01.01.2006

Die Politik der Angst

Analyse von Frank Furedi

Politik scheint es heute nur noch als Karikatur ihrer selbst zu geben – als Panik.

Die Politik der Angst scheint das öffentliche Leben in der westlichen Welt zu bestimmen. Wir jagen uns gegenseitig ins Bockshorn und fürchten uns vor allem Möglichen. Entsprechend drücken wir uns aus, wenn ein Politiker uns gegen den Strich geht. Wir finden ihn furchteinflößend und sagen: „Bush macht mir Angst“ oder „Wenn ich daran denke, was Blair so tut, wird mir Angst und Bange.“ Ob es um Lebensmittel geht oder um unsere Kinder: Furchtsamkeit ist eine kulturell akzeptierte Haltung, die alle Aspekte unseres Lebens bestimmt. Es ist allzu leicht, die Ausmaße dieses Phänomens zu trivialisieren. Journalisten behaupten oft, ein bestimmter Politiker oder eine Partei betreibe eine „Politik der Angst“. Es geht dabei jedoch nicht um Parteien. Während und nach der letzten US-amerikanischen Präsidentschaftswahl verhielten sich viele Demokraten ganz ähnlich wie George Bush. So warnte etwa Dan Hazen, der Herausgeber des Online-Magazins AlterNet, dass der Angstfaktor von fortschrittlichen Kräften oft übersehen werde: „Sie appellieren an die Logik und gehen davon aus, dass, wenn die Menschen nur die Fakten begreifen, sie sich auch dementsprechend verhalten werden.“ Hazen hält solche „intellektuellen Argumentationen“ in der heutigen Zeit für offensichtlich nicht besonders wirksam und empfiehlt, dass „Fakten und Analysen mit einer Sicht einhergehen müssen, die auf Fragen der Sicherheit Bezug nimmt.“ Anders gesagt: Auch die „fortschrittlichen Kräfte“ müssen lernen, auf die Angstkarte zu setzen.

Die Politik der Angst ist symptomatisch für die ganz allgemeine Erschöpfung des Menschen und für seine Entfremdung vom öffentlichen Leben. Speziell die Politik ist davon betroffen und dabei, jede Bedeutung zu verlieren. Leicht übersieht man, dass nicht nur Berufspolitiker dieses Problem haben. Zynismus und Unterstellungen gegen die Politik drücken letztlich nur das aus, was wir auch voneinander denken. Aussagen wie „Ich trau den Politikern nicht“ oder „Ich glaube ihnen kein Wort“ sind nur die Rationalisierung unseres Rückzugs aus dem öffentlichen Leben. Hier drückt sich ein tief sitzender Fatalismus aus, eine Haltung, die Politik für grundsätzlich sinnlos erachtet. Dabei handelt es sich aber nicht um an sich typische Reaktionen auf das Fehlverhalten von Politikern. Früher reagierten Menschen auf unglaubwürdige Politiker dadurch, dass sie sie abwählten oder gar versuchten, das politische System zu verändern. Heute hingegen koppeln sich Menschen ab und ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück.

Sollte Politik tatsächlich zwecklos sein, haben wir allen Grund, uns zu fürchten. In der Moderne stellte Politik das Versprechen dar, dass alle zu einem gewissen Grad den Lauf der Welt mitbestimmen können. Seit der Aufklärung war Politik der Versuch, das Schicksal zu besiegen. Eine bedeutende Folge dieses Vermächtnisses war, dass Menschen immer weniger gewillt waren, ein von außen kommendes Schicksal als unausweichlich zu akzeptieren. Sie nahmen Krankheit und Tod nicht mehr einfach hin. Immer weniger hielten Katastrophen für einen Akt Gottes. Und immer mehr glaubten daran, dass sich ihr Leben zum Besseren ändern lasse. Politik war anziehend, da sie das Versprechen beinhaltete, selbst das eigene Leben, selbst die Zukunft gestalten zu können.

Glücklicherweise wollen sich auch heute die meisten nicht einfach mit ihrem Schicksal abfinden. Für die eigene Gesundheit und die eigene Schönheit werden Milliarden ausgegeben, und manche reisen um die halbe Welt, um ein neues Leben anzufangen. Für solche individuellen Versuche, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wenden wir viel Kraft auf und geben reichlich Geld aus. Geht es aber um das öffentliche Leben, um die Politik, geben wir schnell auf, und allerorten ist die politische Erschöpfung spürbar. Am deutlichsten zeigt sich dies daran, dass Menschen heute in erster Linie nicht als selbstbewusst handelnde Subjekte, sondern als passive Objekte verstanden werden; Objekte, die dem Spiel unbeherrschbarer Kräfte unterworfen sind.

Die Politik der Angst ist so mächtig, weil sie im Einklang steht mit der kulturellen Atmosphäre, in der wir leben. Politiker können Angst nicht einfach aus dem Nichts heraufbeschwören. Es ist auch nicht so, dass Ängste in erster Linie von ihnen befeuert werden. Gesundheits- oder Sicherheitspaniken beginnen häufig im Internet oder werden von Lobbygruppen geschürt, bevor sie von Politikern aufgegriffen werden. Paradoxerweise müssen Politiker ebenso viel Zeit damit verbringen, die Folgen plötzlich auftretender Ängste zu bekämpfen, wie damit, ihre eigenen Angstkampagnen zu zimmern. Die Politik der Angst findet einen so großen Widerhall, da das Individuum heute in erster Linie als potenzielles Opfer gilt. Um zu begreifen, wie das Gefühl der Ohnmacht das öffentliche Leben bestimmt, muss man analysieren, wie genau der Zeitgeist unser Selbstbild und unsere Sichtweise der anderen Menschen beeinflusst. Die allgegenwärtige Abwertung der Rolle, die das menschliche Subjekt heute spielt, lässt sich nur vor dem Hintergrund konkreter, oft impliziter Annahmen darüber begreifen, was menschliches Verhalten, was das Wesen des Menschen ausmacht. Unsere Vorstellungen davon, was wir voneinander erwarten können, wie wir mit Ungewissheit und Wandel umgehen, mit Problemen und Schmerz, und wie wir die Geschichte interpretieren, werden bestimmt vom Verständnis, das eine Kultur vom Individuum und von den Möglichkeiten des Menschen hat. Im 21. Jahrhundert wird in der westlichen Welt das Individuum in erster Linie als gefährdet, als potenzielles Opfer verstanden. Zwar werden die Ideale der Selbstbestimmung, der Autonomie des Einzelnen nach wie vor hochgehalten. Die Werte, die mit diesen Idealen einhergehen, werden jedoch zunehmend von einem Alarm übertönt, der nahezu permanent auf die inhärenten Schwächen der menschlichen Natur hinweist.

