19.03.2021
Die Rückkehr der Orthodoxie
Von Kolja Zydatiss
Ob Lyssenkoismus oder „Deutsche Physik“ – die Ideologisierung der Wissenschaft verheißt selten Gutes. Zunehmend wirken auch im „freien“ Westen rigide Dogmen, gegen die man auf eigene Gefahr verstößt.
„Totalitäre Systeme – oder die Gefahr totalitärer Tendenzen in freien Ländern – lassen sich unschwer anhand der Verhaltensweisen ihrer Bürger erkennen“, schreibt der Publizist Laszlo Trankovits. „Wie groß ist die Angst der Menschen, ihre Meinung offen zu sagen? Wie sehr muss man in den Berichten der Medien zwischen den Zeilen lesen? In welchem Maße werden Vorschriften und Vorgaben für die richtige Sprache, die richtige Wortwahl, für den Alltag und das Privatleben erlassen? Wie sehr wächst die Zahl der verbotenen Worte, Thesen und Gedanken?“1
Nach dieser Definition war die Sowjetunion eindeutig ein totalitäres System. In „Red Plenty“, einem akribisch recherchierten, erzählenden Sachbuch, das die hochgesteckten Ziele und das schließliche Scheitern der sowjetischen Planwirtschaft behandelt, zeichnet der Autor Francis Spufford auch ein Bild der Forschungslandschaft des untergegangenen Staates. In einem Kapitel, das in der sibirischen „Wissenschaftlerstadt“ Akademgorodok spielt – nach sowjetischen Maßstäben eine Oase relativer akademischer und kultureller Freiheit – begegnen wir Zoya Vaynshteyn, einer fiktiven Figur, die nach Angaben des Autors von der realen sowjetischen Genetikerin Raissa Berg (1913-2006) inspiriert ist.
Es ist das Jahr 1963, und Vaynshteyn trifft zum ersten Mal ihren neuen Chef, den Leiter des Instituts für Zytologie und Genetik. „Und werden Sie eine gute Genossin sein?“, fragt der Direktor zum Schluss. Spufford buchstabiert für den westlichen Leser den Subtext aus: „Wir wollten Sie, weil Sie eine echte Genetikerin sind, aber werden Sie taktvoll damit umgehen? Werden Sie lügen, wenn es nötig ist, zu lügen, werden Sie schweigen, wenn es nötig ist, zu schweigen, werden Sie verdunkeln, wenn Verdunklung gefragt ist? Werden Sie uns unterstützen, wenn wir diese Dinge tun?“2
„Unter Chruschtschow darf genetische Forschung zwar wieder betrieben werden, aber der Teilbereich der Biologie gilt nach wie vor als irgendwie befleckt und die Arbeit der Genetiker soll bloß nicht an die große Glocke gehängt werden.“
Man muss wissen: Stalin ist seit zehn Jahren tot, und sein Lieblings-Agrarwissenschaftler Trofim Lyssenko in Ungnade gefallen, aber das verheerende Erbe von dessen Kreuzzug gegen die „bürgerliche“, „faschistische“ Genetik lebt weiter. Unter dem neuen Machthaber Nikita Chruschtschow darf genetische Forschung zwar wieder betrieben werden, aber der Teilbereich der Biologie gilt nach wie vor als irgendwie befleckt und die Arbeit der Genetiker soll bloß nicht an die große Glocke gehängt werden.
