19.07.2016

„Die Politik wird wieder aufgetaut“

Interview mit Brendan O’Neill

Titelbild

Foto: Carlos ZGZ via Flickr (CC BY 2.0 / bearbeitet)

Seit der Brexit-Abstimmung werden ungelöste Fragen wie Klasse, Demokratie und Souveränität wieder diskutiert. Die EU ist ein Mittel, diese Debatten zu unterdrücken

Hans Jörg Müller: Herr O’Neill, seit sich eine knappe Mehrheit der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union entschieden hat, ist die Rede davon, das Land sei so tief gespalten wie kaum je zuvor. Wo verlaufen die Trennlinien?

Brendan O’Neill: Ich denke, wir erleben eine Klassenrevolte. Arbeiter und Arme haben gegen die EU gestimmt. Wie viel jemandes Haus wert ist, sein Bildungsabschluss, ob er im produzierenden Gewerbe tätig ist oder nicht, all diese Indikatoren deuten darauf hin, wie er gestimmt hat. Je ärmer jemand ist, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass er für den Brexit war. Nun denunzieren Politiker und Medien die Wähler als dumm, rassistisch und unwissend. Studenten gehen auf die Straße und fordern, das Ergebnis der Abstimmung zu annullieren. Diese Demonstrationen sind Zusammenkünfte von Reaktionären aus der Mittelschicht, die den Willen des Volkes übertönen wollen.

Nicht zuletzt haben wir es auch mit einem Konflikt zwischen den Generationen zu tun: Etwa 75 Prozent der Jungen sprachen sich für die EU aus, mehr als 60 Prozent der Alten dagegen.

Die jungen Leute, die jetzt für die EU demonstrieren, reden ganz offen altenfeindlich. Sie sagen abstoßende Dinge über die Alten: Diese seien egoistisch, hätten selbst ein gutes Leben gehabt und kümmerten sich nun nicht um die nächsten Generationen. Manche fordern sogar, Bürger über 65 sollten nicht mehr wählen dürfen. Die Alten müssten weniger lang mit den Folgen dieser Abstimmung leben, deshalb sollten sie auch weniger zu sagen haben. Gut ausgebildete junge Leute aus der Mittelschicht, Politiker und Medien haben einen Block aufgebaut, der Alte, Arme und die weiße Arbeiterklasse beschimpft.

„Die EU ist für die Älteren einfach eine Institution, die 1992 gegründet wurde“

Was lässt die EU jungen Briten so attraktiv erscheinen?

Die Jungen kennen schlicht nichts anderes mehr. Die EU ist für sie Europa. Für die Älteren ist sie dagegen einfach eine Institution, die 1992 gegründet wurde. Die Älteren haben ein sehr viel nuancierteres Verständnis davon, was Europa ist. Die Jungen glauben, die EU sei ein progressives Projekt. Für die EU zu sein, ist für sie eine Möglichkeit, zu zeigen, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Es ist eine moralische Pose.

Geht es den Jungen nicht vor allem um solch profane Dinge wie Datenroaming, Reisefreiheit oder studentische Austauschprogramme wie Erasmus?

Sicher, das auch. Diese Leute sind besessen von Interrail und Auslandssemestern. Dabei handelt es sich um typische Anliegen der Mittelschicht. Ein 19-Jähriger aus Manchester, der verzweifelt einen Job sucht, hat andere Sorgen. Seine bessergestellten Altersgenossen sind im Vergleich dazu mit oberflächlichen, ziemlich narzisstischen Dingen beschäftigt. Sie scheinen unfähig sein, weiter zu denken als über ihr eigenes Leben hinaus. Was im Interesse der Gesellschaft liegt, interessiert sie nicht.

Schottland hat mehrheitlich für die EU gestimmt. Warum eigentlich? Unterscheidet sich ein Arbeiter in Glasgow in seinen Ansichten wirklich so sehr von einem Arbeiter in Sunderland?

Dass Schottland anders stimmt als England hat wohl damit zu tun, dass es sich mehr und mehr als eigenes Land sieht. Manche dort glauben, sie hätten mehr mit Brüssel gemeinsam als mit London. Das Seltsame an der Scottish National Party (SNP) ist, dass sie sich als Unabhängigkeits­bewegung sieht, aber gerne weiter Anweisungen aus Brüssel entgegennehmen würde. In Wahrheit ist sie eine Abhängigkeitsbewegung. Aber selbst in Schottland betrug die Zustimmung zur EU nur etwas mehr als 60 Prozent. Fast 40 Prozent haben also für den Brexit gestimmt.

So wie die SNP Labour in Schottland den Rang abgelaufen hat, tut die Unabhängigkeitspartei (Ukip) dies in einigen Regionen Englands. Ist Ukip die English National Party?

