21.07.2022

Die Pflicht zur Freiheit

Von Boris Kotchoubey

Wissenschaft, die sich durch Cancel Culture einschränken lässt, ist keine mehr. Die Vermischung von Forschung mit Moral oder sozialer Verantwortung führt in die Irre.

„Ein Professor hat die Verpflichtung, frei zu sein.“ 1

Die sogenannte Cancel Culture (die man auch Vernichtungskultur nennen könnte) wird von ihren Kritikern oft als eine Serie offener barbarischer Auftritte betrachtet, mit dem Ziel, bestimmte Kulturphänomene (Bücher, Vorstellungen, Veranstaltungen usw.) zu stören und damit ganze kulturelle Prozesse zu beseitigen. Obwohl auch in den wissenschaftlichen Einrichtungen solche Vorfälle immer häufiger beobachtet werden (z.B. in Form des Störens von Vorlesungen, Shitstorms gegen ungeliebte Forscher oder sogar handgreiflicher Attacken auf Wissenschaftler, wie z.B. im Fall Prof. Bernd Luckes), bin ich davon überzeugt, dass zumindest im Bereich der Wissenschaft – über andere Bereiche wage ich nicht zu urteilen – diese Auffassung einer Vernichtungskultur zu eng und oberflächlich ist. Deshalb ist die Bekämpfung solcher barbarischen Aktionen eine Bekämpfung von Symptomen statt von Krankheiten. Die Wissenschaft setzt notwendigerweise freies Denken voraus, weshalb jede Einschränkung der Forschungsfreiheit ein Akt der Cancel Culture ist, der – absichtlich oder nicht – auf die Vernichtung der Institution Wissenschaft abzielt.

Was ist Wissenschaft?

Laut einer Legende wollte ein griechischer Händler das Mittelmeer überqueren, um seine Waren in Ägypten zu verkaufen. Die Nachbarn empfahlen ihm, er solle dem Meeresgott Poseidon Opfer bringen. „Auf dieser Tafel,“ sagten sie, „stehen die Namen zahlreicher Seefahrer, die vor einer Reise dem Gott Opfer dargebracht haben, und sie alle haben unversehrt ihr Ziel erreicht.“ „Ich bräuchte aber“, antwortete der Händler, „vier Tafeln: diejenigen, die an Poseidon opferten und ans Ziel kamen; diejenigen, die Opfer darbrachten, dennoch Schiffbruch erlitten; diejenigen, die ohne Opfer ihr Ziel erreichten; und diejenigen, die ohne Opfer Schiffbruch erlitten. Erst aus dem Vergleich zwischen diesen vier Listen kann ich eine vernünftige Entscheidung treffen, ob es sich lohnt, dem Gott Opfer zu bringen.“

Unabhängig davon, ob die Legende wahr ist oder eine gute Erfindung, zeigt sie uns die antiken Ursprünge des wissenschaftlichen Denkens. Das prinzipiell Neue daran war grundsätzlicher Zweifel, Misstrauen gegenüber den Aussagen und Aufforderungen anderer. Was die Griechen unter anderen alten (z.B. chinesischen oder indischen) Weisen auszeichnet, ist ihr steter Streit miteinander. Wir profitieren von diesem Streit, denn von vielen griechischen Philosophen sind keine Texte geblieben, und wir kennen sie nur, weil die anderen sie umfangreich zitierten, um sie im Anschluss zu kritisieren. Kein Zufall, dass die paradigmatische Gestalt der griechischen Philosophie, Sokrates, den Zweifel als Weg zum Erkennen höher stellte als das Erkennen selbst: „Ich bin der weiseste unter den Athenern, aber nicht, weil ich viel weiß, sondern weil ich weiß, dass ich nichts weiß“.

Zu dieser allgemein kritischen Einstellung kam im Spätmittelalter beziehungsweise am Anfang der Neuzeit eine neue Idee, die des Experiments. Davor haben die Gelehrten rein logisch argumentiert (das typische Beispiel dafür ist wiederum Sokrates) oder auf Resultate der Naturbeobachtung hingewiesen. Das Experiment ist aber etwas anderes als bloße Beobachtung. Der Versuchsleiter findet nicht einfach die Lage der Dinge vor, sondern stellt die Bedingungen seiner Beobachtung willkürlich her und variiert sie systematisch. Er wartet nicht mehr darauf, was die Natur ihm zufällig sagt, sondern stellt ihr direkte Fragen.

„Die Wissenschaft setzt notwendigerweise freies Denken voraus, weshalb jede Einschränkung der Forschungsfreiheit ein Akt der Cancel Culture ist.“

Der experimentelle Ansatz steigerte den dem gesamten wissenschaftlichen Denken innewohnenden Zweifel weiter. Er veränderte unsere Vorstellung von einem Naturgesetz. Früher bezeichnete dieses Wort einen Vorgang, den man am häufigsten beobachtet. Es ist z.B. ein Naturgesetz, dass die Sonne jeden Morgen auf- und jeden Abend untergeht. Die neue Wissenschaft wandte sich von dieser Offensichtlichkeit entschieden ab. Laut Galileos Fallgesetz, das der gesamten modernen Physik zugrunde lag, fallen ein Stein und eine Feder mit der gleichen Beschleunigung, obwohl man dieses Ereignis niemals beobachtet hat! Deswegen lehrt uns die moderne Wissenschaft, nicht nur den Meinungen der Autoritäten zu misstrauen (das wusste schon die vorwissenschaftliche Philosophie), sondern auch den Naturerscheinungen.