Politisierte Wissenschaft
Entwickeln sich die heutigen westlichen Gesellschaften in eine totalitäre Richtung? In jeden Fall sind sie in zunehmendem Maße von Orthodoxien geprägt, gegen die man auf eigene Gefahr verstößt. In den Lebenswissenschaften etwa gibt es heute keinen Lyssenko mehr, der mit Rückendeckung eines Diktators Andersdenkende beruflich und persönlich vernichtet. Dafür aber z.B. radikale Sozialkonstruktivisten die behaupten, „dass das biologische Geschlecht auf einem kontinuierlichen ‚Spektrum‘ existiere, dass die Begriffe ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ bloße soziale Konstrukte seien und dass das eigene Geschlecht durch die selbsterklärte ‚Identität‘ und nicht durch die reproduktive Anatomie bestimmt werden könne“, wie der Evolutionsbiologe Colin Wright erklärt. „Selbst Wissenschaftler, die ich persönlich kannte und respektierte, plapperten diesen Unsinn als wissenschaftliche Tatsache nach“, klagt der Forscher. Nach einigen Jahren, in denen er aufgrund seiner öffentlichen Kritik an obigen Dogmen einer konzertierten Rufmordkampagne ausgesetzt war, entschied sich Wright, die akademische Welt zu verlassen.3
In der Wissenschaft wird heute niemand mehr gefragt, ob er ein „guter Genosse“ sein wird. Dafür aber z.B., wie er zu den Thesen des Migrationsforschers Ruud Koopmans steht. Der islam- und multikulti-kritische Leiter der Abteilung Migration, Integration und Transnationalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) sprach kürzlich mit der Tageszeitung Die Welt über die ständigen Rassismusvorwürfe und anderen Angriffe gegen seine Person. Er selbst habe als Beamter eine sichere Stelle. Jüngere Kollegen stünden allerdings unter besonderer Beobachtung, wenn sie zu den vermeintlich falschen Themen forschten. Er kenne einen jungen Wissenschaftler, der sich von einer Publikation zurückgezogen habe, weil er befürchtete, sein Thema (religiös motivierte Gewalt) könnte seinen Aussichten auf eine Festanstellung schaden. Ein Sozialwissenschaftler habe seinen Doktoranden sogar verboten, mit Koopmanns‘ Doktoranden in Kontakt zu treten.4
Ein paar weitere aktuelle Schlaglichter aus der Welt der Wissenschaft:
Im September 2017 zog die Fachzeitschrift Mathematical Intelligencer abrupt ihr Angebot zurück, ein Paper der amerikanischen Mathematiker Theodore P. Hill und Sergei Tabachnikov zu veröffentlichen. Am selben Tag hatte bereits die Forschungsbehörde National Science Foundation (NSF) darauf bestanden, dass ein Hinweis auf ihre finanzielle Förderung von Tabachnikovs Forschung aus dem Paper verschwinden müsse. Die Autoren hatten sich in ihrem Beitrag mit der umstrittenen, aber empirisch recht gut belegbaren „Greater Male Variability Hypothesis“ befasst, der zufolge die Männchen aller möglicher Tierarten bei vielen biologischen Variablen – von Körpergewicht bis Intelligenz – eine signifikant höhere Variabilität aufweisen als die Weibchen, ein Phänomen, das sich auch beim Menschen zeigt.
„Wer die ‚falsche‘ Meinung hat, sieht sich heute insbesondere als Nachwuchswissenschaftler einem erheblichen informellen Druck ausgesetzt.“
Einige feministisch orientierte Wissenschaftler hatten das Thema als nicht genehm eingestuft und Druck auf Mathematical Intelligencer ausgeübt. „In all meinen 40 Jahren als Autor von Forschungsarbeiten hatte ich noch nie von der Ablehnung eines bereits akzeptierten Papers gehört“, schreibt Hill. Einen Monat später passierte genau das gleiche beim New York Journal of Mathematics. Das Paper von Hill und Tabachnikov wurde zur Veröffentlichung angenommen, und wenige Tage später wieder aus der betreffenden Ausgabe entfernt.5
Im September 2018 verabschiedete der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) eine Resolution, in der er sich u.a. „gegen Populismus“, „gegen nationalistische Alleingänge“ und „für ein gemeinsam handelndes Europa“ als „Leitlinien des demokratischen Miteinanders in Politik und Gesellschaft“ aussprach.6 Die rund 300 beim deutschen Historikertag in Münster anwesenden Verbandsmitglieder mussten per Handzeichen über die Resolution abstimmen; eine „Gesinnungsausstellung“, wie ein Kritiker anmerkt.7 Schirmherr der Tagung war der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), Festredner Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (ebenfalls CDU).