Ich bin gespannt, was jetzt mit Ukip passiert. Die Daseinsberechtigung dieser Partei war es, einen Austritt aus der EU zu fordern. Wozu braucht es sie jetzt noch?

Sie könnte sich von nun an als eine Art Wachhund sehen, der darauf schaut, dass der Brexit auch tatsächlich kommt.

Vielleicht. Ich bin kein großer Fan von Ukip, denn mir liegt viel an der Reisefreiheit. Ich denke auch nicht, dass Einwanderung die Ursache unserer sozialen Probleme ist. Aber ich finde Ukip interessant: Wir vergessen immer, wie groß diese Partei ist. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts stellt sie nur einen einzigen Abgeordneten in Westminster, aber bei der letzten Wahl hat sie mehr Stimmen erhalten als die SNP und die Liberaldemokraten zusammen. Ukips Erfolg besteht darin, die Verstimmung der Arbeiterklasse über Labour auszunutzen. Sicher gibt es in dieser Partei auch einige Rassisten, aber das ist nicht das Entscheidende. Wichtig ist das Gefühl der Arbeiter, dass Labour nicht mehr für sie spricht, ja sie sogar verächtlich behandelt.

Ist Labour verloren?

Ich hoffe es! Ich bin wirklich gegen Labour, und zwar aus einer linken Perspektive. Labour hat jetzt einen linken Flügel und einen rechten, der in der Tradition Tony Blairs steht. Beide hassen einander. Ich glaube nicht, dass Labour jemals wieder regieren wird. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Labour einzig und allein mit dem Ziel gegründet, die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vertreten. Es gab damals Liberale, Tories und Whigs, und von diesen sorgte sich niemand um die Arbeiter. Das tat Labour, bevor die Partei in den Sechzigerjahren begann, den Kontakt zur Arbeiterklasse mehr und mehr zu verlieren. In den Achtzigern liefen dann viele Arbeiter zu Margaret Thatchers Tories über. Heute hat Labour keine Existenz­berechtigung mehr.

„Die große Mehrheit der Politiker, 90 Prozent der Wirtschaftsführer, die Akademiker, Experten und Prominenten, ja eigentlich jeder Flügel der Elite war für die EU“

Hat Tony Blair die Partei endgültig sich selbst entfremdet und damit ruiniert?

Viele bei Labour glauben das. Ich denke, es lief andersherum: Die Partei war bereits vorher ausgehöhlt und ihrer Bedeutung beraubt. Nur deswegen konnte Blair überhaupt übernehmen. Es ist nicht so, dass Labour die Arbeiter verlassen hätte, die Arbeiter haben Labour verlassen. Blair stieß in ein Vakuum vor. Den Niedergang konnte er nur hinauszögern, denn darunter war bereits alles verrottet.

Hört man Ihnen zu, fragt man sich unweigerlich, wie viel das Ergebnis des Referendums überhaupt mit der EU zu tun hat oder ob nicht eher andere Faktoren entscheidend waren.

Das ist in der Tat die große Frage. Ich denke, es hat sowohl mit der EU als auch mit anderen Dingen zu tun. Die Leute verstanden sehr wohl die Frage auf dem Abstimmungszettel, die war ja sehr einfach: Sollen wir bleiben oder gehen? Aber da ist sicher auch ein Element der Rebellion: Die große Mehrheit der Politiker, 90 Prozent der Wirtschaftsführer, die meisten Akademiker, Experten und Prominenten, ja eigentlich jeder Flügel der Elite war für die EU. Die Bürger sahen also die Gelegenheit, es einem Establishment heimzuzahlen, das sie lange Zeit entweder ignoriert oder extrem paternalistisch behandelt hat.

Video: Pro-Brexit-Film des britischen Novo Partnermagazins Spiked

Warum ereignete sich diese Eruption des Unwillens gerade jetzt?

Das hat mehrere Ursachen: Zum einen ist ein Referendum etwas ganz anderes als eine Wahl. Bei einer Wahl bekommen wir Politiker vorgesetzt, die sich alle sehr ähnlich sind. Beim Referendum ging es dagegen um eine tatsächliche, sichtbare Alternative. Dann machte das Establishment einen großen Fehler: Indem es die Leute geradezu anflehte, für die EU zu stimmen, zeigte es ihnen, wie wichtig diese ihm ist. Da gingen die Armen und die Arbeiter an die Urnen und sagten: „Fuck you“.

War die Brexit-Kampagne für Großbritannien das, was Donald Trump für Amerika ist?

