- und Sozialverhalten führen – mancher Betrachter bekommt dabei die sprichwörtliche Krise. Wir leben in bewegten Zeiten. Schon macht sich ein neuer Katastrophismus (Pascal Bruckner) breit: Scheitert der Euro, scheitert Europa, wird Trump gewählt, droht dem Westen der Untergang.

„Die Parteien gleichen sich immer stärker an. Sie kopieren ihre Erfolgsrezepte und werden zunehmend ununterscheidbar.“

Ein Gemisch aus Politik- und Staatsversagen ist für jede der zuvor genannten Krisen ursächlich. Hinzu kommen fehlgeleitete Erwartungen der Bürger. Politikversagen hat persönliche und strukturelle Gründe. Nach Anthony Downs, dem einflussreichen amerikanischen Politikwissenschaftler und Ökonomen („Ökonomische Theorie der Demokratie“), entsteht in Mehrparteiensystemen eine Konkurrenz um die Wähler in der Mitte. Ein zentripetaler Wettbewerb entwickelt sich. Die Parteien gleichen sich immer stärker an, insbesondere beim Verhältniswahlrecht. Sie kopieren ihre Erfolgsrezepte und werden zunehmend ununterscheidbar. Anschließend befassen sich Politiker mit Themen, die für normale Bürger eher abwegig sind, etwa Genderismus, Rassismus und Ökologismus. Trumps potentielle Wähler äußerten lange vor ihrer Wahl zwei Erwartungen: gutes Geld für harte Arbeit und ein Ende der Moralisierung der Obama-Zeit mit permanenten Rassismusvorwürfen und Forderungen nach einem politisch und persönlich korrekten Lebenswandel.

Offenkundig findet eine zunehmende Zahl von Bürgern keine politische Repräsentation mehr. Das ermöglicht neuen Politikern und Parteien, jenseits des politischen Einerleis Wähler für sich zu gewinnen.

Um Populismus handelt es sich nicht zuletzt dann, wenn vor allem auf eine Politik der Emotionen gesetzt wird, um möglichst viele Menschen anzuziehen. Ernesto Laclau hat bereits vor zehn Jahren in „On Populist Reason“ die Aspekte der Massen-Psychologie herausgearbeitet, die Konstruktion populärer Identitäten, die zu kollektiven, mobilisierbaren Akteuren werden. Emotionalität steht Rationalität im Weg. Medien tragen hierbei eine Mitverantwortung, setzen sie doch auf Spektakel und Emotionen. Online-Auftritte inszenieren Politik immer wieder als Seifenoper.

„Während die wirtschaftliche Welt immer besser wird, stagniert der öffentliche Sektor oder büßt sogar an Effizienz ein.“

Damit sind wir bei der Public-Choice-Theorie. Forscher untersuchen seit über 50 Jahren den Egoismus und das Karrierestreben von Politikern und Bürokraten sowie das Wählerverhalten. Ein Ergebnis lautet: Das Gemeinwohl ist stets das Wohl der eigenen Gruppe. Durch Stimmenkauf werden wechselnde Partikularinteressen bedient. Eine sich ausdehnende Bürokratie schiebt sich zwischen Regierung und Bürger. Die Theorie der öffentlichen Wahlhandlungen legt die Entfremdung zwischen Politik und Bürgern offen; sie ist im Kern eine Theorie des Staatsversagens. In prosperierenden Zeiten fallen Missstände weniger auf.

Bereits 1962 brachte Friedrich August von Hayek das Versagen der Politiker pointiert auf den Punkt: „Die heute praktizierte Form der Demokratie ist zunehmend ein Synonym für den Prozess des Stimmenkaufs und für das Schmieren und Belohnen von unlauteren Sonderinteressen, ein Auktionssystem, in dem alle paar Jahre die Macht der Gesetzgebung denen anvertraut wird, die ihren Gefolgsleuten die größten Sondervorteile versprechen“.