Eine aktuelle Umfrage des deutschen Klimaforschers Hans von Storch an drei wissenschaftlichen Einrichtungen legt nahe, dass sich junge Umwelt- und Klimawissenschaftler in Europa meist eher politischen Agenden als der ergebnisoffenen Wahrheitsfindung verpflichtet fühlen. Die Teilnehmer wurden befragt, was sie für die Hauptaufgabe der Klimawissenschaft halten. An den zwei europäischen Einrichtungen gaben die Nachwuchsforscher mehrheitlich an: „Menschen motivieren, gegen den Klimawandel zu handeln“, also die Mobilisierung der Öffentlichkeit. An der chinesischen Universität hingegen wurde prioritär der Aspekt „Klimaprobleme definieren und Ursachen des Klimawandels zuordnen” benannt.8
Wer die „falsche“ Meinung zum Transgender-Aktivismus hat, zu sozialkonstruktivistischen Tabula-Rasa-Theorien, zu Islam, Migration, Populismus, EU oder Klima (Corona ist auch so eine Sache…), sieht sich also heute insbesondere als Nachwuchswissenschaftler einem erheblichen informellen Druck ausgesetzt.
Konformismus und Cancel Culture
Wie werden die Orthodoxien unserer Zeit in der Gesellschaft insgesamt verbreitet und durchgesetzt? Francis Spufford beschreibt in „Red Plenty“ die staatstragende sowjetische Mittelschicht. Etwa den bodenständigen Maschinenbaustudenten Volodya und seine nicht besonders intelligente Verlobte Galina, Studentin der Ernährungswissenschaften. Das junge Paar geht zu fast allen Treffen der Jugendorganisation Komsomol, hört aufmerksam zu und macht ostentativ Notizen, geht zur Enthüllung von Denkmälern und klatscht, teilt bei Sportveranstaltungen Handtücher aus usw. Es winken gute Jobs, eine schöne Wohnung und vor allem eine Niederlassungserlaubnis für die Hauptstadt Moskau.
„Eine Intelligenzbestie und/oder ein*e besonders originelle*r Denker*in muss man nicht sein, um mit (vermeintlich) wichtigen Aufgaben betraut zu werden. Es genügt, eifrig das wiederzukäuen, was gerade angesagt ist.“
Auch im heutigen Westen stützen sich Staat und Wirtschaft auf eine „professional-managerial class“. Vielleicht gibt es in „unserem“ System sogar noch mehr Stellen als in der Sowjetunion, bei denen nicht nur die richtige „Haltung“ gefragt ist, sondern die speziell der ideologischen Unterweisung der Bevölkerung gewidmet sind. Ansonsten gilt das gleiche Prinzip wie im real existierenden Sozialismus: Eine Intelligenzbestie und/oder ein*e besonders originelle*r Denker*in muss man nicht sein, um mit (vermeintlich) wichtigen Aufgaben betraut zu werden. Es genügt, eifrig das wiederzukäuen, was gerade angesagt ist.
So gab das Umweltministerium Nordrhein-Westfalen vor einigen Jahren eine Studie mit dem Titel „Gender Mainstreaming im Nationalpark Eifel – Entwicklung von Umsetzungsinstrumenten“ in Auftrag. Nach elf Monaten Arbeit legte das zweiköpfige „Experten“-Team – eine Soziologin, eine promovierte Ökotrophologin – einen 67-seitigen Abschlussbericht vor, in dem u.a. empfohlen wurde, Fotos von der Hirschbrunft aus Werbebroschüren zu streichen. Die Bilder der Hirsche würden stereotype Geschlechterrollen fördern. Ergibt das Sinn? Ist es sinnvoll, 27.000 Euro an Steuergeldern für solche „Erkenntnisse“ auszugeben?9 Eher nicht. Aber Gender und „Gender-Mainstreaming“ sind nun mal aktuell in tonangebenden Kreisen der heißeste Scheiß, und so durften sich kleine Rädchen damit beschäftigen, wie sich das auf ein beschauliches Naturschutzgebiet zwischen Bonn und Aachen anwenden lässt.