Doch es geht noch weiter. Das Experiment vertraut nicht nur keiner äußeren Autorität und keinen scheinbar natürlichen Sinneseindrücken: Es vertraut nicht mal sich selbst! Im Laufe ihrer Entwicklung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert erfuhr die experimentelle Wissenschaft, dass ihre eigene Methode viele Tücken beinhaltet, und sie lernte, diese Scylla und Charybdis zu umfahren. Eine experimentelle Analyse fragt immer wieder: Ist die Lage wirklich so, wie sie dieses Resultat beschreibt, oder haben sich vielleicht in das Verfahren kaum merkbare Fehler eingeschlichen, die die Daten verzerren? Um die Zuverlässigkeit zu erhöhen und den Zweifel zu mildern, wurden spezielle Kriterien entwickelt.

Erstens müssen Beobachtungen wiederholt auftreten. Schon Abu-Sina (Avicenna) wusste vor 1000 Jahren, dass man über die Wirkung eines Medikaments erst dann sprechen kann, wenn man diese Wirkung mehrmals beobachtet hat. Ein Einzelfall kann nur dann von Interesse sein, wenn wir davor vermutet haben, dass es solche Fälle nicht gibt. In den meisten Situationen sind Einzelfälle wertlos. Als die Akademie Leopoldina im Dezember 2020 die „absolute wissenschaftliche Notwendigkeit“ eines harten Lockdowns mit dem einzigen (und zwar problematischen) Fall Irland begründete, hat sie sich damit als wissenschaftliche Institution disqualifiziert. 2

Zweitens müssen Reihen von Beobachtungen miteinander verglichen werden. Der legendäre Grieche verglich die Seefahrer, die Poseidon Opfer dargebracht hatten, mit denen, die dies nicht getan hatten, und wir vergleichen z.B. Patienten, die ein Medikament erhalten, mit denen, die es nicht erhalten. Jede Zahl bekommt einen Sinn nur im Vergleich mit anderen Zahlen. Allein schon deswegen ist die Aussage „heute ist der Inzidenzwert soundso“ sinnlos.

Drittens kann man nur vergleichbare Dinge vergleichen. In der Medizin wird die Vergleichbarkeit der Gruppen oder Bedingungen dadurch gewährleistet, dass man diese randomisiert, d.h. die Objekte werden verschiedenen Gruppen oder Bedingungen per Zufall zugewiesen.

„Was die Griechen unter anderen alten (z.B. chinesischen oder indischen) Weisen auszeichnet, ist ihr steter Streit miteinander.“

Viertens muss der Vergleich verblindet werden, d.h. die Forscher sollen jedes Objekt untersuchen, ohne zu wissen, welcher Gruppe es angehört. Wenn Sie beim Vergleich von zwei Weinsorten wissen, dass der eine Wein 80 Euro pro Flasche kostet, und der andere 3,99, müssen Sie kein Kenner sein, um beim Ersteren höhere Qualitäten zu finden als beim Letzteren. In der Medizin gilt es als feste Regel, dass ein Medikament, ein Impfstoff, eine Methode der Diagnostik oder Therapie erst dann zuverlässig getestet wird, wenn weder die Versuchsleiter noch die Versuchsteilnehmer wissen, was bei diesem konkreten Individuum eingesetzt wird.

Fünftens müssen nicht nur Beobachtungen in einer experimentellen Studie wiederholbar sein, sondern auch die gesamte Studie. Ein in einem Experiment erhaltenes Resultat ist erst dann ein wissenschaftlicher Fakt, wenn mehrere verschiedene Forscher(gruppen) es erhalten haben. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass nicht der Erste eine Entdeckung macht, sondern der Zweite, der sie wiederholt. Denn die Geschichte der Wissenschaft ist voll von falschen Entdeckungen, d.h. Ergebnissen, die einmal beobachtet wurden, und dann nicht mehr.

Auch die wissenschaftliche Sprache ist ein wichtiger Mechanismus der Selbstkontrolle. Die Terminologie hat den Zweck, dem Partner im wissenschaftlichen Gespräch das Objekt so genau wie möglich darzustellen. In der Alltagssprache verwechseln wir ständig Gewicht und Masse; in der Physik sind es aber zwei völlig verschiedene Begriffe. Die gleiche terminologische Präzision ist auch in den anderen Wissenschaften notwendig; die Human- und Sozialwissenschaften werden ohne diese Präzision zum Geschwätz entarten. Der Faschismus und der Nationalsozialismus sind z.B. keine Schimpfwörter, sondern genaue Bezeichnungen bestimmter politischer Systeme. 3

Ich weiß, was ich nicht weiß

Der Fortschritt der Wissenschaft erfolgt durch Infragestellen und stetes Überprüfen bisheriger Ansichten. So ist für den Wissenschaftssoziologen Richard Merton Wissenschaft „organisierte Skepsis“. Man ist genau in dem Maße Wissenschaftler, in dem man die herrschende Meinung in Frage stellt und nach Fehlern, Unklarheiten und Gegenbeispielen sucht. Manchmal reicht ein klares Gegenbeispiel (ein weißer Rabe), um die Theorie „Alle Raben sind schwarz“ zu widerlegen – vorausgesetzt, dass wir wirklich sicher sind, dass der Rabe nicht bloß wegen ungewöhnlicher Beleuchtung weiß erscheinen könnte. Der Autor des Blogs Kritische Wissenschaft gibt korrekt zu, dass sein Titel tautologisch ist: Eine nicht-kritische Wissenschaft ist einfach keine.

„Als die Akademie Leopoldina im Dezember 2020 die ‚absolute wissenschaftliche Notwendigkeit’ eines harten Lockdowns mit dem einzigen (und zwar problematischen) Fall Irland begründete, hat sie sich damit als wissenschaftliche Institution disqualifiziert.“

So lehrt uns z.B. ein Blick in die USA, dass eine hohe Anzahl von Waffen im privaten Besitz mit einer hohen Gewaltkriminalität einhergeht. Im Vergleich dazu hat Deutschland, in dem nur wenige Menschen Waffen besitzen, viel weniger Gewaltverbrechen. Was tut ein Wissenschaftler angesichts dieser zwei Fälle? Er sucht nicht nach weiteren Beobachtungen derselben Art, sondern nach Gegenbeispielen. Und siehe da: In der Schweiz und in Israel haben die Bürger eine Menge Waffen zu Hause, die Gewaltkriminalität ist aber niedrig. Damit ist die Theorie schon zurückgewiesen: Wenn, wie wir anfangs gedacht haben, die Anzahl der Waffen die Triebkraft der Gewaltkriminalität wäre, hätten sich die Schweizer bereits alle gegenseitig umgebracht.

