19.06.2017
Populismus – Olle Kamelle oder aktuelle Erscheinung?
Essay von Friedrich Heckmann
Populismus ist eine nicht zu ignorierende Erscheinung – auch im Spiel europäischer Politik. Dabei liegt das Problem aber nicht in einem neuartigen Populismus, sondern im Umgang mit diesem wiederkehrenden, negierten Phänomen.
Die Mär, neudeutsch das Narrativ, vom neuerlichen Aufstieg des Populismus ist selbst Teil der Erscheinung, die sie kritisiert. Populismus ist eine in Wellen wiederkehrende Dauererscheinung. Die aktuelle Rede vom neuerlichen Aufstieg des Populismus verkennt fast die komplette europäische Parteienlandschaft. Westdeutschland mit seinen starken Volksparteien, die populistische Anwandlungen eher intern verarbeiteten als an populistische Abspaltungen abzugeben und neudeutsch outsourcten, ist und war eher Ausnahme als Regel.
Durchaus zutreffend wird Populisten vorgeworfen, einfache Rezepte und verkürzte Erzählungen ins politischen Geschäft einzubringen. Aber das politische Geschäft allgemein lebt von solchen Vereinfachungen. Populismus tritt als politisches Schlagwort in Erscheinung, wenn die alten Rezepte und Erzählungen in Krisen geraten. Ebenso wenn Inhalte und Schlagworte, die zuvor im Politik- und Medienbetrieb als rückständig, reaktionär und provinziell empfunden wurden, sich nun als kampagnenfähig und zugkräftig erweisen. Populismus hat ein Janusgesicht. Zu erfolgreichen Populisten gehören ein Gespür für brachliegende Themen und ein Geschick bei Kampagnen, die viele Menschen mobilisieren – sprich Fähigkeiten und Talente, die zivilgesellschaftlich unerlässlich und erwünscht sind. Gleichzeitig gehört zum Populismus und den zugehörigen Führungsfiguren der zelebrierte Abstand zum klassischen Politikbetrieb und den zugehörigen Medien und Eliten. Populismus war und ist modern und antiurban, inhaltlich nicht selten hinterm Mond und methodisch fortgeschritten. Er politisiert und fördert bürgerliches Engagement und ist gleichzeitig antidemokratisch und reaktionär. So unsympathisch einzelne Populisten erscheinen mögen, Populismus hat ein innovatives Potential.
„Wenn heute Antieuropopulisten Gold als Währungsstandard zur Parteienfinanzierung propagieren und benutzen, ist das ziemlich geschichtsvergessen.“
Benannt ist der Begriff unter anderem nach dem Populist-Movement in den USA. Dies setzte sich im späten 19. Jahrhundert für Silber als Währungsstandard, als Allheilmittel für eine bessere Finanzierung der kleineren Landwirte und Gewerbetreibenden auf dem Lande ein. Es begann auch Frauen und Schwarze in die politische Landschaft der USA mit einzubeziehen. Die Neugründung, die auch Affekte gegen die städtische Hochfinanz und großindustrielle Agrar-, Rohstoff- und Eisenbahnmonopole beinhaltete, konnte sich nicht dauerhaft durchsetzen. Wenn heute Antieuropopulisten Gold als Währungsstandard zur Parteienfinanzierung propagieren und benutzen, ist das ziemlich geschichtsvergessen. Das Populist-Movement hatte Einfluss auf beide führende Parteien, auch wenn die lange noch dem Goldstandard verpflichtet blieben und prägte Aspekte von Roosevelts New Deal. In den deutschen Ländern waren damals Bauernvereine und -parteien aus ähnlichen Gründen unterwegs, mit populistischen und gelegentlich auch antisemitischen Affekten. Die damals gegründeten Raiffeisen- und Volksbanken, Sparvereine und Bausparkassen sind lange vor den heute in der Entwicklungshilfe als grün, fortschrittlich, noch nie dagewesen verkauften Mikrofinanzinstituten ein Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaftsentwicklung gerade in der Fläche bzw. der Provinz geworden – sprich auch der frühe Populismus wies auf tatsächliche Problemlagen hin. Und einzelne populistisch propagierte Patentlösungen waren gelegentlich sogar erfolgreich.
Populismus – wirklich eine aktuelle Erscheinung?