Politikversagen fördert Populismus

Die Bürger entwickelter Gesellschaften verlangen eine bessere Regierungsführung. Sie fordern bessere Leistungen von Politik und Staatsbürokratie, zumal sie von einem immer besseren Angebot marktwirtschaftlicher Errungenschaften profitieren. Während die wirtschaftliche Welt immer besser wird, der Wettbewerb die Unternehmen und Arbeitnehmer immer wieder zu Innovationen und Leistungssteigerungen antreibt, stagniert der öffentliche Sektor oder büßt sogar an Effizienz ein. Zugleich stellt das politische Spitzenpersonal eine beklagenswerte Auswahl dar. In Berlin ist der Flughafen-Nicht-Bau des BER Ausdruck dessen, was Politik sich folgenlos leistet.

„Der Trump’sche Protektionismus hilft nicht, sondern schadet. Die durch Freihandel preiswerteren Produkte müssen teurer bezahlt werden.“

Das eigentliche Problem besteht in der Verlagerung von immer mehr Zuständigkeiten in die staatliche Sphäre. Politiker erfüllen gerne Wünsche der Bürger, die stets nach dem Staat zur Lösung von Problemen rufen oder für die Wahl geködert werden – als Pendler, Arbeitslose, Studenten, Rentner, Alleinerziehende, Eltern, Häuslebauer, Geringverdiener, Beamte, Flugzeugbauer, Sparer, Kleinunternehmer, Großunternehmer, Binnenschiffer, Zirkusbetreiber usw. usf.

Parallel sind die Herausforderungen gewachsen. Wir leben in einer Umbruchzeit mit starkem Strukturwandel. Nach der Landwirtschaft ist nun die Industrie betroffen. OECD-Staaten zeichnen sich durch starken Abbau von Industriearbeitsplätzen aus: Von 1999 bis 2015 war das in den USA gut ein Drittel und in Deutschland immerhin noch ein Fünftel. Die Nachfrage nach Industriegütern ist gesättigt. Die Haushalte fragen mehr Dienstleistungen nach. Weil mehr Frauen arbeiten, müssen ihre Tätigkeiten nun auf dem Markt eingekauft werden. Skaleneffekte lassen sich bislang nicht realisieren, dafür sind die Leistungen zu personenspezifisch. Für die Industrie gibt es nur zwei Möglichkeiten: Löhne senken oder Arbeitsplätze abbauen. Der Trump’sche Protektionismus hilft nicht, sondern schadet. Die durch Freihandel preiswerteren Produkte müssen teurer bezahlt werden. Dieses Geld fehlt, Arbeitsplätze werden gefährdet.

Notwendig ist bereits seit Jahrzehnten erstens das Ende schlechter Politik und zweitens eine drastische Reduktion der Staatstätigkeit. Das gilt für Deutschland, Europa und die USA.

Die drei Tücken des Populismus

Populisten greifen das Establishment an. Dieser Angriff setzt an tatsächlichen und behaupteten Defiziten an. Donald Trump hat bekanntlich nicht nur Hillary Clinton im Wahlkampf als Inkarnation des Establishments und als Teil des Finanzfilzes angegriffen, sondern attackiert auch als Präsident etablierte Medien, aber auch Behörden. Das nimmt zum Teil groteske Züge an, etwa die Abhörvorwürfe gegen die Obama-Administration oder der Streit um die Teilnehmerzahl bei seiner Amtseinführung. Trumps plutokratisches Kabinett ist überdies ein anschauliches Beispiel dafür, dass die Populisten mitunter sogar in ihren Hauptanliegen lediglich „more of the same“ anbieten. In Deutschland gilt das auch für die AfD, die als Anti-Euro-Partei nunmehr den Euro beibehalten will. Damit sind wir bei den Tücken des Populismus.

„Je länger die Populisten in der Regierungsverantwortung stehen, umso deutlicher tritt ihre mangelnde Kompetenz hervor.“

Die erste Tücke des Populismus ist, dass ihr Angriff aufgrund berechtigter Kritik Unterstützung findet, zugleich aber regelmäßig die Populisten selbst und ihre politischen Konzepte keine Lösungen im Sinne einer Ordnung der Freiheit darstellen. Trump wird in den USA von Libertären unterstützt. Seine Wirtschaftspolitik trägt indes neomerkantilistische Züge. Auch ein Schuldenabbau und ein Rückbau des Staates sind bislang nicht in Sicht, lediglich Umschichtungen. Die Außen- und Sicherheitspolitik ist nicht erkennbar besser. Seine Politik der Konfrontation und des Konflikts entstammt einem Verhandlungsstil in der Wirtschaft und ist insbesondere für Diplomaten ungewöhnlich.