Ein Wissenschaftler ist immer Querdenker, aber nicht jeder Querdenker ist ein Wissenschaftler. In Mertons Definition der „organisierten Skepsis“ ist nicht nur das Substantiv „Skepsis“, sondern auch das Adjektiv „organisiert“ wichtig. Die Behauptung „Ich zweifle daran, dass der Mensch von Tieren abstammt“, reicht nicht, um als Forscher zu gelten. Man muss sich das Denken der entsprechenden Disziplin (in diesem Fall Evolutionsbiologie) aneignen und Argumente für seinen Zweifel liefern, was voraussetzt, dass man überhaupt versteht, was als Argument und Gegenargument gilt. Nicht zufällig spricht man von wissenschaftlichen Disziplinen, benutzt also ein Wort, das eine gewisse Zucht und Training voraussetzt.

Diese Disziplinierung führt zu der vielgescholtenen Spezialisierung auf engeren Gebieten. Aber wie problematisch die Spezialisierung auch ist, sie ist ein wichtiger Bestandteil des sokratischen Ideals: Ein Experte weiß, was er nicht weiß. Man erkennt einen falschen Experten an seiner Bereitschaft, zu fast jeder Frage seine Expertise abzugeben, auch wenn sie von seinem Fach meilenweit entfernt liegt. So beurteilen heute Virologen die Probleme der Literaturwissenschaft, Theologen begutachten die Stromversorgung usw. Solche Fälle, die freilich zu allen Zeiten ab und an beobachtet wurden, sind erste Anzeichen der wissenschaftlichen Vernichtungskultur. 4

Das Prinzip der konsequenten, disziplinierten Skepsis, der steten Hinterfragung führt unmittelbar zu dem wichtigsten Merkmal der Wissenschaftlichkeit: Nur diejenige Aussage ist wissenschaftlich, die prinzipiell widerlegbar ist, d.h. diejenige, bei der man sich mindestens einen beobachtbaren Fall vorstellen kann, der, falls er eintreten würde, die Aussage zurückweisen würde. Keine Theorie kann je die Wirklichkeit beschreiben, wie sie ist. Wenn aber eine Theorie viele Gelegenheiten anbot, widerlegende Fakten zu finden, wenn dementsprechend zahlreiche Widerlegungsversuche unternommen wurden, und wenn trotz dieser Versuche kein der Theorie widersprechender Sachverhalt gefunden wurde, sagt man, diese Theorie sei „richtig“ oder sogar „wahr“. Eine wahre Theorie ist also nicht die, die unwiderlegbar ist (eine solche ist keine wissenschaftliche Theorie, s.u.), sondern die, deren zahlreiche Widerlegungsversuche bisher nicht erfolgreich waren.

„Der Fortschritt der Wissenschaft erfolgt durch Infragestellen und stetes Überprüfen bisheriger Ansichten.“ 

Die oben betrachtete Aussage „Alle Raben sind schwarz“ zeigt eine absolute Asymmetrie zwischen bestätigenden und zurückweisenden Fällen im Sinne von Karl Popper: Die Aussage wird auch von sehr vielen schwarzen Raben noch nicht bestätigt, aber von einem einzigen weißen zurückgewiesen. Reale wissenschaftliche Theorien sind aber viel komplizierter aufgebaut als die „Rabentheorie“; sie bestehen aus einem „Kern“ und einem ganzen System präzisierender Nebenaussagen, deren Negation nicht unbedingt zur Zurückweisung des Kerns führen würde. Deshalb entwickelte Poppers Schüler Imre Lakatos ein Konzept der konkurrierenden Forschungsprogramme, das eine relative statt absoluter Asymmetrie zwischen Bestätigungen und Ablehnungen voraussetzt. Gut entwickelte Theorien können aus dieser Sicht nicht wie die „Schwarzrabentheorie“ durch ein einziges Gegenbeispiel („Anomalie“) sofort verworfen werden; dies wäre auch nicht sehr vernünftig, wenn z.B. eine Theorie von 1000 bekannten Fakten 999 erklärt, und wenn keine bessere Theorie in Sicht ist. Anomalien, sagt Lakatos, „töten“ Forschungsprogramme nicht, sie schwächen sie nur. Sie motivieren, alternative theoretische Erklärungen zu suchen, und sobald nur eine entsteht, auf deren Basis andere Experimente gestellt werden können, beginnt der Wettkampf, in dem jede Anomalie für die alte Theorie, die aber die neue problemlos erklärt, die erstere immer weniger plausibel macht. In diesem Modell werden komplexere Theorien nicht auf einmal weggeworfen, sondern schrittweise zum Absterben gebracht. Dennoch behält auch das Modell, wie das ursprüngliche popperianische, die grundsätzliche Asymmetrie zwischen positiven und negativen Fällen: Es sind die negativen, die den Fortschritt bedingen.

Deshalb sind wissenschaftliche Aussagen notwendigerweise fehlerbehaftet und daher offen. Aber gerade diese Fehlbarkeit ist die einzige Garantie der wissenschaftlichen Entwicklung, d.h. dessen, dass wir von einer schlechteren Theorie zu einer (relativ!) besseren, von unvollständigen zu vollständigeren Daten, von weniger genauen zu genaueren Messverfahren fortschreiten. Die Fehlbarkeit ist also kein Manko der Wissenschaft, sondern im Gegensatz der einzige Garant ihrer Entwicklung. Ein wahrer Wissenschaftler freut sich, wenn seine Theorie widerlegt und in den Mülleimer der Wissenschaftsgeschichte abgeworfen wird, denn dies ist das Zeichen des Fortschritts.