Orthodoxie wird heute auch durch „Framing“ in privaten und vor allem öffentlich-rechtlichen Medien durchgesetzt, was nicht selten auf die Diffamierung „Falschdenkender“ hinausläuft. Durch staatliche Warnungen vor Publizisten, die angeblich dem „wissenschaftlichen Konsens“ wiedersprächen.10 Durch das umfangreiche taktische Arsenal meist „linker“ bis „linksextremer“ Cancel-Culture-Aktivisten, die zwar wenig von den Interessen der Arbeiterklasse verstehen, dafür aber umso geübter darin sind, angebliche Reaktionäre beim Arbeitgeber zu denunzieren, Rufmordkampagnen in den Sozialen Medien loszutreten, bei Veranstaltungen zu randalieren, Anschläge auf Eigentum wie Autos, Büros oder Wohnhäuser zu verüben, sowie im Extremfall sogar Menschen körperlich anzugreifen.
Eine wichtige Rolle spielen außerdem: aus politischen Gründen manipulierte Algorithmen, die tendenziöse Auto-Vervollständigung von Suchbegriffen, die Demonetarisierung unliebsamer YouTube-Kanäle, die massenhafte Löschung von Social-Media-Posts und Sperrung von Nutzern im Namen des Kampfes gegen „Hass und Hetze“, und nicht zuletzt auch das wachsende Phänomen des „Faktencheckens“ durch oft staatlich geförderte Medien.
Wachsender Widerstand
Kehrt mit der Rückkehr der Orthodoxie auch der kalkulierte öffentliche Tabubruch wieder, wie ihn z.B. 1988 der bundesrepublikanische, aber auch in der DDR verehrte Humorist Vicco von Bülow alias Loriot bei der Ostberliner Premiere seines Films „Ödipussi“ beging? Loriot begrüßte seine Fans im Palast der Republik mit den Worten: „Das Haus ist voll, es sind über tausend Menschen hier, die offensichtlich schon am Nachmittag ihre Arbeit am Aufbau des Sozialismus unterbrochen haben. Dass mir das nicht einreißt!“11 Das DDR-Publikum lachte und klatschte. Wie die Funktionäre des heruntergewirtschafteten Staates reagierten, ist nicht überliefert. Heute meint der Showmaster emeritus Thomas Gottschalk: „Hätte man mich an einem der letzten Samstage wie in alten Zeiten mit ‚Wetten, dass..?‘ von der Leine gelassen, hätte ich wahrscheinlich mit Betonung auf dem I sowohl die Schweizer*Innen als auch die Österreicher*Innen und dann noch die Südtiroler*Innen begrüßt. Die Leute hätten gelacht, und der Programmdirektor hätte mit Schnappatmung in der ersten Reihe gesessen.“12
„Das aktuelle, von vielen als erdrückend wahrgenommene gesellschaftliche Klima hat neue Organisationen und Netzwerke hervorgebracht, die Meinungs-, intellektuelle und akademische Freiheit hochhalten.“
Wie dem auch sei: Das aktuelle, von vielen als erdrückend wahrgenommene gesellschaftliche Klima hat glücklicherweise auch neue Organisationen und Netzwerke hervorgebracht, die Meinungs-, intellektuelle und akademische Freiheit hochhalten. Im englischsprachigen Raum gibt es etwa bereits seit einigen Jahren eine lose Vereinigung von Akademikern und Publizisten, die als „Intellectual Dark Web“ (I.D.W.) bekannt ist. Einige Personen, die diesem Netzwerk zugerechnet werden, lehren und forschen an Hochschulen, etwa Steven Pinker, Richard Dawkins und Jonathan Haidt. Andere wie der Evolutionsbiologe Bret Weinstein haben einer klassischen akademischen Karriere den Rücken gekehrt und widmen sich nun eigenen Projekten. Einige sind vor allem als Autoren und Kommentatoren (Sam Harris, Ayaan Hirsi Ali), als Podcaster (Joe Rogan) oder als YouTuber (Jordan B. Peterson) bekannt, wobei letzterer außerdem Bestsellerautor ist und eine Professur an der Universität von Toronto bekleidet. Diese Personen eint kein gemeinsames ideologisches Weltbild. Was sie zusammenbringt, ist vor allem ein Bekenntnis zu kritischem Denken, Rationalismus und dem Aushalten unbequemer Sichtweisen.