Die aktuelle Rede vom neuerlichen Aufstieg des Populismus verkennt fast die komplette europäische Parteienlandschaft: Populismus ist kein rein nach 1989 nur in osteuropäischen Ländern neu auftretendes Phänomen. Man schaue nur Norwegen, Frankreich, Dänemark, Belgien, die Schweiz, Österreich, die Niederlande an, alle kennen starke und etablierte populistische Parteien und Strömungen seit ehedem. Italien ist schon als postpopulistisch zu bezeichnen. Der real existierende Populismus in den europäischen Nachbarländern ist hierzulande – im Sinne möglicher Vorläufer für die hiesige politische Landschaft – teilweise bis zur Sträflichkeit ignoriert und ausgeblendet worden. Unter dem Motto „Kennst du das Land …? Vermutlich nicht“ 1 hat man italienische Verhältnisse für nie auf Deutschland anwendbar gehalten. Italien weist eine Vielzahl frappierender historischer und wirtschaftlicher Parallelen zu Deutschland auf. Aber seit Goethe dient das deutsche Italienbild eher als Projektionsvorlage für Urlaubsreisen und ist kaum von dem politischen und wirtschaftlichen Alltag dort geprägt. Italien, das immer sowohl rückständiger als auch innovativer war 2, bietet in von Gianni Riotta herausgearbeiteten Parallelen wie Unterschieden zwischen Trump und Berlusconi deutlich mehr Deutungskraft als die hierzulande so beliebten NS-Anspielungen.
„Die europäische Normalität ist das Outsourcen von Populismus in kleinere Parteien.“
Das mit dem Nichtkennen gilt auch für unseren engsten europäischen Partner. Frankreich hatte im konservativen Parteienspektrum nie eine der Union vergleichbare, durchweg stabile Volkspartei. Die Parteiorganisationen in den französischen Republiken sind seit de Gaulle immer auf eine Führungsperson zugeschnittene Sammlungsbewegungen gewesen. Parteinamen wie „Union pour un mouvement populaire“, Union „für“ eine Volksbewegung, heute „Les Republicains“ (Die Republikaner) drücken bereits die Crux in Frankreich aus. Man hätte gerne eine populäre, konservative Bewegung, erhält aber eher instabile Erscheinungen. Die aktuell vorherrschende konservative Partei wurde erst nach dem Schock des zweiten Wahlgangs (Chirac versus Le Pen) des Präsidentschaftswahlkampf 2002 ins Leben gerufen. Jean-Marie Le Pen war nun jüngster Abgeordneter der 1955 von Pierre Poujade gegründeten „Union de défense des commerçants et artisans“ (UDCA, „Union zur Verteidigung der Händler und Handwerker“), einer kleinbürgerlichen Protestpartei. Eine deutsche Entsprechung wäre eine über Jahrzehnte etablierte Politdynastie, die sich seit den 1950ern konstant bei verschiedenen Protest- und Kleinparteien engagiert hätte und etwa bei der Bayernpartei oder dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten oder gar 1969 mit der NPD immer wieder in Parlamente eingezogen wäre. Der verblüffte Umgang der hiesigen „chattering classes“ mit einer erst nach Brexit-Entscheid und Trump plötzlich nicht mehr für ganz unmöglich gehaltenen Wahl Martine Le Pens zur französischen Präsidentin zeugt von Unkenntnis grundlegender politischer Strukturen und Entwicklungen bei einem der wichtigsten Verbündeten der Bundesrepublik.
Outsourcen von Populismus
Die europäische Normalität ist das Outsourcen von Populismus in kleinere Parteien. Etliche solcher heute noch aktiven Parteien etablierten sich bei unseren (west-)europäischen Nachbarn und Verbündeten seit den 1970er Jahren. In Westdeutschland hatte damals Franz Josef Strauss regelmäßig eine „Vierte Partei“ je nach Perspektive angedroht oder in Aussicht gestellt. Er zielte damals auf eine Ausweitung der CSU als konservativer Ableger der Union im Bundesgebiet ab. Dazu kam es nicht. In Westdeutschland etablierte sich eine unabhängige vierte Partei auf Bundesebene dauerhaft erst mit den Grünen. Populismus in Westdeutschland war und blieb Sache der Volksparteien wie gelegentlich auch der FDP. Die CSU war nach 1989 zu schwach, sich mit der DSU etwa in Sachsen und Thüringen weitere eher konservative Freistaate einzuverleiben. In Deutschland war Populismus, im Sinne der direkten Ansprache der Wähler bei Umgehung der parteiinternen Meinungszirkel, lange Aufgabe und Sache des politischen Führungspersonals. Das hat gut bayrisch seine Bierzelttauglichkeit zu beweisen. In den USA wird das mit sogenannten Sister-Souljah-Momenten bezeichnet. Namensgebend dafür war ein Wendepunkt der Präsidentschaftsbewerbung Bill Clintons 1992. Souljah war in die Wahlplattform von Clintons parteiinternem Konkurrenten, dem schwarzen Bürgerrechtler Jesse Jacksons, aufgenommen worden und hatte mit Äußerungen wie „Wenn es irgendwelche guten Weiße gibt, habe ich sie noch nicht kennengelernt“ Furore gemacht. Clinton hat dies bei einem Auftritt bei Jackson mit Reden des weißen Rassisten und Ku-Klux-Klan-Mitglieds David Duke verglichen. Er fuhr Jesse Jackson damit parteiintern und öffentlichkeitswirksam in die Parade und machte sich für den auch weißen Mainstream wählbar. Auch Gerhard Schröder hatte seine Sister-Souljah-Momente. Er setzte sich mit Currywurst und Gedöns, vulgo mit Das-muss-man-doch-noch-sagen-dürfen-Sprüchen, gelegentlichem Mackergehabe wie in einem Industrieland auch angemessenem Machergestus von verschiedenen SPD-Parteizirkeln harsch ab. Seine keineswegs geradlinige Biographie und einfache Herkunft war mit Voraussetzung für populistische Freiräume. Seine nach einem Wahlerfolg in Niedersachsen fast unvermeidbare Kanzlerkandidatur wurde parteiintern mit sehr lautem Zähneknirschen begleitet. (Ähnliche, nur durch gute Wahlergebnisse abgedämpfte Geräuschkulissen soll es ja bei Frau Merkel auch geben.)