Die Offenheit als Folge der Widerlegbarkeit kennzeichnet den wichtigsten Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Pseudowissenschaftliche Aussagen werden so formuliert, dass sie nicht widerlegbar sind. Sie sehen keine Möglichkeit vor, die, wenn sie eintritt, die Aussage als falsch erweisen würde. Deshalb haben pseudowissenschaftliche Theorien unbegrenzte Anpassungsfähigkeit. Ein Beispiel ist die Theorie der menschengemachten CO2-bedingten Klimaerwärmung, so wie sie uns heute von manchen präsentiert wird. Sie ist immer richtig. Es kann keine Wetterbeobachtung geben, die diese Theorie zurückweisen könnte. Egal ob Regen oder Dürre, Hitze oder Frost, die der Theorie zugrunde liegenden Modelle können immer so angepasst werden, dass gegebenenfalls auch eine Abkühlung als Ergebnis der Erwärmung abgeleitet werden kann. Jedes Wetterereignis kann man als Folge der menschengemachten CO2-bedingten Erderwärmung interpretieren. Diese Theorie ist deshalb gegen Fakten immun, sie ist geschlossen und beweist sich immer selbst. Ihre fundamentale Schwäche ist ihr Mangel an Falsifizierbarkeit.

Obwohl der Unterschied zwischen Pseudo- und echter Wissenschaft theoretisch vollkommen klar ist, kann er in der realen Wissenschaftsgeschichte fließend sein. Einige Theorien begannen ihr Leben als gute, respektable wissenschaftliche Hypothesen. Dann wurden die „anomalen“ Beobachtungen gemacht, die mit diesen Hypothesen nicht in Einklang gebracht werden konnten. Wenn es keine überzeugende alternative Hypothese gibt, entwickelt sich der Druck, unangenehme Fakten zu ignorieren und die Theorie so umzuformulieren, dass sie an alle möglichen Widersprüche anpassbar wird. Wenn hinter einer etablierten Hypothese starke partikulare (wirtschaftliche, machtpolitische) Interessen stehen, ist der Boden dafür bereitet, die Hypothese nicht mehr als eine Entwicklungsstufe in der Suche nach Wahrheit, sondern als die uns offenbarte Wahrheit zu propagieren. Auf diesem Weg entarten ursprünglich korrekte wissenschaftliche Hypothesen durch eine verstärkte Suche nach Selbstbestätigung und ein konsequentes Ignorieren von Widersprüchen – und rutschen schließlich in den Bereich der Pseudowissenschaft ab. Diesen Prozess der schrittweisen Umwandlung der Wissenschaft in die Pseudowissenschaft erlebte einst Marx‘ Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, später auch verschiedene soziologische, psychologische und neurobiologische Theorien.

„Die Fehlbarkeit ist kein Manko der Wissenschaft, sondern im Gegensatz der einzige Garant ihrer Entwicklung.“ 

Außer von der Pseudowissenschaft müssen wir die Wissenschaft auch vom Szientismus unterscheiden. Szientismus ist der Glaube daran, dass uns die Wissenschaft eine im gewissen Sinne „bessere“, „höhere“ oder sogar „absolute“ Wahrheit über die Welt liefert im Gegensatz zu den bestenfalls teilweisen, unvollständigen und fragmentären Wahrheiten der Kunst oder Religion. Kein Anhänger des szientistischen Glaubens kann erklären, aufgrund von welchen Kriterien man überhaupt die Vorstellungen von der Natur, die uns einerseits eine physikalische Theorie und andererseits eine impressionistische Malerei liefert, miteinander vergleichen kann, um zu bestimmen, dass eine davon „besser“ ist als die andere. Weil es nicht möglich ist, die szientistische Idee über einen höheren Status der Wissenschaft im Vergleich mit anderen Formen der geistigen Tätigkeit mit Fakten und Logik zu beweisen oder zurückzuweisen, bleibt sie lediglich ein Glaube, d.h. sie ist unwissenschaftlich, obwohl – nein, gerade weil – sie an Wissenschaft glaubt.

Die Moral kennt keine Wahrheit

Das Wahre (Wissen), nach dem die Wissenschaft strebt, ist eines der drei platonischen Ideale der Menschheit; die anderen zwei sind das Gute (Moral) und das Schöne (Kunst). Lassen wir das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst an dieser Stelle wegen Platzmangel weg.

Am 3. Mai 1950 fand in Washington eine Sitzung des US-Komitees für Atomenergie statt. In der Sitzung fragte der Senator Brien McMahon den berühmten Physiker Hans Bethe, einen der führenden Köpfe des Manhattan-Projekts, ob er das moralische Recht habe, in der politischen Situation, in der die Sowjetunion aus ihren Welteroberungsplänen keinen Hehl machte, seine Arbeit an der Kernfusion (und damit an der Wasserstoffbombe) zu verweigern. Bethe antwortete, dass es neben anderen auch die moralischen Gründe seien, die es ihm nicht erlauben, an einer Waffe zu arbeiten, die in der Lage ist, die ganze Menschheit auszulöschen. 5

Beide Seiten haben also moralisch argumentiert und sind zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen gekommen. Wer hatte Recht? Auf diese Frage kann nur jemand antworten, der meint, die Moral für sich gepachtet zu haben. Im Übrigen änderte Bethe später seine Meinung, als er sah, dass Stalin in der Lage sein könnte, die H-Bombe als erster zu entwickeln.

In der Ethik gibt es, genauso wie in der Wissenschaft, rationale Argumente; aber Wahrheit gibt es nicht. Die empirische Moralforschung sagt uns zwar, dass es moralisch schlechtere („niedere“) und bessere („höhere“) Gründe gibt, aber sie zeigt uns auch, dass jede moralische Wahloption, ob A oder B, die Bombe bauen oder nicht bauen, die Weiche für den Zug umzustellen oder nicht, 6 sowohl mit höheren als auch mit niederen Argumenten begründet werden kann. Keine dieser Optionen ist „wahr“, keine „falsch“.