Was ich an anderer Stelle „Therapiekultur“ genannt habe, stellt die Fähigkeiten des Einzelnen, Herausforderungen gerecht zu werden und Probleme zu lösen, erheblich in Frage. Schon bei alltäglichen Problemen rät man heute den Betroffenen dazu, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Glaube, alle Menschen seien potenzielle Opfer, beeinflusst die Art, in der wir unser Leben interpretieren und führen. Unsere angebliche Verletzlichkeit wird als kulturelle Metapher verwendet, die ausdrücken soll, dass Menschen wie Gemeinschaften nicht dazu in der Lage sind, Wandel emotional und psychisch zu bewältigen, selbständig Entscheidungen zu treffen oder Probleme zu lösen. Weit verbreitet ist die Ansicht, die Menschen seien schwach und hilfsbedürftig. Schwache werden aber kaum die Rolle des aktiven Bürgers übernehmen. Stattdessen stehen sie als ängstliche, potenzielle Opfer unter der Kuratel des Staates.

Aus eben diesem Grund ist die Angst so häufig die Basis politischer Debatten. Dabei ist es nicht nur die Rechte, die mit Themen wie „Innere Sicherheit“ die Sau durchs Dorf treibt. Gerade auch die Kritiker der „Politik der Angst“ beteiligen sich an alarmistischen Kampagnen. Ihr Beitrag ist nicht zu unterschätzen. Politiker, die von der Linken kommen, und gerade auch Grün-Alternative, haben vergleichsweise alltägliche Themen wie Nahrung, Luftqualität und Erziehung zum Hort für Horrorgeschichten gemacht. Die Angst verteilt sich über das gesamte politische Spektrum. Parteien und Bewegungen unterscheiden sich höchstens noch in dem, was sie am meisten fürchten – die Zerstörung der Umwelt, übermächtige Konzerne, Immigranten, Pädophile, Verbrechen, die Klimakatastrophe, Atomwaffen.

Die Angst wandert heute von einem Thema zum anderen, ohne dass es einen logischen oder kausalen Zusammenhang geben muss. Als der amerikanische Baptistenpfarrer Jerry Vines im Juni 2002 erklärte, Mohammed sei ein „von Dämonen besessener Pädophiler“ gewesen und dass Allah Moslems zum Terrorismus antreibe, variierte er nur die überall durch den Raum schwirrenden Angsterzählungen, die weder der Logik noch der Beweise bedürfen. Diese völlig beliebige Assoziation von Terrorismus und Pädophilie kann die Angst vor beidem weiter erhöhen. Ganz ähnlich verhält es sich, wenn genetisch veränderte Lebensmittel als Frankenstein-Food denunziert werden. Politik scheint es heute nur noch als Karikatur ihrer selbst zu geben – als Panik.

In gewisser Hinsicht führt der Ausdruck „Politik der Angst“ in die Irre. Obwohl sie von Parteien und Lobbygruppen betrieben wird, besteht sie doch vor allem in einem Abschied von der Politik. Sie unterscheidet sich von einer Politik der Angst, wie sie von autoritären Regimen betrieben wird, dadurch, dass sie kein klares Ziel verfolgt, außer dem, sich einer Sprache zu bedienen, die auf großen Widerhall stößt. Es ist eine der Besonderheiten unserer Zeit, dass nicht in erster Linie Angst geschürt, sondern unsere Verletzlichkeit als potenzielle Opfer betont wird. Denn obwohl sie kein klares Ziel verfolgt, führt die Politik der Angst in der Summe dazu, dass die Gesellschaft sich zunehmend fragiler und verletzlicher fühlt. Je ohnmächtiger wir uns aber fühlen, umso unwahrscheinlicher ist es, dass wir nicht der Angst anheimfallen.

Um der Politik der Angst etwas entgegensetzen zu können, müssen wir zunächst den Zusammenhang zwischen Individuum und Opfer aufbrechen. Wenn wir uns in erster Linie als potenzielles Opfer wahrnehmen, wird Ungewissheit zur Angst, zu einer Angst, die uns schließlich niederwerfen wird. Die Vorstellungskraft des Menschen befähigt ihn, erstaunlich viel und schnell zu lernen und so auch Probleme zu begreifen, anzugehen und zu lösen. Im Laufe der Geschichte hat die Menschheit immer wieder aus Niederlagen und Katastrophen gelernt, und sie hat Methoden entwickelt, mit denen sich Probleme und Risiken systematisch erkennen, einschätzen, bewältigen oder reduzieren lassen. Eine Alternative gibt es immer. Ob wir unsere Wahlmöglichkeiten erkennen und wahrnehmen oder nicht, hängt davon ab, ob wir uns als Opfer oder als widerstandsfähige, belastbare Individuen sehen.

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