„Ein wichtiges Erfolgsrezept von populistischen Politikern in etablierten Parteien sind nicht eindeutige regionale und politische Zuordnungen.“
Populismus – Outsourcing oder parteiintern?
Dosierter, aber parteiinterner Populismus war lange Teil des bundesdeutschen Modells der Volksparteien, die damit Neugründungen und mögliche Flügelabspaltungen sich entweder vom Leib hielten oder zu Gunsten einer Neuaufstellung und programmatischen Innovation in den eigenen Reihen forcierten. Es wird heute ausgeblendet, welche populistische und politische Meisterleistung Willy Brandts Ostpolitik parteiintern darstellte. Brandt erreichte einen massiven Richtungswechsel. Er wendete sich gegen die zuvor vorherrschende neutralistische und antiwestliche Haltung. Mit Parteivertretern wie etwa Wenzel Jaksch, Herbert Hupka und Reinhold Rehs hatte man zuvor wichtige Positionen bei den Vertriebenenverbänden inne gehabt. Die Ostpolitik führte parteiintern zu einem gänzlich anderen Umgang mit den organisierten Vertriebenen und den zugehörigen Erzählungen. Von der umhegten Klientel wurden sie zum Hort der Ewiggestrigen. Die Lufthoheit daselbst wurde getrost der Union überlassen. Hupka, eine schillernde Figur, der später auch bei der Union mit Slogans wie „Schlesien bleibt unser“ aneckte, wechselte erst in der Folge die Partei. Die Verluste wurden mehr als kompensiert, weil die SPD ihr Image erneuerte und sich für neue Wählerschichten öffnete. Die nobelpreiswürdige Ostpolitik beruht lange vor dem postfaktischen Zeitalter auf der gemeinsamen Bereitschaft von Wählern und Gewählten, frühere Aussagen und Standpunkte hurtig zu vergessen und ins Gegenteil zu verkehren.
Populismus und Biographie
Ein wichtiges Erfolgsrezept von populistischen Politikern in etablierten Parteien sind nicht eindeutige regionale und politische Zuordnungen, die über die eigene Partei hinauswirken und verschiedene Strömungen aufnehmen. Wie Brandt hat auch Franz Josef Strauß die entsprechende Klaviatur lange durchaus gekonnt bedient, Oskar Lafontaine ebenso, Frau Merkel hat den protestantischen Populismus, sprich die eher kirchentags- als bierzelttaugliche Variante eingeführt und lange perfektioniert. Der bei Le Pen wie anderen etablierten Populisten zu findende antielitäre Aspekt ist in Deutschland lange weniger wirksam gewesen. Unter anderem weil Politikerbiographien hierzulande im Vergleich gebrochener, weniger einheitlich und farbiger sind, auch weniger von einer uniformen, zentral gesteuerten Bildungskarriere geprägt sind. Es wäre bei uns unvorstellbar, sich zwei Kanzlerkandidaten verschiedener Lager vorzustellen, die wie Bush und Kerry nicht nur an derselben Eliteuniversität studiert hatten, sondern auch derselben Studentenverbindung angehören. Ebenso wie man sich in Frankreich keinen Außenminister und Vizekanzler vorstellen könnte, der als höchsten Bildungsabschluss den Taxifahrerschein vorzuweisen hat. Nicht nur Frankreich, auch viele der kleineren Länder mit etabliertem Populismus haben eine vergleichsweise homogene Bildungs- und Leistungselite, aus der sich das meiste politische Führungspersonal der jeweiligen Hauptstadt rekrutiert. Sprich, je einheitlicher und je mehr auf die jeweilige Hauptstadt zugeschnitten die politische Klasse erscheint, desto eher können Populisten antielitäre Affekte nutzen.