„In der Ethik gibt es, genauso wie in der Wissenschaft, rationale Argumente; aber Wahrheit gibt es nicht.“

Ethik reguliert Verhältnisse unter menschlichen Personen oder anderen ethischen Subjekten. Sie muss deshalb vor allem bestimmen, welche Objekte überhaupt einer ethischen Betrachtung unterliegen (Menschen und Katzen bestimmt ja, Steine bestimmt nicht, aber wie ist es mit Bienen oder Mäusen?). Immer wenn ein Wissenschaftler in solche Verhältnisse eintritt, sind ethische Überlegungen von Belang. Das ist vor allem in zwei Situationen der Fall.

Die eine Situation ist das praktische Experimentieren. Für viele Fragestellungen wäre es nützlich, Experimentalobjekte mittels starker Reize zu untersuchen. Wenn aber diese Objekte ethische Subjekte sind (z.B. Menschen), können sie unter solchen Reizen leiden. Ob ein Experimentator dieses Leid zufügen darf, ist keine wissenschaftliche, sondern eine ethische Frage nach einem angemessenen Verhältnis zwischen dem Leid und dem erhofften Erkenntnisgewinn. Ein Arzt darf z.B. nicht nur, sondern muss sogar Patienten im Koma Schmerzreize darbieten, sonst kann er die „Wahrheit“ über den Patientenzustand nicht erfahren und also die richtige Behandlung nicht bestimmen. Hier überwiegt der Nutzen offensichtlich das Leiden infolge der Schmerzreize. In anderen Fällen dagegen, in denen Menschen oder Tiere unangenehme Bedingungen in Experimenten erleben (Schmerzreize, laute Geräusche, Schlafentzug u.v.a.), ist diese Offensichtlichkeit nicht mehr gegeben.

Die zweite Situation, in der Ethik gefragt wird, ist die Erfindung. Schon Aristoteles unterschied zwischen der Forschung zwecks Wahrheit (episteme) und der zwecks Erfindung (techne). Jahrtausende später differenzierte Max Weber in ähnlicher Weise zwischen Entstehungs- und Begründungsvorgängen in der Wissenschaft einerseits und Verwertungsvorgängen andererseits. Verwertet wird immer eine praktische Anwendung, die von bestimmten Personen genutzt wird und deshalb sowohl auf diese Personen als auch auf Dritte Einfluss nehmen kann. Als Fachmann trägt der Wissenschaftler dafür Verantwortung, negative Einflüsse nach Möglichkeit vorherzusagen und auszuschließen. Als klassisches Beispiel dient eine innerhalb des Manhattan-Projektes diskutierte Hypothese, dass die Explosion einer Atombombe eine Kettenreaktion in der gesamten Atmosphäre auslösen und damit das ganze Leben auf der Erde auslöschen könnte. Es war derselbe Hans Bethe, der diese Hypothese überprüfte und mit seinen Berechnungen die Unmöglichkeit einer solchen Katastrophe bewies. 7 An diesem Beispiel wird die Verantwortung des Forschers klar, weil kein anderer (Politiker, Militär o.ä.) über das Fachwissen verfügt, solche Optionen vorherzusehen.

Wie notwendig die ethische Kontrolle über das praktische Verhalten experimentierender und erfindender Forscher ist, so illegitim ist diese Kontrolle über die beobachteten Fakten und ihre Interpretationen. Keine Ideen, Hypothesen oder Konzepte der Wissenschaft können gut oder böse sein. Wenn eine Studie, die methodisch korrekt ausgeführt wurde, zu einem Ergebnis gekommen ist, dann gilt das Ergebnis als wissenschaftlicher Befund, solange es nicht durch weitere Forschung widerlegt wird oder solange man in der Studie keine methodischen Fehler findet. Ob das Ergebnis uns angenehm oder unangenehm ist, spielt nicht die geringste Rolle. Wenn jemand z.B. die Wirtschaftslage in einer demokratischen und einer Sklavengesellschaft vergleicht und zeigt, dass die Sklavenwirtschaft eine höhere Produktivität aufweist als die soziale Marktwirtschaft, so wäre dieser Befund mir persönlich (und vielleicht auch dem Studienautor) sehr unangenehm, aber unsere Gefühle sind ohne Belang. Genau umgekehrt: Wenn wir diese Lage aus anderen (nicht wissenschaftlichen, sondern ethischen oder politischen) Gründen für falsch halten, ist für uns die wissenschaftliche Erkenntnis besonders wertvoll, denn nur aufgrund dieser Erkenntnis können wir die Lage verändern.

„Keine Ideen, Hypothesen oder Konzepte der Wissenschaft können gut oder böse sein.“

Während also aus rein wissenschaftlicher Sicht es vollkommen egal ist, ob ein Befund politisch opportun oder nicht opportun, angenehm oder unangenehm ist, ob er unseren moralischen Wertvorstellungen entspricht oder uns anekelt, so sind aus praktischer Sicht ausgerechnet nicht opportune, unangenehme, verletzende, unsere Ideale infrage stellende wissenschaftliche Ergebnisse wertvoller, denn ohne sie können wir unsere Fehler weder verstehen noch korrigieren.