Das glaube ich nicht. Sicher gibt es Gemeinsamkeiten. Trump profitiert von demselben Klima, in dem Politik immer technokratischer und abgehobener geworden ist und das Verhalten der Leute zu beeinflussen sucht: Man erzählt ihnen, sie sollten gesünder leben, sich nur noch im Sinne der herrschenden politischen Korrektheit äußern, kurzum: bessere Menschen werden. Dieser paternalistische Ansatz hat dafür gesorgt, dass sich viele von der Politik abgewandt haben. Dennoch würde ich den Brexit-Sieg nicht mit dem Aufstieg Trumps vergleichen: Trump ist ein unerfreulicher Charakter, gegen Einwanderung, antiliberal, manchmal rassistisch. Die Brexit-Kampagne war nicht rassistisch, auch wenn manche Medien das Gegenteil behaupten.

Ukip-Chef Nigel Farage hat im Abstimmungskampf Fotografien von Flüchtlingen plakatieren lassen. Ist es nicht so, dass zwar nicht jeder Brexit-Befürworter ein Rassist ist, aber jeder Rassist für den Brexit gestimmt hat?

Um Gottes willen! Dasselbe fragte mich der Musiker Billy Bragg. Ich entgegnete ihm, dass ja auch nicht jeder, der für einen Verbleib in der EU sei, der süffisanten, intoleranten Elite angehöre. Ich finde es abstoßend, dass Leute wie Bragg so reden, aber selbst für eine Institution gestimmt haben, die aufgrund der Rasse diskriminiert: In der EU gibt es Personenfreizügigkeit, doch nur für die meist weißen EU-Bürger. Pakistaner und Inder haben viel zu unserem Land beigetragen, doch ihre Verwandten können nicht einmal dann nach Großbritannien ziehen, wenn sie Zahnärzte oder Ingenieure sind.

Links und rechts, funktionieren diese Kategorien überhaupt noch? Traditionell zeichnete sich die Linke durch einen emanzipatorischen Ansatz aus, den Sie ihr rundheraus absprechen.

Dieses Referendum hat in der Tat gezeigt, wie wenig diese Begriffe noch bedeuten. Durch eine oligarchische, neoliberale Politik hat die EU Griechenland arm gemacht und Italien eine Technokratenregierung aufoktroyiert. Eine unerfreulichere Institution als die EU kann es aus linker Sicht kaum geben. Doch nun bildet die britische Linke eine Allianz gegen den Brexit. Sie stellt sich damit explizit gegen die Arbeiterschaft und die Armen. Das ist das Ende der Linken.

„Die einfachen Leute haben kein Interesse mehr an der Linken, weil sie zu oft enttäuscht wurden“

Ist es denn nicht möglich, dass eine neue Linke in Ihrem Sinn entsteht?

Wo sollte die denn herkommen? Außer ein paar Gewerkschaftern, die sich gegen die EU ausgesprochen haben, sehe ich da niemanden.

Labour-Chef Jeremy Corbyn hat sich zwar für die EU ausgesprochen, besonders überzeugt wirkte er dabei aber nicht. Vielleicht ist er von Ihrer Position ja gar nicht so weit entfernt.

Ja, er war sein ganzes Leben gegen die EU. Aber er ist ein Feigling, und dadurch, dass er seine Prinzipien verraten hat, kann er diese Linke nicht führen. Die große Mehrheit der Linken hat für die EU gekämpft. Die einfachen Leute haben kein Interesse mehr an der Linken, weil sie zu oft enttäuscht wurden. Wo noch so etwas wie Dynamik vorhanden ist, gibt es keinen Appetit mehr auf die Linke.

Aber viele Labour-Mitglieder sind der Partei doch überhaupt erst beigetreten, um Corbyn zu unterstützen. Manche von ihnen mögen nun enttäuscht von ihm sein, doch sie sind weiterhin da und werden Labours Kurs beeinflussen.

Ja, aber das sind vor allem Studenten und Umweltschützer, die keinerlei Verbindung mit den Arbeitern haben. Ihre ökologischen Anliegen richten sich gegen Industrie und Wirtschaftswachstum und damit gegen die Arbeiterschaft. Je mehr Arbeiter das einsehen, desto besser, denn nur dann kann etwas Neues wachsen.

Ist der Brexit der Anfang vom Ende für das Europa, das wir kennen?

Ich denke schon. Die meisten haben noch gar nicht begriffen, was jetzt geschieht. Die Politik wird sozusagen wieder aufgetaut. Ungelöste Fragen wie Klasse, Demokratie und Souveränität werden wieder diskutiert. Die EU war eines der Mittel, um all dies zu unterdrücken. Es ging dort um die Mystifizierung von Politik. Jetzt sind wir dabei, die Suspendierung des Politischen rückgängig zu machen. Wer hat die Macht, ist Demokratie gut oder schlecht, was geschieht mit den Arbeitern? All diese Fragen kommen nun wieder ans Licht. Das ist wichtiger als David Cameron, Theresa May oder Jeremy Corbyn. Die Geschichte ist nicht zu Ende.

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