„Wir haben kein Problem mit neuartigem Populismus, wir haben ein Problem im Umgang mit einem wiederkehrenden, aber immer wieder negierten, Phänomen.“
Das Bild von Donald Trump
Die Darstellung von Donald Trump und dessen angeblich überraschenden Wahlerfolgen bei uns hat ebenfalls Aspekte einer populistischen Verkürzung. Die Vorfahren von Donald Trump stammen zu guten Teilen aus (Süd-)Deutschland. Bei Trump speziell ist wie bei der Heinz-Ketchup-Dynastie Kallstadt in der Pfalz ein Provinznest mit herausragender Gastronomie und Weinbau gemeinsamer Ursprung. Die German Americans in den USA sind eher süddeutsch geprägt und stehen dort seit den Achtundvierzigern für eine vergleichsweise wenig elitäre Haltung. Trumps Herkunft und Bildungsgeschichte passt dazu: Er war an einer Militärakademie und studierte an einer wichtigen, aber nicht hervorragenden Handelsschule Immobilienwirtschaft.
Ausgerechnet ein Salonbolschewik wie Slavoj Žižek (mit Berufung auf Yanis Varoufakis, ja, den ehemaligen griechischen Finanzminister) hat Trumps im republikanischen Umfeld tatsächlich eher zentristische Positionierung vor der Wahl beschrieben, breiter wahrgenommen wurde das hierzulande nicht. Žižek stellte Trump als programmatisch zentristisch, fast sozialdemokratisch orientierten Politiker dar. Trumps bewusste Provokationen ermöglichen ihm aber, eine Klientel neu anzusprechen und einzubinden, die dem klassischen Politikbetrieb in Washington entfremdet ist. Trump hatte unter anderem Erfolg, weil er einer Bildung von Politdynastien (Jeb Bush als Bush III versus Clinton II) wie den vergleichsweise abgedrehten politischen Forderungen einer Tea-Party-Bewegung erfolgreich entgegenwirkte. Social Media wie politische Kommunikation beherrscht er, in ungewöhnlicher Form, aber durchaus versiert. Trump ist auch erfolgreich, weil er zwar eine vor allem ländliche Klientel mit Sprüchen und politisch unkorrekten Tweets methodisch gekonnt bedient, selbst aber aus New York, der amerikanischsten aller Großstädte kommt. Gerade was den ausgeprägten Protektionismus angeht, ist und war er den Demokraten deutlich näher als den dem Freihandel immer eher verbundenen Republikanern.
Dilemma des erfolgreichen Populisten
Was wir aktuell feststellen, ist nun das klassische Dilemma von erfolgreichen Populisten: Das populistische Erfolgsrezept, sprich, etablierten Parteistrukturen und Meinungskartellen einfache Rhetorik und simple Rezepte entgegenzusetzen, ist in der Klemme, wenn man statt per Twitter die in Washington zu kommentieren, dort selbst Entscheidungen fällen und durchsetzen muss. Trump muss sich aktuell verwaltungsintern durchsetzen und hat seine Regierungsmannschaft nach wie vor nicht fest im Sattel. Er hat mit Konflikten und Anfeindungen im eigenen Lager, in der ungeliebten, zum Machterhalt wichtigen republikanischen Parteimaschinerie und mit komplexen parteiinternen Mehrheitsfindungen zu tun. Außenpolitisch kollidiert seine Idee amerikafreundlicher Deals in zweiseitigen Beziehungen mit der Realität der Great Games in Bündniszusammenhängen, unter anderem der Nato. Trump wird sich mit zunehmender Dauer vor einem auch bei Republikanern in Aussicht gestelltem Impeachment-Verfahren oder ernsthaften Rücktrittsforderungen in Acht nehmen müssen. Weniger die Akzeptanz bereits konstatierter Verfehlungen, sondern die kurz nach Wahl und Amtseinführung nicht glaubhaft darzustellende personelle Alternative schützt ihn aktuell davor.
Fazit
Wir haben kein Problem mit ganz neuartigem Populismus, wir haben ein Problem im Umgang mit einem wiederkehrenden, aber immer wieder negierten Phänomen. Der aktuelle, nicht mehr zu ignorierende Erfolg populistischer Erscheinungen führt dazu, Europa tatsächlich langsam als verbundene politische Bühne wahrzunehmen. Ob das klassische, speziell westdeutsche Modell der Integration von populistischen Affekten in den Volksparteien bestehen bleibt? Eine dauerhafte Präsenz von populistischen Kleinparteien ist europäische Normalität. Es ist noch nicht abzusehen, ob die auch bei uns einkehrt.