Am 17. August 2021 berichtete die Neue Zürcher Zeitung über eine Studie der Universität Bielefeld, die zeigte, dass viele der Befragten nicht in der Nähe von Menschen aus anderen Kulturen leben wollten. Die Zeitung schrieb weiterhin, dass der Studienleiter Andreas Zick „entsetzt [sei], wenn er […] heute Sätze höre wie ‚2015 darf sich nicht wiederholen‘. Das sei angesichts der Lage in Afghanistan unfassbar. Es könne nicht sein, dass wir jetzt wieder unruhig werden, wenn vielleicht wieder mehr Flüchtlinge ins Land kommen.“ Wer aber nicht gelernt hat, dass wissenschaftliche Fakten vor allem das sind, was sie eben sind, und dass die Aufgabe eines Wissenschaftlers darin besteht, sie zu interpretieren, einzuordnen, ihren Platz in einem theoretischen Gebilde und – wenn möglich – ihre praktische Bedeutung zu finden, wer sich stattdessen über die Fakten „entsetzt“, sie für „unfassbar“ erklärt, als etwas, „was nicht sein kann“, der könnte möglicherweise ein guter Prediger werden, aber an einer Universität hat er eine falsche Arbeitsstelle gefunden.

Der britische Philosoph Gilbert Ryle (1900–76) prägte einige populäre Begriffe, u.a. „know-how“ und „Kategorienfehler“. Ein schwerer Kategorienfehler ist die Verwechslung zwischen Ist- und Soll-Aussagen, denn aus keiner Kombination von Ist-Aussagen kann eine Soll-Aussage folgen. Keine Beschreibung der Lage, wie sie ist, kann uns darüber informieren, was wir in dieser Lage tun sollen. Die Aussage „Es ist eine Epidemie, deshalb sollen wir Masken tragen“ ist genauso unsinnig wie „Die Erde ist rund, deshalb sollen Menschen einander respektieren“. In den beiden Fällen kann der zweite Halbsatz, egal ob er wahr oder falsch ist, nicht aus dem ersten folgen.

Eine Soll-Aussage ist erst dann möglich und korrekt, wenn zu den korrekten Ist-Aussagen auch noch mindestens eine Werteaussage hinzukommt. Werte sind aber keine Fakten, und über Werteaussagen kann man nicht mit „wahr“ oder „falsch“ urteilen. Als der französische Präsident in seiner Ansprache an die Nation die Ausgangssperren mit der Aussage begründete „Wozu brauche ich Freiheit, wenn ich sterben kann?“, formulierte er damit seine Wertvorstellungen: Jede Verringerung der Lebensgefahr hat einen höheren Wert als Freiheit. Erst wenn diese Wertvorstellung (die nicht wissenschaftlich geprüft werden kann), mit einer Ist-Aussage, dass Ausgangssperren Lebensgefahr verringern (die wissenschaftlich geprüft werden kann), verbunden wird, folgt daraus die Soll-Aussage, dass man Ausgangssperren verhängen sollte, und zwar nicht nur nachts, sondern 24 Stunden, und nicht nur während der Epidemie, sondern immer.

So wie den moralischen Gefühlen der Einlass ins Reich wissenschaftlicher Analysen eigentlich verboten wird, so gilt das Gleiche auch für die entgegengesetzte Richtung. Deshalb darf kein Wissenschaftler, solange er sich für einen Wissenschaftler und nicht für einen Medienstar oder Volksführer hält, sagen, wie sich Menschen in einer Lage verhalten sollen beziehungsweise was die Politiker tun sollen. Wissenschaftler dürfen (und sollen) den Laien eine Bandbreite von Möglichkeiten zeigen und deren Konsequenzen aufgrund ihrer Fachkenntnisse einschätzen.

„Wenn wir jetzt X tun, dann bekommen wir die Konsequenzen A und B mit den Wahrscheinlichkeiten p(a) und p(b); wenn wir Y tun, so bekommen wir C und D mit den Wahrscheinlichkeiten p(c) und p(d).“ Das ist alles, und jede Zugabe „…also müssen wir die erste Option wählen und die zweite verwerfen“ ist unzulässig. Entscheidend für die Wahl der Optionen und somit der Konsequenzen sind Wertvorstellungen der Gesellschaft.

„Aus keiner Kombination von Ist-Aussagen kann eine Soll-Aussage folgen.“

Schulschließungen während der Covid-Epidemie könnten die Sterberate bei über 80-Jährigen verringern (einige Modellstudien zeigen diesen Effekt, andere nicht). Dieselben Schulschließungen führen auf der anderen Seite zu zahlreichen Verhaltensstörungen bei Kindern, zur Zunahme der familiären Konflikte und schließlich zu einem massiven Verlust an Lebensjahren bei jüngeren Generationen. 8 Das sind Ist-Aussagen. Wir müssen uns dann fragen, was uns als Gesellschaft wertvoller ist: die psychische Gesundheit und schließlich die Lebensjahre unserer Kinder? Oder die Verlängerung des Lebens bei über 80-Jährigen? Diese Frage kann die Wissenschaft niemals beantworten; nur die Gesellschaft kann es, entweder autoritär von oben oder demokratisch von unten.

Pharmakonzerne reiten auf moralischen Argumenten, um ungeprüfte Medikamente auf den Markt zu bringen. An einer kleinen, möglicherweise sogar atypischen Stichprobe wird mit allen fairen und unfairen Mitteln ein positives Ergebnis erreicht. Das neue Medikament scheint zu funktionieren und zumindest auf den ersten Blick keine sehr argen Nebenwirkungen zu haben. Mit diesem Ergebnis, von Unsummen Geld unterstützt, wird in den Medien eine große Diskussion darüber aufgeblasen, wie unmoralisch es sei, eine Kontrollgruppe von Patienten zu haben, denen das Präparat, das ihr Leben zum Besseren wenden könnte, vorenthalten wird. Also wird das Präparat auch den Kontrollpatienten gegeben, was eine Kontrolle unmöglich macht. Aus angeblichen moralischen Gründen werden die oben genannten Grundregeln des Experimentierens (Vergleich, Verblindung, Randomisierung) außer Kraft gesetzt, und ein nicht regulär getestetes Arzneimittel geht an die Menschen.