Im 2015 gegründeten Online-Magazin Quillette kommen die großen Namen des I.D.W. zu Wort, aber auch bislang eher unbekannte Autoren, vor allem aus dem akademischen Bereich, die aufgrund ihrer „häretischen“ Ansichten ausgegrenzt werden. Die gemeinnützige Organisation „Foundation for Individual Rights in Education“ (FIRE) verteidigt seit 1999 die Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit von Studenten und Mitarbeitern an amerikanischen Universitäten und Colleges, mit einem besonderen Schwerpunkt auf rechtlichen Auseinandersetzungen. In den USA gibt es außerdem seit 2015 die Heterodox Academy (HxA), eine Gruppe von Wissenschaftlern, die sich für weltanschauliche und vor allem politische Vielfalt an Hochschulen einsetzt. Eine Art deutsches Pendant mit dem Namen „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“ wurde Anfang 2021 gegründet. Den Vorstand bilden die Philosophin Maria-Sibylla Lotter, der Historiker Andreas Rödder, der Jurist Martin Nettesheim und die Soziologin Ulrike Ackermann.
Viel Beachtung fand auch ein offener Brief „über Gerechtigkeit und offene Debatten“, der im Juli 2020 im amerikanischen Harper’s Magazine veröffentlicht wurde. 153 namhafte Intellektuelle und Künstler, die meisten davon aus dem linken oder linksliberalen Spektrum, warnten hier vor „ideologischer Konformität“ und dem „intoleranten Klima“, das überall entstanden sei. Die Grenzen dessen, was ohne Androhung von Repressalien gesagt werden darf, würden immer enger gezogen. Künstler, Journalisten und Forscher müssten um ihren Lebensunterhalt fürchten, „sobald sie vom Konsens abweichen und nicht mit den Wölfen heulen.“13
Wenige Wochen nach dem Erschienen des Harper’s-Briefs lancierten der deutsch-schweizerische Publizist Milosz Matuschek und der deutsche YouTuber und Autor Gunnar Kaiser den deutlich kämpferischeren „Appell für freie Debattenräume“, für den sie prominente Erstunterzeichner gewinnen konnten.14 Anders als beim Harper’s-Brief konnte jeder den Aufruf unterzeichnen und sich somit mit den Zielen solidarisch erklären. Binnen fünf Wochen nutzten circa 16.000 Menschen diese Möglichkeit, um ein Zeichen für Meinungsfreiheit und -vielfalt zu setzen. Der Öffentlichkeit brennt das Thema offenbar unter den Nägeln. Kein Wunder. Schließlich gaben im Jahr 2019 fast 80 Prozent der Teilnehmer einer Allensbach-Umfrage an, bei einigen bzw. vielen Themen sei öffentliche Meinungsäußerung in Deutschland nur mit Vorsicht möglich.15
Vom Wert der Skepsis
Natürlich kann man auch beim Hinterfragen von Orthodoxien aus der Bahn geraten und irgendeinen Unsinn über Chemtrails, Tempelritter und interdimensionale Reptiloide propagieren. Wenn aber das gesellschaftliche Establishment jegliche Skepsis am Status Quo, „Expertenmeinungen“ und trendigen Ideen in diese Ecke stellen und damit delegitimieren will, ist das eine äußerst fragwürde Entwicklung. Denn wie der Soziologe Frank Furedi sehr richtig feststellt: „Die Gesellschaft braucht Skepsis, um sich zu entwickeln. Skepsis ermutigt die Gesellschaft, Annahmen und selbstverständliche ‚Fakten‘ in Frage zu stellen, die sonst erstarren und zu Dogmen werden könnten. Sie ermöglicht es unserem intellektuellen Leben, sich neuen Erfahrungen zu öffnen.“16