Die zweite Tücke des Populismus besteht darin, dass Angriffe überzogen und effektheischend vorgetragen werden. Damit werden die Populisten selbst angreifbar, jeder derartige Angriff stärkt aber wiederum die Populisten, weil der Verdacht mitschwingt, die schlechte Regierungspolitik solle verteidigt werden. Allerdings kann Populismus entzaubert werden. Je länger die Populisten in der Regierungsverantwortung stehen, umso deutlicher tritt ihre mangelnde Kompetenz hervor. Trump erscheint in mehreren Politikfeldern bereits nach wenigen Wochen wie entzaubert. Es stellt sich bereits die Frage, ob nach den in vielerlei Hinsicht verlorenen acht Jahren unter Obama nunmehr weitere vier Jahre Stagnation hinzukommen.

Mit der dritten Tücke des Populismus lassen sich die strukturellen Folgen für das politische Gemeinwesen beschreiben: Ein offensichtlich illegitimer Politikstil wird akzeptabel und findet sogar weithin Zustimmung. Das politische Gemeinwesen wird zersetzt. Damit sind die großen Befürchtungen angesprochen. Während in Venezuela die Usurpation des Landes vollständig ist und wohl keine demokratischen und rechtsstaatlichen Mittel das Regime beseitigen können, ist das Bild in den USA ein gänzlich anderes. Bislang dominiert der Respekt vor der Gewaltenteilung, das gilt vom Bundesgericht bis zum Kongress-Auftritt. Indes schüren unsinnige Verbote, absurde politische Korrektheit und durchsichtige Scheinheiligkeit nicht zuletzt in sozialen Medien ein sehr erhitztes Diskussionsklima. Viele fühlen sich durch die bei Trump beobachtbare Mischung aus Provokation und Gekränktheit angesprochen.

„Der Wert liberaler Ideen hat nichts an Bedeutung eingebüßt – im Gegenteil.“

Populismus als Chance

Aus den drei Tücken des Populismus kann eine Gefahr erwachsen, wenn die Mischung aus berechtigter struktureller und personeller Kritik zu einer System zersetzenden Dynamik anschwillt. Die liberalen Warnungen vor den hochproblematischen Folgen des Wohlfahrtsstaates, der mit einer liberalen Ordnung inkompatibel ist, und die liberale Ablehnung von Ideologien wie Ökologimus, Egalitarismus, Sozialismus und Nationalismus, aber auch von Gender Mainstreaming und politischer Korrektheit gewinnen an Bedeutung. Der Wert liberaler Ideen hat nichts an Bedeutung eingebüßt – im Gegenteil.

Die Auseinandersetzung mit Populisten bietet Chancen. 1. Es ist enorm wichtig, die Demokratie als Prozess und als Ordnung zu begreifen, die unzureichend und dennoch ungemein integrationsfähig ist. 2. Es gilt, eine verschüttete Erkenntnis freizulegen: Demokratie beantwortet die Frage, wer den Staat lenken soll, mit einer Forderung, nämlich, dass das Volk der Souverän sein soll. Im Zeitalter des Liberalismus lautete die Frage noch anders, nämlich wie sich Macht begrenzen lässt, und Liberale waren der Überzeugung, dass jedwede Macht, die der Mehrheit eingeschlossen, zu begrenzen ist. 3. Es spricht einiges dafür, dass Populisten keine Globalisierungsverlierer sind und noch dazu verunsichert, sondern vielmehr enerviert. Das Ausufern der politischen Zuständigkeit geht mit Staatsversagen einher und bringt berechtigten Protest hervor. Die Krise des Establishments ist echt.

Umso wichtiger ist es, die gespenstische Vermischung von Gebotenem und Gefährlichem sauber zu trennen. Tatsächlich notwendig sind Verbesserungen des politischen Angebots (Personal und Parteien). Mit Bedacht sind die Institutionen anzupassen, darunter die Ordnung Europas. Es ist Zeit für Reformen und mehr Bürgermitbestimmung. Es ist Zeit, den Menschen ihre Selbstverantwortung zurückzugeben.

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