Auf die Gefahr der Moralisierung der Wissenschaft hat schon 1992 der amerikanische Sozialpsychologe Philip Tetlock in seinem berühmten Vortrag „Politische Psychologie oder politisierte Psychologie?“ 9 hingewiesen. „Was wollen wir“, fragt Tetlock, „Die politische Welt besser kennen und kausale Beziehungen in dieser Welt verstehen, oder für ‚gute Sachen‘ stehen, indem wir soziale Gruppen stigmatisieren, deren Meinungen wir nicht teilen, und andere Gruppen, die uns sympathisch sind, beklatschen?“. Unter dem Druck der Moralisierung verstößt die Wissenschaft immer wieder gegen den Objektivitätsanspruch und kann deshalb nur diejenigen überzeugen, die schon sowieso der gleichen Meinung sind.

Tetlock zeigt mehrere Beispiele solcher Dynamik. In einer späteren Publikation 10 beschreibt er den folgenden Fall: Um zu zeigen, dass die Wähler der Demokratischen Partei eine offene Persönlichkeitsstruktur haben im Vergleich mit der geschlossenen Persönlichkeit republikanischer Wähler, wurde als Messinstrument eine Skala verwendet, die Aussagen beinhaltet hat, die typisch für die politische Sprache entweder der Demokratischen oder der Republikanischen Partei sind. Bei der Zustimmung mit den ersteren wurden Punkte addiert, bei der Zustimmung mit der letzteren abgezogen. Es wäre ein Wunder, wenn unter diesen Bedingungen das erwünschte Ergebnis nicht erreicht würde.

Dies ist die gleiche Logik, die der sowjetischen Strafpsychiatrie der Breschnew-Andropow-Ära zugrunde lag. Wenn die Moral die wissenschaftliche Wahrheit bestimmt, wird die seelische Gesundheit (bzw. die offene Persönlichkeitsstruktur) definiert als Zustimmung mit dem bestimmten in der jeweiligen Gesellschaft herrschenden Wertesystem (mit guten Werten, versteht sich). Wer diesen Werten skeptisch gegenübersteht, sie infrage stellt, ist einfach krank beziiehungsweise persönlich unterentwickelt und bedarf daher keiner argumentativen Diskussion, sondern Erziehungsmaßnahmen oder psychiatrischer Behandlung.

„Unter dem Druck der Moralisierung verstößt die Wissenschaft immer wieder gegen den Objektivitätsanspruch und kann deshalb nur diejenigen überzeugen, die schon sowieso der gleichen Meinung sind.“

Die immanenten Kriterien guter wissenschaftlicher Praxis (Argumentation mit Fakten; fachliche Logik; Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit und der unserer Kenntnisse; kritisches Hinterfragen und institutionalisierte Skepsis) sind bereits die Ethik eines Wissenschaftlers, und er braucht keine weitere, „höhere“. Das Opfern dieser Kriterien, ihre Unterwerfung unter angeblich hehre moralische Ziele der Gesellschaft zersetzt zuerst die wissenschaftlichen Standards, um dann abschließend diese selben moralischen Ziele ins Gegenteil umzukehren.

Wissenschaft und soziale Verantwortung

Die Diskussion über eine spezielle soziale Verantwortung der Wissenschaftler, über die Unterordnung der wissenschaftlichen Arbeit unter moralische Kontrolle der Gesellschaft verstärkte sich direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Insbesondere die Entwicklung der Atombombe stellte die Frage nach der sozialen Verantwortung der Wissenschaft, die aber sofort zwei weitere Fragen nach sich zog: Was ist „Verantwortung“, und was ist „sozial“? Während einige Teilnehmer wie Oppenheimer oder Bethe meinten, dass Wissenschaftler vor allem ihrem Gewissen gegenüber und für die Integrität ihrer Forschung verantwortlich sind, formulierten andere die Idee, dass Wissenschaftler eine Verantwortung gegenüber der „Gesellschaft als Ganzer“ tragen. Bereits 1946 hat der Physiker und Philosoph P. Bridgman, damals noch frischer Nobelpreisträger, diese Vorstellung vernichtender Kritik unterworfen. 11 Die dieser moralischen Anforderung zugrunde liegende Annahme lautet, so Bridgman, dass die Gesellschaft ein eigentliches Wesen sei. Diese Ansicht lehnt er radikal ab: „Die Gesellschaft ist nichts als du und ich“, sie ist nicht etwas „über“ den Wissenschaftlern, sondern besteht aus einzelnen Menschen. Die Gesellschaft kann nicht denken, nicht fühlen, nicht spüren; nur der Mensch kann das.

Die spätere Entwicklung zeigte, dass die von Bridgman kritisierte Einstellung die wissenschaftliche Ethik in der Tat in eine Falle geführt hat. Das moralische Problem entstand, weil die amerikanische Staatsführung die Ergebnisse der Physik – so meinten die Kritiker – missbrauchte. Obwohl diese Meinung sehr umstritten ist, nehmen wir hier einmal an, sie stimmt. Um solche Missbrauchsfälle zu vermeiden, meinen die Kritiker, sollen die Wissenschaftler für ihre Entdeckungen Verantwortung übernehmen. Verantwortung vor wem? Vor der Gesellschaft. Aber die oben genannte amerikanische Staatsführung war ein vollkommen legitimes Produkt dieser selben Gesellschaft, und die gesellschaftlichen Ziele werden zwar nicht nur, aber im Wesentlichen durch die Staatsführung bestimmt.

Dieser Widerspruch führt uns zu einem noch tieferen, fundamentalen Paradox. Die These der sozialen Verantwortung der Wissenschaft setzt voraus, dass es in der Gesellschaft starke „negative Kräfte“ gibt, die wissenschaftliche Befunde zu unerwünschten Zwecken, zu den Zwecken der Zerstörung und Verderbnis anwenden. Die physikalischen Entdeckungen können zum Bau neuer Waffen führen; die Fakten über die Unterschiede zwischen Menschengruppen können von Rassisten oder Sexisten in ihrer Agitation missbraucht werden. Ob dies aus Böswilligkeit, Unbildung oder einfach Dummheit geschieht, ist egal. Wichtig ist nur, dass die „negativen Kräfte“ eine große Rolle in der Gesellschaft spielen, sonst könnte die Frage nach den zerstörerischen Anwendungen guter wissenschaftlichen Erkenntnisse vernachlässigt werden. Wäre die Gesellschaft in ihrer großen und starken Mehrheit „gut“, wäre die Gefahr von Missbrauch nicht der Rede wert.