„Der Kreuzzug von Trofim Lyssenko gegen die Genetik führte zu Missernten und zur Verschärfung von Hungersnöten und hielt die Entwicklung dieses Wissenszweigs um Jahrzehnte zurück.“
Unzählige historische Beispiele verdeutlichen, was für verheerende Konsequenzen rigide Dogmen und ideologisch motivierte Vorgaben gerade für die Wissenschaft haben können. So wurden die Erkenntnisse des ungarischen Arztes Ignaz Semmelweis (1818-1865) zum Zusammenhang von ärztlicher Hygiene und Infektionsgefahren zu dessen Lebzeiten vom medizinischen Establishment entschieden abgelehnt, obwohl sie abertausenden Patienten das Leben hätten retten können. Für die Halbgötter in Weiß des Habsburgerreichs waren solche Thesen „spekulativer Unfug“ und „Nestbeschmutzung“.
Der Kreuzzug des bereits erwähnten Biologen Trofim Lyssenko gegen die Genetik führte zu Missernten und zur Verschärfung von Hungersnöten und hielt die Entwicklung dieses Wissenszweigs in der Sowjetunion und den von ihr abhängigen Staaten um Jahrzehnte zurück. Stalin persönlich mischte sich neben der Agrarwissenschaft auch in Debatten innerhalb der Physiologie, Physik, Linguistik und Ökonomie ein und schrieb die „richtige“ Antwort vor, mit negativen Konsequenzen u.a. für das sowjetische Atomwaffenprogramm und die Entwicklung der Kybernetik.17
Im Dritten Reich wurden Wissenschaftler angewiesen: „Von jetzt ab kommt es für Sie nicht darauf an festzustellen, ob etwas wahr ist, sondern ob es im Sinne der nationalsozialistischen Revolution ist.“18 Jede Disziplin musste nachweisen, dass sie mit der NS-Ideologie vereinbar und für die „Volksgemeinschaft“ nützlich war. Bizarre Umgestaltungen von Fächern nach ideologischen Gesichtspunkten („Deutsche Physik“, „Deutsche Mathematik“, „Deutsche Chemie“) behinderten ergebnisoffene Forschung. Bereits ein Jahr nach der Machtergreifung der Nazis attestierte ein Schweizer Bericht dem Dritten Reich: „Degradierung der Wissenschaft und Missachtung der Vernunft, wie in keinem anderen Land der Erde.“19 1939 musste die Zeitschrift „Chemische Industrie“ feststellen, dass Deutschland seine führende Stellung in einigen Disziplinen – vor allem der Physik und der Chemie – verloren hatte.20
Nun, mit dem Muff und Dünkel des 19. Jahrhunderts oder den darauffolgenden Totalitarismen sind die heutigen westlichen Gesellschaften kaum vergleichbar. Aber auch in unseren, sich für freie Gemeinwesen haltenden Ländern macht sich eine schleichende Rigidität bemerkbar, eine Tendenz, bestimmte Themen moralistisch aufzuladen und Positionen vor allem nach ihrer weltanschaulich-ideologischen „Korrektheit“ zu beurteilen. Zunehmend werden auch im (einstmals?) „freien“ Westen Gesinnungsausstellungen erwartet und der Ausschluss „Falschdenkender“ gefordert. Weniger Orthodoxie und mehr Gedankenfreiheit – das täte auch uns gut.