Nun erwartet die Gesellschaft vom Wissenschaftler, dass er an solche üblen Anwendungen denkt und sich bemüht, diese zu vermeiden oder vorzubeugen. Sie macht ihn verantwortlich vor ebendieser Gesellschaft, die voll von negativen Kräften ist, und erlaubt dieser selben Gesellschaft (diesen selben böswilligen, irrationalen, ungebildeten oder dummen Menschen) den Wissenschaftler zu sanktionieren, falls er seiner Verantwortung nicht gerecht wird. Was für eine Absurdität!

„Wer Wissenschaft der Moral unterwerfen will, unterwirft sie de facto der staatlichen oder einer anderen sozialen Gewalt.“

Der Widerspruch wird noch krasser, wenn wir uns daran erinnern, dass Wissenschaft nicht nur aus den Natur-, sondern auch aus den Sozial- und Geisteswissenschaften besteht, und dass auch deren Leistungen, genauso wie die von Physik und Chemie, von den „negativen Kräften“ beherrscht und missbraucht werden können. Die missbrauchten Sozialwissenschaften können die Zielsetzungen der Gesellschaft umgestalten und ihre Erwartungen an den Wissenschaftler ins Gegenteil verkehren, so dass z.B. eine zerstörerische Anwendung einer Technologie als „gute“ und deren friedliche Anwendung als „böse“ (z.B. klimaschädliche) angesehen werden; die Gesellschaft kann dann vom Wissenschaftler verlangen, dass er zur Entwicklung immer stärkerer Zerstörungsmittel beiträgt. Ebenfalls können die „reinen Geisteswissenschaften“ dazu missbraucht werden, die Grundbegriffe wie „Gesellschaft“ und „Verantwortung“ umzudefinieren, so dass die „verantwortlichen“ Forscher ihre moralische Orientierung verlieren. Wir können nicht ausschließen, dass diejenigen, die am lautesten rufen, die Wissenschaft dürfe nicht in die Hände von Faschisten geraten, dass diese Leute Faschisten sind, die den Faschismusbegriff so umbestimmt haben, dass er nicht mehr auf sie, sondern auf ihre Gegner angewendet wird.

Warum fällt dieser absurde Widerspruch nicht sofort auf? Weil er tatsächlich verschwindet, wenn wir den naiven wissenschaftlichen Realismus durch einen noch naiveren Moralismus ersetzen, wonach jeder gute Mensch den „bösen“ Teil der Gesellschaft von ihrem „guten“ Teil problemlos unterscheiden kann. Wäre die Grenze zwischen Gut und Böse eindeutig wie im Manichäismus, würde das Paradox gelöst: Der Wissenschaftler trägt Verantwortung vor den Guten, indem er das Böse meidet. In einer noch einfacheren und dennoch in intellektuellen Kreisen weit verbreiteten Form sagt der Moralismus: Was ich und meine Gleichgesinnten für gut halten, ist selbstverständlich gut, und was die Andersdenkenden meinen, ist genauso evident Böse.

So behauptet die Frankfurter Schule, die Wissenschaft könne nicht wertfrei sein, sondern solle sich am Kampf für eine bessere soziale Ordnung beteiligen. Aber warum ist die von Horkheimer und Adorno visionierte Gesellschaft, deretwegen die Wissenschaft ihre Freiheit aufgeben sollte, „besser“ als eine andere, z.B. die gegenwärtige? Darauf gibt es keine Antwort. Sie ist halt gut, weil Horkheimer und Adorno sie gut fanden und viele schöne Worte für ihre Beschreibung benutzten. Andere Begründungen gibt es nicht, und es kann sie nicht geben, weil, wie oben festgestellt, die Moral keinen Wahrheitsbegriff hat. Keiner hat je in dieser Gesellschaft gelebt und kann ihre Güte bestätigen oder widerlegen.

Die „soziale Verantwortung“ der Wissenschaft bedeutet also nichts anderes als ihre Unterordnung unter das herrschende Wertesystem. Die herrschende Moral ist aber, wie schon Marx wusste, die Moral der Herrschenden. Wer Wissenschaft der Moral unterwerfen will, unterwirft sie de facto der staatlichen oder einer anderen sozialen Gewalt. Die Cancel Culture ist nichts anderes als das: Die Unterordnung der Kultur durch Gewalt. Die Grundlage der Vernichtungskultur ist der primitive Moralismus 12, der lautet: Grenzen zwischen Gut und Böse sind einfach: Gut ist, was wir für gut halten, und alles andere ist böse. Wer daran zweifelt, ist der Feind. Rassisten bekämpft man erbarmungslos, und wer Rassist ist, bestimmen wir.

Fragen wir die Vandalenkrieger, die Vorlesungen stören und Professoren angreifen, warum sie das tun, so bekommen wir dieselben Antworten wie vom oben zitierten „Sozialforscher“ der Universität Bielefeld: Weil sie über diese Vorlesungen „entsetzt“ sind, weil sie bestimmte Thesen „unfassbar“ finden, weil „es doch nicht sein darf, dass…“ Dies ist vollkommen konsequent: Da es in der Moral keine argumentative Auseinandersetzung zwecks Wahrheitsfindung gibt, und da es keine allgemeingültige (z.B. christliche) Moral mehr gibt, bleibt als einzige Begründung der moralischen Hoheit eine rohe, uneingeschränkte Gewalt.

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